Gefühlsregungen sind nicht sein Markenzeichen. Selbst die hochgezogene Augenbraue scheint mehr in das Poker Face eingemeißelt zu sein, als dass sie wirklich Auskunft über seinen Gemütszustand gibt. Der oft etwas spröde wirkende 54-Jährige aus der Emilia-Romagna zeichnet keinen besonderen Trainertypus aus. Er ist weder ein großer Redner, noch ein Philosoph im modernen Fußball oder der Charismatiker, der das Blitzlichtgewitter in seine Richtung zieht.
Dafür ist Carlo Ancelotti einer der erfolgreichsten Trainer seiner Zeit. Er war als Spieler nicht nur zweifacher Europapokalgewinner der Landesmeister und Weltpokalsieger, an der Seitenlinie dirigierte er AC Milan dreimal in ein Champions-League-Finale und führte nun die Blancos von Real Madrid in das Endspiel der Königsklasse.
Lange Zeit galt Ancelotti als klassischer Trainer, der vor allem ein Augenmerk auf die hohe individuelle Qualität legt. Doch der Sacchi-Schüler kann noch vielmehr.
Karriere auf dem Feld – Schüler von Arrigo Sacchi
Insbesondere Ancelottis Leistungen als Spieler sind heutzutage fast vergessen. Dabei finden sich in seiner Karriere einige Hinweise auf die Spielweise seiner Mannschaften. Ancelotti war in der großen Mailänder Mannschaft der späten 80er unter Arrigo Sacchi, welche als letztes Team den Meisterpokaltitel (jetzt Champions League) verteidigen konnte (1989) und auch später eine gesamte Ligasaison in der hochqualitativen Serie A in der Saison 1991/92 ohne Niederlage blieb. Bis heute wird dieses Milan unter Arrigo Sacchi immer wieder als eine der besten Mannschaften aller Zeiten bezeichnet. Dies liegt nicht nur an ihren Erfolgen, sondern auch an ihrer Spielweise.
In den 80ern lag der Fußball taktisch in gewisser Weise am Boden; die Manndeckung und der Libero hatten sich flächendeckend durchgesetzt, in vielen Ligen kam noch ein enormer Defensivfokus hinzu. Arrigo Sacchi hingegen verband „alte“ Aspekte wie die Viererkette, die Raumdeckung und das Pressing mit der Athletik des modernen Fußballs und einer starken Ballorientierung im Verschieben, was im Gesamtpaket oftmals als „Raumverknappung“ bezeichnet wird. Diese hohe Intensität und Kompaktheit, die daraus entstand, machte den AC Mailand zur spielerisch und taktisch stärksten Mannschaft Europas zu jener Zeit und zu einer Blaupause für den modernen Fußball.
In diesem System spielte Ancelotti lange Zeit eine Schlüsselrolle. Mit Frank Rijkaard, aber auch anderen Partnern auf der Doppelsechs im 4-4-1-1, kümmerte er sich defensiv um die Balleroberung und das Absichern des Pressings vorne und offensiv um das Einleiten von Angriffen und die Ballzirkulation. Häufig wird nämlich bei der Spielweise des AC Mailand und dem Fokus auf ihre defensiven Errungenschaften ihr hervorragendes Ballbesitzspiel vergessen, an welchem Ancelotti maßgeblich beteiligt war.
Allrounder und Mittelfeldstratege
Ebenso wie Rijkaard war Ancelotti die ideale Besetzung einer überaus komplexen Position. Beide waren offensiv und defensiv sehr gut, konnten sich im direkten Zweikampf die Bälle holen, versperrten Passwege gut, hatten eine tolle Technik und waren sehr aktiv im Vorwärtsgang, wo sie mit viel Laufarbeit und intelligentem Freilaufen die Mitte besetzen konnten. Rijkaard war hierbei der körperlich (noch) stärkere Akteur, der über seine Physis extrem viel abräumen konnte. Ancelotti hingegen war eher der Spielbestimmer der beiden und der primäre Ballverteiler im Aufbauspiel.
Ursache dafür war nicht unbedingt eine mögliche Überlegenheit gegenüber Rijkaard, sondern schlicht die leicht unterschiedliche Verteilung ihrer Stärken. Ancelotti war herausragend im Anvisieren der richtigen Räume in seinem Passspiel, konnte sehr empathische und intelligente lange Bälle spielen, welche auch die Dynamik der gegnerischen Bewegung und seiner Mitspieler berücksichtigten. Dies ermöglichte ihm seine sehr gute Ball- und Passtechnik; auch unter Druck konnte er den Ball behaupten, legte sich den Ball bei der Ballannahme sofort in den freien Raum weg vom Gegner und spielte dann den aus dieser Position bestmöglichen Pass.
