Quantcast
Channel: Trainerporträts – Spielverlagerung.de
Viewing all 63 articles
Browse latest View live

Sir Alex Fergusons Giantkilling 1983 mit Aberdeen

$
0
0

Der Name Sir Alex Ferguson wird automatisch mit Manchester United verbunden. Doch schon zuvor feierte Sir Alex einige größere Erfolge. Neben seinem Aufstieg mit St. Mirren dürften es insbesondere die Erfolge Aberdeens sein, welche ihm den Trainerjob bei Manchester United einbrachten. Als Ferguson bei Aberdeen anfing, hatten sie nur einmal den Meistertitel gewonnen: Und zwar im Jahre 1955. 1980 angelte sich Ferguson den ersten Ligatitel seit 15 Jahren, der nicht von einem der Glasgower Teams Celtic oder Rangers geholt wurde. 1982 holte er den schottischen Pokal und verkündete großmündig, dass seine Ambitionen mit Aberdeen noch nicht einmal zur Hälfte erfüllt seien. 1983 folgte eine Sensation. Und dann noch eine und noch eine.

11:1 fertigte Aberdeen Sion in der Qualifikation ab, um sich für den Wettbewerb des Pokals der Pokalsieger zu qualifizieren. In der ersten Runde gegen Dinamo Tirana gewann man denkbar knapp durch einen 1:0-Heimsieg und ein 0:0 in Albanien. Gegen Lech Poznan in Runde zwei waren es ein 2:0 und ein 1:0. Lösbare Aufgaben, souverän, aber unspektakulär gelöst, möchte man meinen. Wenig deutete darauf hin, dass Fergusons Aberdeen in diesem stark besetzten Turnier eine wichtige Rolle spielen könnte. Doch ab dem Viertelfinale  begann Fergusons Lauf erst.

Aberdeen holte in München gegen den großen FC Bayern ein 0:0. Im Rückspiel gewannen sie mit 3:2 und drehten gleich zwei Mal einen Rückstand. Bayerns Elf beinhaltete damals auch einzelne hochklassige Akteure wie Paul Breitner oder Karl-Heinz Rummenigge.  Aberdeens große Stars: Torwart Jim Leighton, Rechtsaußen Gordon Strachan und natürlich der Trainer, Sir Alex Ferguson.

Der erste Gigant fällt

Das Spiel gegen die Münchner Bayern ist eines von drei Spielen gegen einen waschechten europäischen Giganten im Jahr 1983. Obwohl sie gegen die Elf von Pal Csernai mit die größten Probleme hatten, war das Spiel relativ simpel erklärt und der Fokus in diesem Artikel wird auf den titelentscheidenden Partien dieses Jahres liegen.

Bayerns Defensiv- und Offensivorganisation überzeugt nicht

Die Bayern unter Csernai sind bis heute bekannt dafür, dass sie dem damaligen Trend der Bundesliga zur Abkehr von Manndeckungen zu einem Mischsystem aus Mann- und Raumdeckung, dem sogenannten „U-System“ folgten, der vom damaligen Frankfurter- und später Bayern-Trainer Gyula Lorant begonnen wurde. Nach dessen Entlassung übernahm sein Assistent Pal Csernai den Trainerjob.

Aberdeen vs Bayern - GrundformationenDas U-System klang innovativ und wie eine Mischung aus den Vorteilen der zwei Systeme, war aber keineswegs so überzeugend oder innovativ. Es wurde eher unkompakt und mit Libero gespielt, in Strafraumnähe gab es Manndeckungen, nur weiter vorne wurde raumgedeckt – und auch hier gab es viele Manndeckungen mit Übergeben und zonale Manndeckungen. Diese wiederum waren sicherlich nicht so geplant, sondern von den Spielern improvisiert.

Die Formation lässt sich am ehesten mit einem 1-3-2-4 beschreiben. Auch ohne Bernd Martin, den unterschätzten Bernd Dürnberger und Torwart Jean-Marie Pfaff war die Mannschaft in dieser Partie gut besetzt. Manfred Müller stand im Tor, Augenthaler agierte hinter Grobe als Vorstopper als Libero, Horsmann begann auf links und der nominelle Mitttelfeldspieler Dremmler auf rechts.

Kraus und Breitner bildeten das Mittelfeldtrio, Del’Haye und Karl-Heinz Rummenigge spielten neben Dieter Hoeneß im Sturm. Insbesondere Rummenigge und Breitner galten zu jener Zeit als absolute Weltklasse, auch Udo Horsmann, Klaus Augenthaler und Wolfang Kraus zeigten starke Leistungen in dieser Saison.