„Zu Anfang hatte er Probleme. Berlusconi meinte, dass wir einen Orchesterdirigenten hätten, der keine Noten lesen könne. Ich erklärte ihm, dass ich ihm schon beibringen würde, im Takt mit unserem Orchester zu singen. Ich ließ ihn jeden Tag eine Stunde vor dem Training mit ein paar Jungs aus der Jugendmannschaft antreten, und wir gingen alles durch. Am Ende sang er perfekt im Takt mit.“ (Sacchi über Ancelotti)
Obwohl er nicht der dynamischste war – wie zum Beispiel Rijkaard –, konnte er sich durch seine intelligente Ballverarbeitung, seine Spielintelligenz, sein antizipatives Freilaufen und seine starken Fähigkeiten in der Drehung mit Ball am Fuß oftmals aus engen Drucksituationen befreien. Nach diesen Befreiungen war er im Stande strategisch geschickte Optionen zu wählen: Er wechselte stabilisierende Rückpässe auf die Innenverteidiger, Kurzpässe auf ballnahe Spieler, horizontale Seitenverlagerungen auf die Außenverteidiger mit Schnittstellenpässe ins letzte Drittel, langen Diagonalbällen auf die Flügelstürmer oder auch Distanzschüssen von ihm selbst ab. Dadurch konnte er zwischen Raumgewinn mit sicheren Pässen oder versuchten Angriffsabschlüssen durch tödliche Zuspiele variieren, was ihn als Sechser sowohl für eine Konter- als auch eine Ballbesitzmannschaft prädestinierte. Letzteres lag ihm dank seiner intelligenten Suche nach offenen Räumen im Spielaufbau allerdings mehr. Dadurch und insgesamt mit seinem Fähigkeitenprofil ähnelte er sogar in gewisser Weise einem Spieler, welcher unter ihm aktuell zum Schlüsselspieler bei Real Madrid geworden ist.
Der Modric der 80er
Noch in der vergangenen Saison galt der kroatische Spielmacher Luka Modric als Flop und Fehleinkauf. Unter Carlo Ancelotti nimmt er nunmehr eine Schlüsselrolle ein und ist für viele der beste zentrale Mittelfeldspieler der Welt in dieser Spielzeit. Interessant ist hierbei, dass sich Modric und Ancelotti in vielen Aspekten ähneln. Dies betrifft einerseits ihre strategische Entscheidungsfindung, wo sie häufig gleiche Lösungswege in schwierigen Situationen finden. Viel stärker zeigt es sich aber in ihren Aktionsradien.
Im ersten Drittel ließ sich Ancelotti beispielsweise gerne nahe zwischen die beiden Innenverteidiger zurückfallen, drehte dabei sein Gesicht und somit sein Sichtfeld dem größeren Teil des Feldes horizontal zu und konnte dadurch Bälle direkt in der Drehung verarbeiten und auch die heranrauschenden Gegner beobachten. Ballverluste – selten. Auch kommen beide tief und holen sich die Bälle vor den Innenverteidigern ab, aber kippen selten zwischen diese und spielen eigentlich nie als situativer Libero, wie es zum Beispiel Bastian Schweinsteiger gerne macht.
Bei den Bewegungen im zweiten Spielfelddrittel ist es ähnlich. Ancelotti und Modric gehen beide gerne in den defensiven Halbraum und in eine intelligente, ambivalente Position. Sie können dann mit den Außenverteidigern kombinieren, diese bei aufrückenden Bewegungen absichern oder sich schnell in die Spielfeldmitte drehen, um gefährliche Vertikalpässe oder lange Verlagerungen zu spielen. Des Weiteren entziehen sie sich auch hier dem Zugriff des gegnerischen Pressings und überladen lokal. Bei Ancelotti hatte dies unter Sacchi auch den Effekt, dass sich Gullit und Rijkaard zentral positionieren oder gar die Position tauschen konnten.
Teilweise ist die Ähnlichkeit sogar bei der Lauf- und Dribbeltechnik zu erkennen; Ancelotti nutzte gerne viel Effet im Passspiel und setzte sich im Dribbling oft mit einer Körpertäuschung nach innen und darauffolgendem Auswärtshaken durch. Beides kennt man von seinem Spieler Modric ebenso. Natürlich gibt es aber auch kleinere Unterschiede.
Im Defensivzweikampf und dem Attackieren des Gegners definierte sich Ancelotti eher durch seine Wucht und Kraft, als über die Dynamik und Geschicklichkeit wie Modric, wobei beide hier für spielmachende Sechser enorm stark und effektiv sind beziehungsweise waren. Der größte Unterschied ist jedoch im Dribbling zu finden. Zwar war Ancelotti ebenfalls sehr ruhig und überaus pressingresistent, dabei aber nicht so dynamisch, raumgreifend und im Stande mehr als einen oder zwei Spieler stehen zu lassen, wie es Modric vermag. Ein undynamischer Modric quasi, der heutzutage im modernen Gegenpressing des Gegners nach Balleroberungen nicht ganz so pressingresistent wie der Kroate wäre, aber fast schon perfekt als „80er-Version“ zu bezeichnen ist.
Es war auch das intensive und offensive 4-4-1-1/4-4-2 Sacchis, das Ancelotti bei seinen ersten beiden Cheftrainerstationen (AC Reggiana und AC Parma) ausprobierte. In Parma war er stark darauf bedacht, das System mit kollektivem Aufrücken und mannschaftstaktischen Abläufen in der Defensive weiterzuentwickeln. In dieser Zeit soll er sein 4-4-2 sehr dogmatisch verfolgt haben. Angeblich wurde auch deshalb der italienische Altmeister Roberto Baggio nicht verpflichtet.
Zwischenzeitlich schloss Ancelotti seine Ausbildung zum Trainer ab. Seine Abschlussarbeit trug den Titel „Il futuro del calcio. Piu dinamicita” („Die Zukunft des Fußballs. Mehr Dynamik“). Er legte darin seine Ansichten dar. Einige Auszüge: „Es gibt ständig ein hohes öffentliches Verlangen nach einem Produkt, das spektakulärer und aufregender ist. […] Die Öffentlichkeit möchte Unterhaltung und diese Unterhaltung kann durch schnelle Lösungen, einer variablen Offensive, mit dem finalen Ziel vor das Tor zu gelangen, geschaffen werden. In den letzten Jahren, speziell in Italien, wurde viel Zeit der Taktik des Spiels gewidmet. […] Um das Spiel effizient zu machen ist es unabdingbar, dass die Bewegungen fernab des Balls sowie das Passspiel perfekt synchronisiert sind. Dafür sind Konzepte von Raum und Zeit sehr wichtig für Taktik im Angriffsspiel. Falls zwischen der Person, die den Pass spielt, und der Person, die den Pass empfängt, keine Synchronisation herrscht, schlägt das Konzept der Dynamik fehl. […] Ich glaube, dass die zukünftige Entwicklung des Spiel von der Verbesserung offensiverer Lösungen abhängt, wobei mehr Zeit taktischer Ansätze geschenkt wird und zugleich eine Balance zwischen Defensive und Offensive vorherrschen sollte.“
Nach einer starken Vizemeisterschaft mit Parma und weiteren überzeugenden Leistungen wechselte Ancelotti zu Juventus, konnte mit den Turinern aber den Scudetto nicht gewinnen. Dafür stieg er vom 4-4-2 auf 3-4-1-2 um. Zinédine Zidane, heute sein Co-Trainer, war der freie Spieler vor einer Viererkette. Da Alessandro Del Piero oftmals nach links abkippte, bildete sich schon eine Art Vorläufer der Tannenbaumformation, mit der er später bei Milan auftrumpfte. Nachdem die Gruppenphase der Champions League 2000 nicht überstanden wurde, setzte man Ancelotti im darauffolgenden Sommer auf die Straße.
Milan-Zeit: Aller Anfang ist schwer
Am 7. November 2001 begann dann für ihn eine lange und von vielen Erfolgen geprägte Phase seiner Karriere. Er übernahm seinen früheren AC Milan von Fatih Terim und führte die Lombarden recht schnell wieder aus einer Krise heraus. Den deutschen Fans sollte zum Beispiel das Halbfinal-Duell mit Borussia Dortmund in dieser Saison in Erinnerung geblieben sein.
Anfangs stand der damals noch eher unerfahrene Trainer vor allem bei der schwierigen Milan-Führungsfigur Silvio Berlusconi in der Kritik. Allerdings brachte Ancelotti Stabilität in das Gefüge, spielte anfangs oft nur mit einem Stürmer, was dem exzentrischen Präsidenten „zu defensiv“ war. Interessanterweise vertraute Ancelotti dem damals vorgefundenen personellen Grundstock über viele Jahre hinweg und es wurden in den Transferperioden oft nur einzelne Ergänzungen, natürlich dann im hohen Millionen-Bereich, wie es in Italien üblich war, vorgenommen.
Führungsspieler Paolo Maldini, Mittelfeldstratege Andrea Pirlo, Abräumer Gennaro Gattuso, Abstauberkönig Pippo Inzaghi und andere gehörten bereits zum Kader. Das Grundsystem von Terim wurde übernommen. Milan spielte zu dieser Zeit in einer Raute der 4-3-1-2-Prägung. Terim ließ allerdings zuweilen noch defensiver spielen, positionierte vier gelernte Innenverteidiger in der Viererkette und eigentlich eher für die Außenverteidigung geeignete Spieler auf den Halbpositionen.
In weiten Teilen war Konterabsicherung und die kompakte Besetzung des zweiten Drittels ein Hauptaugenmerk, das Ancelotti gerade in seiner ersten Saison auch nicht änderte. Allerdings nahm der Neu-Trainer Verbesserungen in puncto Aufgabenaufteilung vor. Spielte Milan gegen einen tiefstehenden Gegner, kam beispielsweise der offensive Serginho als Linksverteidiger zum Einsatz. War man mehr auf Stabilität bedacht, sollte Kakher Kaladze die Außenbahn als zusätzlicher Manndecker verteidigen.
Insgesamt ließ sich bei Milan in der Saison 2001/02 und auch noch später ein hohes Maß an Mannorientierungen ausmachen. Dadurch entstanden zahlreiche Übergabemomente innerhalb der letzten Reihe. Vor allem wenn mehr als zwei Manndecker aufgeboten wurden, wechselte die Grundposition im Gefüge häufiger, wurde ein gegnerischer Angreifer verfolgt.
Gerade bei der katastrophalen 4:0-Hinspielniederlage gegen den BVB im April 2002 konnte die Mannschaft von Matthias Sammer diese Defensivorganisation ausnutzen. Die vier vorderen Spieler, aber vor allem Marcio Amoroso und Jan Koller, pendelten ständig zwischen mehreren Positionen. Beim Verfolgen wurden Maldini und Co. in die Irre geführt, Abseitsfallen zunichte gemacht und Räume zwischen dem eigentlich kompakten Mittelfeld und der Abwehr geschaffen.
Im eigenen Spielaufbau war Ancelotti zu jener Zeit sehr orthodox und zurückhaltend eingestellt. Er vertraute vornehmlich auf die individuellen Qualitäten seiner nominellen Offensivkräfte. Die Doppelneun bestand meistens aus Inzaghi und Andriy Shevchenko. Dahinter agierten auf der klassischen Zehnerposition Rui Costa oder der aufstrebende Andrea Pirlo, dessen Fähigkeiten als tiefer agierender Aufbaudirigent erst später richtig zum Tragen kamen. Durchbrüche gegen massierte Defensivreihen gab es weniger über strukturiertes Passspiel als vielmehr über längere Schläge in die Spitze, wo der Ball fest gemacht wurde, während die Halbspieler nachrückten und die Außenverteidiger weite Wege überbrücken mussten. Im letzten Drittel wurde dann das Spielgerät entweder sofort durch eine Schnittstelle gepasst oder nach der Verlagerung auf den Flügel hinein geflankt. Außergewöhnliche Offensivstrukturen waren in diesen Tagen nicht zu erkennen. Die Rossoneri schlossen die Saison in der Serie A auf dem vierten Tabellenplatz ab.