Offensiv enttäuschten die Bayern aber im Kollektiv. Viele lange Bälle und individuelle Aktionen dominierten das Geschehen. Besonders die Einbindung von Karl-Heinz Rummenigge, zu jenem Zeitpunkt womöglich der beste europäische Stürmer, war kaum vorhanden und unpassend. Dieter Hoeneß wurde von McLeish verfolgt, seine Effektivität als Zielspieler für die gebolzten Bälle war also geringer. Es war passenderweise ein kurzer Freistoß Breitners 30 Meter weg vom Tor, den Augenthaler nach einem Dribbling per Distanzschuss ins Tor beförderte.

In der Phase danach dominierte Aberdeen das Geschehen.

Aberdeen überrascht mit aggressivem Pressing und Kurzpasskombinationen

Der Kommentator des Spiels sprach davon, dass die Schotten als Markenzeichen ein Pressing in der gegnerischen Hälfte aufziehen und dieses Forechecking zu Beginn dieser Partie vernachlässigt, von den Bayern wiederum überraschend praktiziert wurde. Die Bayern taten dies auch nach der Führung noch eine Weile, mit fortschreitender Spieldauer wurde Aberdeen aber immer aggressiver und presste besser.

Der beidfüßige Weir rückte auf links im Pressing oft heraus, Strachan unterstützte hingegen die zentralen Mittelfeldspieler, um Breitner und Rummenigges Bewegungen besser abdecken zu können. Rummenigges Ausweichräume konnten dadurch besser abgedeckt werden, desweiteren orientierten sich Cooper und speziell Simpson öfter situativ an Breitner. Der Weltmeister von 1974 kam darum kaum in die Partie und seine Läufe durch die Mitte wurden durch die zentrale Präsenz in dieser asymmetrischen 4-3-3-Rollenverteilung kaum eingebunden.

Dieses dem Rückstand verschuldete Pressing tat dem Spiel und Aberdeen gut. Sie kombinierten gegen die tieferen Bayern mehr, bauten aber ihre gut organisierten Halbfeldflanken ebenfalls immer wieder ein und drängten die im ersten Drittel mannorientiert agierenden Münchner mit den Vertikalläufen aus dem zentralen Mittelfeld nach hinten in extrem flache wie unpassende Staffellungen. Sie erzielten letztlich durch den erhöhten Druck auch den Ausgleich.

Auffällig war ihre sehr gute Strafraumbesetzung beim Tor: Eine Flanke vom Strafraumeck auf den zweiten Pfosten führte zu einer Großchance, doch die zwei Spieler dort köpften den Ball nicht ins Tor, sondern am Torwart vorbei vor das Tor. Der Abstauber des fünften im Strafraum und dritten am Fünfmeterraum befindlichen Simpson führte zum 1:1.

Das Spiel beruhigte sich danach nicht mehr, weil beide Mannschaften nun schon situativ in der gegnerischen Hälfte pressten und es mehr offene Räume mit dynamischeren Angriffen gab. Bayern hatte wie zu Beginn des Spiels einige gute Chancen, scheiterte aber öfters an der Strafraumverteidigung Aberdeens.

Bayerns stärkerer Druck führte letztlich zu einem sehenswerten Volleytor per Direktabnahme durch den starken Pflügler, auch wenn dieses Tor ebenfalls ein Distanzschuss aus einer eigentlich unpassenden Situation nach einer geklärten Flanke war. Das Spiel war damit allerdings nicht entschieden: Aberdeen presste abermals höher, Bayern stand aus welchen pseudo-strategischen Gründen auch immer wieder passiver und Ferguson brachte nach der Einwechslung eines offensiveren Außenverteidigers nach über einer Stunde auch in der 76. Minute mit Hewitt einen verkappten Stürmer für Mittelfeldspieler und Torschütze Simpson.

Danach ging es schnell. Beim direkt darauffolgenden Freistoß sah man bereits den Einfluss Fergusons. Gleichzeitig liefen McMaster und Strachan beim Freistoß an und schienen darüber zu streiten, wer ausführen würde. Das Lachen des Kommentators über die vermeintliche Misskommunikation wurde unterbrochen, als beide gemeinsam ausführten und der Ball plötzlich im Tor lag. Innenverteidiger Alex McLeish hatte eingeköpft.

In der folgenden Minute war es der unmittelbar vor dem Standard zwei Minuten zuvor eingewechselte Hewitt, der den Siegtreifer besorgte. Ein Wechsel und ein die Wahrnehmung vernebelnder Standardtrick reichten aus, um in zwei Minuten von 1:2 auf 3:2 zu gehen und das Spiel zu gewinnen. Ferguson eben. Es sollte ja nicht das letzte Mal sein, dass seine Mannschaft einen Rückstand gegen den FC Bayern auf europäischer Ebene mit zwei aufeinanderfolgenden Angriffen dreht.