Die Lombarden und der Feldzug durch Europa
Ob es nun der öffentliche wie vereinsinterne Druck oder doch eine Selbsterkenntnis Ancelottis war, ist wohl nicht überliefert. Allerdings änderte er in der darauffolgenden Saison seine komplette Ausrichtung doch ein Stück weit. Milan sollte offensiver agieren, nicht mehr derart auf Zentrumskompaktheit fokussieren. Unter anderem wechselte Clarence Seedorf nach Mailand und konnte in den nächsten Jahren die halblinke Position besetzen. Hauptsächliche Grundformation blieb die Raute, wenngleich kein Dogma vorherrschte. Durch den Transfer von Weltmeister Rivaldo hatte Ancelotti im Angriff neue Optionen, konnte auch auf ein 4-4-1-1 umstellen, wo der Brasilianer eher Freispieler war. Hinzu kam die Umfunktionierung Pirlos, der nun als spielmachender Sechser eingesetzt wurde und auf dieser Position die Ära Milans mit prägen konnte.
Insgesamt wurde das Gefüge dynamischer. Die beiden Angreifer sollten trotz ihrer höheren Positionen mehr auf die Außen ausweichen und Räume für die aufrückenden Akteure wie Seedorf und Rui Costa schaffen. Damit wurden auch die Außenverteidiger bei der Flügelbesetzung etwas entlastet. Es gab mehr Überladungssituationen. Ancelottis System brach aus dem starren Abdecken der Grundräume aus.
Doch die Defensivarbeit wurde keineswegs verlernt. Zu jener Zeit hätte Milan allein aus den Innenverteidigern im Kader eine Startelf formieren können. Darunter waren erfahrene Abwehrrecken. Der Ruf einer Altherrentruppe sollte sich in den folgenden Jahren noch mehr zementieren. In der Serie A belegte Milan nur den dritten Platz. Dafür fuhr Ancelotti das Double mit Coppa- und Champions-League-Triumph ein und sicherte auch so seine eigene Zukunft.
In der Königsklasse schlug man Stadtrivale Internazionale im Halbfinale durch ein 1:1 „auswärts“. Darauf folgte das intensive, aber nicht unbedingt hochklassige Endspiel gegen Juventus. Beide Mannschaften hatten einen großen Respekt voreinander. Wurde Ancelotti 2001 noch bei der Alten Dame vor die Tür gesetzt und durch Vorgänger Marcelo Lippi ersetzt, konnte er im Old Trafford von Manchester an Juventus Revanche üben.
In diesem Finale wich der Milan-Trainer von der Raute ab und setzte auf ein 4-4-2. Pirlo und Gattuso bildeten die Doppelsechs. Dabei sprintete ersterer immer wieder vertikal nach vorn, wurde dabei von dem einrückenden Rui Costa unterstützt. In der Verlängerung übernahm die Verbindungsaufgabe im Mittelfeld Massimo Ambrosini. Bekam Milan kein Übergewicht in der gegnerischen Hälfte, erfolgten zumeist längere Zuspiele auf Shevchenko, der seinerseits auf die Flügel leitete. Insgesamt neutralisierten sich beide Teams im Endspiel in vielen Phasen. Es gab zahlreiche lose Bälle im Mittelfeld, um die gekämpft wurde und wo die Zweikampfführung nicht immer eindeutig war. Ansonsten wurde den Zuschauern viel Mannorientierung und Abschirmung geboten, sodass sich zeitweise Fehlpass an Fehlpass reihte.
Ancelotti schien während der Partie nicht den progressiven Weg einzuschlagen. Er ließ Rivaldo, der in dieser Saison auch nicht vollends überzeugte, auf der Bank, nahm sogar Andrea Pirlo nach rund 70 Minuten vom Platz. Über die Flügel entwickelte sich nur Druck, wenn Seedorf oder Rui Costa ihrerseits Einzeldurchbrüche initiieren konnten. Dahinter fanden sich mit Kaladze, Costacurta und im Spielverlauf auch noch Roque Junior limitiertere Spieler, die sich vornehmlich auf die Absicherungen gegen Mauro Camoranesi und Co. konzentrierten. Eine Meisterleistung war dieser Finaltriumph von Ancelotti nicht. Trotzdem brachte der 3:2-Sieg im Elfmeterschießen den ersten Titel als Trainer in der Königsklasse.
In der Saison 2003/04 gewann der Milan-Trainer dann den ersten Scudetto mit seiner Mannschaft. Die Weiterentwicklung war aus teamtaktischer Sicht eher unspektakulär. Dafür konnten zwei Transfers eingetütet werden, die große Wirkung auf die Durchschlagskraft hatten. Cafu, schon 33-jährig, kam aus Rom in die Lombardei. Kaka wurde ebenfalls verpflichtet. Die beiden Brasilianer belebten insgesamt das Offensivspiel. Cafu war perfekt dafür geeignet, über den rechten Flügel viel Druck auszuüben. In diesem Zusammenhang fand Gattuso auf der halbrechten Position in der Raute auch eine wichtige Aufgabe, die ihm auf den Leib geschneidert war: Absichern.
Kaka trat langsam in die Fußstapfen von Rui Costa. Der junge Offensivspieler vom Zuckerhut verkörperte auf seine Weise eine wichtige Komponente, die Milan im Schatten der Angreifer noch fehlte. Er war auch vielmehr Trequartista als klassischer Zehner, stieß unnachlässig in den Raum vor, den Shevchenko und Inzaghi vorher freiräumten.
Neben dem nationalen Titel gab es auf europäischer Bühne eine herbe Enttäuschung. Gegen Deportivo La Coruna konnte Milan einen 4:1-Vorsprung im Riazor nicht verteidigen und verlor noch mit 4:0. Eigentlich verdient dieser Einbruch gegen die Mannschaft von Javier Irureta eine genauere Ausführung. Allerdings folgte mehr als ein Jahr später ein noch historischerer Einbruch der Rossoneri. Dieses Mal lag nur ein Kabinengang dazwischen.
Das Drama am Bosporus und die Revanche
Zu dieser schon legendären Finalbegegnung gegen Liverpool erschien auf Spielverlagerung bereits eine zweiteilige Retroanalyse, die sehr gut aufschlüsselt, warum Milan womöglich eine der besten Halbzeiten in der Ancelotti-Ära spielte. Gerade gegen das relativ starre 4-4-2, kam die Raute der Rossoneri dermaßen stark zum Tragen, dass die Reds ein ums andere Mal ausgehebelt wurden.
Zudem konnte in der ersten Halbzeit verdeutlicht werden, wie gewinnbringend die vertikale Staffelung von Pirlo und Kaka war. Der Brasilianer hatte einen großen Aktionsradius und musste entweder vom zentralen Mittelfeld abgedeckt werden, wodurch Pirlo enorme Freiräume für seine grandiosen Pässe und Verlagerungen bekam, oder aber der „architetto“ wurde angegangen und über die Halbräume oder auch den sehr aktiven Cafu gelangte das Spielgerät zu Kaka.
Vielleicht wurde besonders in diesem Fall deutlich, wo in dieser Zeit die Stärke des Ancelotti-Systems lag: Die pendelnde Bespielung der Zwischenlinienräume. Die beiden Halbspieler, vor allem Seedorf, konnten immer dahin verlagern, wo entweder der Ball war, oder aber die Zwischenräume überlagern, in denen Milan Präsenz schaffen wollte. Dies in Kombination mit den stets an der Abseitsgrenze lauernden Angreifern, Hernan Crespo wurde eine Alternative zu Inzaghi, ergab ein vertikal angelegtes Offensivspiel, wo der tödliche Pass noch zelebriert wurde.
(Treffer zum 3:0: Überhastetes Anlaufen von Riise – freie Position von Kaka – raumschaffender Lauf von Shevchenko – Weltklasse-Pass auf Crespo)
In der Analyse von damals heißt es: „Doch warum hatte Pirlo so viel Zeit und Raum? Zunächst einmal gab es kein nennenswertes Rückwärtspressing von Baros und Kewell. Im Mittelfeld musste Riise den vorstürmenden Cafu im Auge behalten, rechts hatte Luis Garcia Probleme damit, dem Wechselspiel zwischen Maldini und Seedorf standzuhalten. Gerrard und Xabi Alonso kümmerten sich um den Sechserraum, in dem Kaka lauerte. Ganz vorne beschäftigten Shevchenko und Crespo die komplette Viererkette der Engländer, indem sie häufig in die Schnittstellen zwischen Innen- und Außenverteidiger starteten. So waren Liverpools hintere acht Spieler gebunden und konnten es sich eigentlich nicht leisten, auf Pirlo herauszurücken. […] Löste sich dann entweder Gerrard oder Alonso aus der vorderen Viererkette, um den italienischen Dirigenten anzulaufen, mussten die verbleibenden drei Akteure sehr eng zusammenrücken, um die Schnittstellen nicht zu weit zu öffnen – Kaka und die beiden Stürmer wären sonst zu leicht anspielbar gewesen. […] Folglich waren Cafu und Maldini auf den Flügeln frei. Während Letzterer etwas enger agierte und weiterkombinierte, nutzte der Brasilianer diese Räume zu gefährlichen Vorstößen im Stile Dani Alves´ zu besten Zeiten.“
Allerdings folgte in der zweiten Halbzeit innerhalb von einer Viertelstunde der Einbruch Milans. Liverpool schoss drei Tore und war auf einmal wieder im Spiel. Rafa Benitez stellte in der Halbzeit auf ein 3-4-2-1 um, bespielte durch viel höhere Zentrumspräsenz die Raute Ancelottis. Zudem verhielten sich die Mailänder Angreifer Laissez-faire im Pressing, Kaka verrichtete nicht mehr derart viel Defensivarbeit. Die Liverpooler Wing-Backs hatten keine direkten Gegenspieler, Milans Zentrum verschob ständig auf den Flügel, wurde durch die höhere Präsenz der Liverpooler in den mittigen Ballverteilungszonen aber mehr und mehr in Bewegung gebracht, bis sich Lücken ergaben. Nach den drei Treffern blieb Ancelotti nahezu stoisch an der Seitenlinie stehen, reagierte erst kurz vor Schluss mit der Umstellung auf eine Dreierkette, um die müden Engländer zu knacken. Allerdings blieb Liverpool recht abgeklärt in der tiefen Staffelung. Das Elfmeterschießen brachte dieses Mal die Entscheidung zuungunsten Milans.
In der darauffolgenden Saison wurden die Rossoneri nur Drittplatzierter der Serie A. In der Champions League schied man denkbar knapp gegen Frank Rijkaards Barcelona aus. Es sollte noch eine Saison dauern, bis der zweite Champions-League-Titel eingefahren wurde. Und dieser Triumph war sogleich die Revanche für das Drama von Istanbul. Rein personell veränderte sich Milan nur in Nuancen. Alberto Gilardino war bereits ein Jahr im San Siro unterwegs. Shevchenko verabschiedete sich Richtung Chelsea, während man den 30-jährigen Ronaldo und zudem noch Jungtalent Yoann Gourcuff verpflichtete. Mit Marek Jankulovski und Massimo Oddo kamen zudem offensivausgerichtete Außenverteidiger nach Mailand. Im Endeffekt setzte Ancelotti aber weitestgehend auf seine mittlerweile als Altherrentruppe abgestempelte Mannschaft.