Im Halbfinale hatten Aberdeen und Ferguson dann nicht mehr das Vergnügen auf einen Favoriten zu treffen, sondern fertigten die belgische Überraschungsmannschaft Waterschei Thor mit 5:1 ab. Die 0:1-Niederlage im Rückspiel bedeutete das erste Gegentor Aberdeens in der Fremde und die letztlich einzige Niederlage im gesamten Wettbewerb.

Die zwei größten Opfer sollten allerdings noch folgen: Das legendäre Real Madrid und Happels HSV.

Raum- und Strategiedominanz beim 2:1n.V. gegen das weiße Ballett

Im Finale des Pokals der Pokalsieger traf Aberdeen auf den Topfavoriten Real Madrid. Mit José Camacho auf der Position des Linksverteidigers, dem argentinischen Weltmeister Américo Gallego als Sechser neben Ulli Stielike, dem legendären Mittelstürmer Santillana und Vereinsidol Juanito auf Rechtsaußen, dessen Geist bis heute Reals Fans in schweren Stunden beschwören.

Strategisch und taktisch gab es direkt drei interessante Unterschiede zwischen Real und Aberdeen zu beobachten:

  • Real ließ sich das Spiel aufdrängen, übernahm also auch auf dem Feld die Favoritenrolle und hatte mehr vom Ball. In Ballbesitz waren sie aber deutlich unstrukturierter und desorganisierter als Aberdeen.
  • Im Gegensatz zu Aberdeen waren die Abstände und Staffelungen bei Real deutlich unsauberer, auf größere Räume ausgerichtet und die Defensivarbeit der Stürmer war überaus situativ, insbesondere vom zentralen Mittelstürmer. Aberdeen hingegen spielte bereits kollektiver und sicherte auch abrückende Bewegungen zum Ball besser ab.
  • Aberdeen spielte grundsätzlich Raumdeckung, in der sie allerdings situativ Manndeckungen übernahmen. Real hingegen agierte grundsätzlich in einer Manndeckung, in der situativ einzelne Spieler in Ermangelung eines Gegenspielers nicht manndeckten.

Diese Unterlegenheit Reals in einzelnen Punkten war letztlich der entscheidende Punkt für die Niederlage.

Aberdeen mit struktureller Überlegenheit in der Offensive

Zwar konnte Real ein paar Mal gut pressen und Aberdeen zu Fehlern zwingen, doch diese Pressingphasen gab es nur vereinzelt. Aberdeen überspielte diese entweder mit intelligenten kleinräumigen Kombinationen und darauffolgenden Seitenwechseln oder direkt mit langen Bällen.

Aberdeen vs Real - GrundformationenDas war interessanterweise der eindrücklichste Unterschied zwischen den beiden Mannschaften. Obwohl Aberdeen deutlich öfter (und für meinen Geschmack zu häufig) lange Bälle nach vorne bolzte, waren ihre Angriffe durchdacht und schienen einem Muster zu folgen. So gab es zahlreiche Verlagerungen von einer Seite auf die andere über zwei oder drei Kurzpässe, woraufhin sofort lange Pässe der Innen- oder tiefen Außenverteidiger entlang des Flügels parallel zur Seitenauslinie folgten. Die ausweichenden Stürmer bewegten sich in diese hinein, die Flügelstürmer hingegen schoben entweder in die Mitte oder blieben breit.

Die Sechser im 4-4-1-1/4-4-2 bewegten sich meist nach vorne und agierten sehr aufrückend, sie konnten auch auf zweite Bälle gehen oder eben die zwei umliegenden Spieler unterstützen. Diese raumüberwindenden Flügellinienpässe sowie Diagonalbälle in die ballfernen Räume auf einen ausweichenden Mittelstürmer waren wohl das häufigste Angriffsmittel Aberdeens. Sie wurden mit lockenden Elementen und guter Zirkulation über mehrere Zonen im ersten und zweiten Drittel hinweg kombiniert, weswegen Aberdeen schwierig zu pressen war und passende Räume zum Schlagen zahlreicher Flanken auf die zwei Stürmer in den Strafraum hatte.