Allerdings stellte er das Grundsystem etwas um, wich von der Raute auch aufgrund der ungünstigeren Kaderdichte im Stürmerbereich ab, setzte nun mehr auf das Tannenbaumsystem, was allerdings recht fluide blieb. Seedorf und Kaka waren die Schattenspieler des Neuners, während Ambrosini in wichtigen Partien verstärkter zum Einsatz kam. Nach einem 3:0 im San Siro gegen Manchester United zog Milan ins Finale gegen Liverpool ein. Diese Begegnung im Stadio Athinas Spyros Louis war von großem Respekt und Zurückhaltung im kollektiven Aufrücken geprägt. Liverpool wirkte in der ersten Halbzeit dominanter, wurde aber im Endeffekt ein Opfer des Torphantoms Inzaghi. Lange Zeit sah es so aus, als würde Benitez da weiter machen, wo er irgendwann in der 65. Minute des Endspiels 2005 aufhörte. Seine Mannschaft im 4-2-3-1 gelang es die Milan-Offensive zu isolieren und in viele Eins-gegen-Eins-Situation im letzten Drittel zu gelangen. Vor der Halbzeitpause fälschte Inzaghi versehentlich einen Pirlo-Freistoß ins Tor von Pepe Reina ab. Ancelotti wiederholte einen Fehler nicht. Er verordnete seiner Mannschaft eine gnadenlose Verteidigungsstrategie, wo auch Kaka am eigenen Strafraum verteidigte. Der Konterfokus schien den Mailändern gut zu passen. Denn in ihrem Abwehrpressing hatten sie wenig Mühe in statischen Situationen gegen die doch mehr auf weitläufige Dynamik ausgelegten Engländern zu agieren. Lediglich ein paar Distanzschüsse wurden zugelassen. Selbst im Umschaltmodus blieb Milan zurückhaltend und immer auf Absicherung bedacht. Schlussendlich war es eine geniale Aktion von Kaka, der Inzaghi in Szene setzte und die Entscheidung vorbereitete. Der Anschlusstreffer von Dirk Kuyt kam zu spät. Milan und Ancelotti durften ein zweites Mal den Henkelpott in die Höhe recken. UEFA Supercup und FIFA Klub-WM folgten noch in den Trophäenschrank. Weitere Erfolge blieben Ancelotti bis zum Abschied 2009 verwehrt. Eine wirkliche Verjüngung kam nicht zustande, die merkliche Weiterentwicklung der Mannschaft ebenso. Rückkehrer Shevchenko oder Stareinkauf Ronaldinho brachten keine Besserung. Auch andere Transfers waren eher enttäuschend. Die Ehe zwischen Ancelotti und seinem Verein schien ermüdet.
Torrekord an der Stamford Bridge
Er verließ die Lombarden und ging im Sommer 2009 zu Roman Abramovichs Chelsea. Dort übernahm der Italiener in großen Teilen das Gerüst, was ein Jahr zuvor das Champions-League-Finale gegen Manchester United verlor. Ancelotti blieb ganz der Pragmatiker. Nach einer kürzeren Phase mit Mittelfeldraute und Tannenbaum formierte er Chelsea in einem simplen 4-3-3/4-5-1. Sein Team war physisch dominant und der Angriff um Didier Drogba schoss in der ersten Saison so manchen Erstligisten regelrecht aus dem Stadion. 103 Treffer in der Premier League verbuchten die Blues und erzielten damit als erste Mannschaft seit 1963 eine dreistellige Summe an Toren in der höchsten englischen Spielklasse. Zudem verzeichneten die Londoner die zweithöchste Total Shot Ratio (69,04%) von allen Teams in den europäischen Top-Ligen der letzten fünf Jahre.
Im knappen Titelrennen mit Manchester United vertraute Ancelotti auf eine klare Mittelfeldachse mit Frank Lampard, Michael Ballack, Michael Essien und anderen. Das Team agierte häufig sehr dominant und war auf Torabschlüsse im Zentrum durch Drogba ausgerichtet. Der Ivorer wurde dabei von Nicolas Anelka, nicht selten als nomineller Rechtsaußen aufgeboten, unterstützt. Lampard als aufrückender Spieler aus dem Mittelfeld tat sein übriges.
Gerade die erste Saison bei Chelsea zeigte die Herangehensweise Ancelottis. Er versuchte keine taktischen Kunststücke, sondern nutzte ganz einfach die Stärken seiner individuell hervorragenden Kadermitglieder und unterstrich sein Augenmerk auf Disziplin. Anpassungen an den Gegner oder Umstellungen geschahen meist im Nanometerbereich. Das Double von Liga- und FA-Cup-Titel sprang am Ende dabei heraus. Allerdings sollte die nächste Saison keineswegs so erfolgreich werden. Denn nach einem Punktverlust gegen Newcastle United kam Chelsea im Herbst erheblich ins Straucheln. Den Rückstand auf die Red Devils konnte man nicht mehr aufholen. Zwischenzeitlich waren die Blues sogar auf Platz fünf abgerutscht. Trotz zahlreicher ernüchternder Auftritte veränderte Ancelotti wenig bis gar nichts. Dies gepaart mit seinem ruhigen, zurückhaltenden Wesen wurde ihm oft als Schwäche in Form von mangelnder Kreativität unterstellt.
„His calm demeanour has been interpreted by some as a lack of passion, while he has also been accused of being too passive and slow to make changes when his sides are in trouble.” (ESPN FC)
Abramovich gab seinerseits den Gewinn der Champions League als Ziel, gerade nachdem im Winter die Transfers von Fernando Torres und David Luiz getätigt wurden. Allerdings schied Chelsea im Viertelfinale gegen Manchester United aus und verlor im Mai noch quasi das Endspiel um die Meisterschaft. Ancelotti trat in dieser Zeit als Gentleman auf und zeigte Verständnis, sollte ihn der Verein entlassen, was die Londoner Ende Mai nach einer Niederlage gegen Everton auch taten. Die Zeit bei den Blues ist äußerst schwer einzuschätzen. Einerseits gab es ein vertikal angelegtes Offensivspiel mit physischer Dominanz und guten Vollstreckern. Andererseits hinterließ Ancelotti keinen bleibenden Eindruck.
Aufbau oder Verwaltung einer französischen Startruppe
Allerdings sollte deshalb Ancelotti nicht in eine endlos lange Phase der Arbeitslosigkeit stürzen. Es dauerte rund sieben Monate, bis er dem Ruf eines anderen Mäzenen-Vereins folgte. Zum Jahreswechsel 2011/12 holte ihn sein ehemaliger Weggefährte Leonardo zu Paris Saint-Germain. Der als traditionell geltende Ancelotti ersetzte Antoine Kombouaré. Zum Zeitpunkt der Übernahm lag PSG an der Tabellenspitze, konnte allerdings im Verlaufe der Rückrunde den Abstand auf HSC Montpellier nicht halten und musste sich mit dem zweiten Platz begnügen. Im darauffolgenden Sommer wurden die Ansprüche durch zahlreiche Millionen-Transfers unterstrichen. Zlaten Ibrahimovic und Thiago Silva kamen aus Mailand, Ezequiel Lavezzi aus Neapel, Top-Talent Marco Verratti aus Pescara. Zudem gesellten sich im Verlaufe der Saison noch Lucas Moura und David Beckham zur Mannschaft.
Es war Ancelottis Aufgabe aus dieser Ansammlung an Stars ein homogenes Team zu formen. Man vertraute dabei auf seine Erfahrung aus der Milan-Ära und hoffte zugleich, dass er seinem Ruf als Offensivtrainer gerecht wird. Allerdings sollte es mit dem kollektivtaktischen Auftreten nicht so recht klappen. Über weite Strecken der Saison lebte PSG vor allem von seinen Einzelspielern, allen voran von Zlatan Ibrahimovic. Ancelotti vertraute während seiner zweiten Saison in der französischen Hauptstadt entweder auf ein 4-3-2-1 oder ein 4-4-2. Mittelfeldpräsenz war ihm enorm wichtig, in der Offensive kombinierten mehrere Akteure auf engem Raum, während die Außenverteidiger aufrückten. Die Formation war oft gestreckt, es mangelte an Kompaktheit. In der letzten Reihe musste viel ausgeputzt werden. In diesem Zusammenhang passte Ancelottis Spielerwahl gerade in der Ligue 1 nicht immer perfekt. Paris war in vielen Partien dominant, trotzdem ließ der Italiener zuweilen mit drei tieferen Spielmachern agieren. Die Verbindungen in die Offensive fehlten und auch dadurch mussten es im letzten Drittel oft Aktionen der etwas isolierten Angreifer sein.
In der Liga konnte man sich den Titel sichern. Ancelottis Ausrichtung wurde zudem variabler, er stellte mehr auf ein 4-2-2-2 um, wobei zwei tiefere Sechser vor der Abwehr standen, während sich davor ein qualitativ hochwertiges Band bildete, bei dem Lavezzi oftmals neben Ibrahimovic agierte. In einer Analyse zum Achtelfinale gegen Valencia wurde dazu geschrieben: „Das System ähnelte ein wenig dem brasilianischen 4-2-2-2 mit zwei tiefen Sechsern und vier Spielern in recht freien Positionen. Auch Manchester City mit den spielmachenden Flügeln Nasri und Silva sind nicht sehr weit von dieser Spielweise weg.“
Gerade Javier Pastore fokussierte auf das spielmachende Element, während Lucas in der Rückrunde unter Ancelotti die Tempomaschine im Team war. Musste PSG gegen einen stärkeren Gegner verteidigen, verordnete der Italiener seiner Mannschaft ein eher passives Agieren mit zwei engen Viererketten. Durch die kopfballstarken Innenverteidiger konnten Gegner auch angstfrei auf die Flügel geleitet werden. Eigentlich wurden die Pariser im Umschaltspiel, eben über die tempostarken und spielintelligenten Angreifer, noch gefährlicher. Eine stärkere Fokussierung auf diesen Aspekt verhinderte aber Ibrahimovic, der als Zielspieler schlechthin im Gefüge integriert war. Ancelotti blieb auch bei PSG äußerst pragmatisch. Er drückte der Mannschaft keine explizite Spielidee auf, sondern versuchte aus dem hochwertigen Spielermaterial die besten Leistungen herauszuholen.
In der Champions League kam im Viertelfinale das Aus gegen den FC Barcelona, dem allerdings viel abverlangt wurde. Ancelotti setzte dabei auf Beckham als tiefen Sechser und Gefahr für lange Vertikalbälle, während schlussendlich Thiago Silva auf Ibrahimovic spielte. Die beiden engen, zum Teil asymmetrischen, Viererketten gegen Barca waren ein probates Mittel. Pressing gegen die katalanische Ballbesitzdominanz war eine Seltenheit, wurde es versucht, ging es meist schief. Trotzdem verhielt sich Ancelotti in diesem hochklassigen Duell klug bei Anpassungen seiner Mittelfeldakteure. Er bewies ein weiteres Mal, dass er Aufrückbewegungen im zentralen Mittelfeld sehr gut dosieren kann. Das endgültige Ausscheiden aus der Königklasse konnte der Italiener aber nicht verhindern. Die Beziehung zum Pariser Milliardenverein beendete er dann Mitte Mai des letzten Jahres. Denn der Ruf aus Madrid lockte Ancelotti auf den Stuhl José Mourinhos.
Wenig Glanz, aber „La Decima“ vor Augen
Beim spanischen Hauptstadtklub Real Madrid sollte Ancelotti nach dem Selbstverständnis der Königlichen entsprechend unwürdigen Jahren unter Mourinho neue Seriosität und Würde an der Seitenlinie verkörpern. Neben dem Trainerwechsel wurde auch der Kader zum Amtsantritt ein Stück weit umgekrempelt. Die Nationalspieler Gonzalo Higuain und Raul Albiol sowie der gradlinige Konterstürmer José Callejon wurden nach Neapel transferiert, dafür kamen die spanischen Talente Isco, Asier Illarramendi und Daniel Carvajal, welcher nach seiner Leihe nach Leverkusen per Rückkaufoption zurückkehrte, zu den Königlichen.
„Ancelotti will be a breath of fresh air. Real Madrid has great players, they just need to play like a team. Ancelotti will make that happen. He has played and coached at the very top, so he knows full well what goes on in the dressing room.” (Johan Cruyff)

Wurde aus Sacchis Milan das neue Real Madrid unter Ancelotti? Ist Modric eine Art modernes Alter Ego des Trainers?
Ancelotti startete mit einem 4-4-2/4-2-2-2-Mischsystem, in welchem er mit Isco, Mesut Özil und Di Maria eher spielmachende, in die Halbräume tendierende Spielertypen, auf den Flügeln aufbot. Cristiano Ronaldo wurde als nach links hängende Spitze von der Defensivarbeit fast vollständig entbunden. Wegen der Verletzung Xabi Alonsos zu Saisonbeginn durfte Ancelottis modernes Alter Ego Luka Modric als dominanter, spielmachender Akteur mit wechselnden Partnern im zentralen Mittelfeld operieren. Dies versprach eine Menge Kreativität, führte defensiv jedoch oft zu einer zerrissenen Mannschaft, in der die fünf Spieler hinten und die vier Spieler vorne nur durch Modric verbunden wurden. Die Außenverteidiger verhielten sich entgegen ihres Naturells eher defensiv, was häufig zu fehlender Breite im Offensivspiel führte.
Auch wegen seiner Defensivschwäche verließ Mesut Özil den Klub nach zwei Spielen in La Liga in Richtung London. Ancelotti übernahm die volle Verantwortung für den Transfer: „Seinen Weggang habe ich entschieden, das war eine sportliche Entscheidung. Ich bevorzuge Di Maria dank seiner Dynamik, seines Charakters, seiner Hilfe für die Mannschaft.“ Zudem warf Ancelotti Özil indirekt Charakterschwäche vor: „Angel di Maria hat weniger Qualitäten als Özil, aber ich bevorzuge seinen Charakter und die Tatsache, dass er dem Team mehr hilft.” Di Maria sei wichtiger für das Gleichgewicht der Mannschaft, so Ancelotti.
Kurz vor Ende der Transferperiode wurde dann endlich der (fast) 100 Millionen-Euro-Transfer von Gareth Bale realisiert. Dieser komplettierte nach seiner erfolgreichen Integration das Puzzlespiel von Ancelotti. Das 4-4-2/4-2-2-2-Mischsystem konnte um eine weitere Systemkomponente, das 4-3-3, erweitert werden. Dies war zu Beginn bei Ballbesitz auch die dominante Struktur, die sich im Defensivspiel durch die Inkonstanz Ronaldos von einem 4-3-3, zu einem 4-4-2 (Bale im rechten Mittelfeld) und abschließend zu einem 4-1-4-1 entwickelte. Durch die Dynamik dieser Verschiebungen war Real in dieser Phase insbesondere in den defensiven Halbräumen instabil. Deswegen stellte Ancelotti in den wichtigen Spielen, zum Beispiel gegen Barcelona und gegen die Bayern, konsequent auf ein 4-4-2/4-2-2-2 um, wobei er maßgebliche Aspekte des Pressings unter Arrigo Sacchi (Raumverknappung, Spiel mit Deckungsschatten, lokale Kompaktheit) umsetzen ließ. Nach der torreichen Niederlage in La Liga gegen Barcelona, wurden anschließend Siege in der Copa (ein Gegentor) und Champions-League (ohne Gegentore) eingefahren. Das neue System nutzt insbesondere die Defensivfähigkeiten Bales und Di Marias sowie die unglaubliche Raumkontrolle Luka Modric’ ideal aus, um die Defensive zu balancieren und zu stabilisieren. Ancelotti ist nur noch einen Sieg von “La Decima” entfernt.
Schlusssatz
Das ist natürlich nur ein kleiner Abriss des Schaffens von Carlo Ancelotti, der sich wie die „intellektuelle Biografie“ nur dem öffentlichen Wirken widmet. Die Autobiografie „Preferisco la Coppa“, welche 2009 erschien, wurde nicht herangezogen. Wenngleich ein solches Selbstzeugnis mehr über die Sehnsüchte und Eindrücke des Autoren als über weitestgehend objektive Tatsachen aussagt, könnte natürlich dieses Werk noch in eine Betrachtung der Person Ancelotti einbezogen werden.