Interessanter waren aber die (vergleichsweise seltenen) Kombinationen im Mittelfeld.  Hier gab es bei Pässen auf die Seite sehr oft direkte Ablagen in die Mitte nach hinten auf einen tieferen Spieler mit mehr Raum und Sichtfeld nach vorne. Meist folgten Vertikalpässe in die Spitze und eine weitere Ablage zur Seite; ein sehr hochwertiger Spielzug, dem man in Guardiolas Positionsspiel ebenfalls beobachten kann und wodurch bei diesen Kombinationen sofort vier Spieler einbezogen und viel Raum in den Halbräumen überwunden werden können.

Dazu kamen einzelne Rochaden; halbrechts und rechts tauschten Strachan und Simpson einige Male situativ die Position, im Sturm gab es dies ebenfalls häufig zwischen den beiden miteinander kreuzenden Stürmern zu sehen. Auffällig war, wie ruhig die Spieler nach Ballverlusten blieben. Sie suchten keineswegs panisch nach einer Möglichkeit auf die eigene Position zurückzukehren, sondern blieben auf der „fremden“ Position und übernahmen die dortigen Aufgaben ohne Probleme. Und: Sie gegenpressten. Das war zwar nicht so extrem wie bei Spitzenteams oder z.B. in der Bundesliga heutzutage, doch deutlich mehr als bei vielen anderen Mannschaften seit den 80ern bis heute.

Mit dieser Intelligenz – trotz Simplizität und Innovationsmangel – hatte Real enorme Probleme. Besonders die Offensive der Madrilenen litt darunter.

Aberdeens Stabilität und Reals verzweifelter Ballbesitz

Auch wenn Aberdeen deutlich mehr und früher bolzte und weniger vom Ball hatte, waren sie keineswegs die spielschwächere Mannschaft. Real konnte partout mit dem eigenen Ballbesitz nichts Konstruktives beginnen. Aberdeens raumorientiertes 4-4-2 war kompakt, Fergusons Team konzentrierte sich vorrangig auf die Besetzung der Mitte und verschob dann sogar ballorientiert auf die Flügel, auch wenn es nicht besonders dynamisch war. Die Grundzüge moderner Taktik und Strategie war aber bereits vorhanden.

Real nutzte Stielike und Gallego im Sechserraum zurückfallend, um von hinten das Aufbauspiel anzukurbeln. Beide schoben auch immer wieder weit nach vorne, insbesondere Stilieke und Angel, der dritte zentrale Mittelfeldspieler, gingen bis ins letzte Spielfelddrittel. Das Durchbrechen der Mitte funktionierte aber nicht. Aberdeen presste teilweise höher im 4-4-2, stand prinzipiell aber in der eigenen Hälfte im 4-4-2 und presste mit den Mittelstürmern rückwärts nach hinten und ließ die beiden Mittelstürmer extrem weit zurückfallen, wenn man an den eigenen Strafraum gedrängt wurde. Kompaktheit pur, zumindest für 80er-Jahre-Verhältnisse.

Das provozierte lange Bälle Reals, denen komplett die Organisation für diese langen Bälle abging. Das einzige Tor Reals – und auch die wenigen Chancen – entstand nach einem Fehlpass Aberdeens zum Torwart aus einer eigentlich absolut harmlosen Situation, wo der schlammige Boden eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Ansonsten war beachtlich, wie gut die Aufgaben bei Aberdeen in der Defensive verteilt und erfüllt werden. Besonders die Rolle des zweiten Stürmers und seine Veränderung im Spielverlauf waren beachtlich.

Aberdeen zwischen 4-4-2, 4-4-1-1 und 4-5-1

Trotz taktischer Unterlegenheit hat Real natürlich die besseren Einzelspieler gehabt. Besonders im Zentrum durch den einrückenden Juanito, Stielike und Gallego sowie den technisch starken Mittelstürmer Santillana gab es gleich vier individuell hervorragende Akteure. Ferguson schien vermutlich auch deswegen eher die Mitte als die gesamte Breite zustellen zu wollen, das 4-4-2 war betont eng. Ballnah wurden Mannorientierungen übernommen, wodurch aus dem 4-4-2 je nach Situation durch das Herausrücken von Außenverteidiger und/oder Flügelstürmer auch asymmetrische 4-3-3-, 3-4-3- und 3-5-2-Staffelungen entstanden.

Im Spielverlauf veränderte sich auch die Rolle der Mittelstürmer merklich. Sie pressten nicht nur intensiver rückwärts und positionierten sich enger an das Mittelfeld; nach der Einwechslung von Hewitt für Torschütze Black spielte Aberdeen auch eher in einem 4-4-1-1/4-5-1 als in einem 4-4-2.

Die Mitte war somit komplett zugesperrt und Real wirkte in der Verlängerung enorm harmlos. Aberdeens Flankenfokus (gepaart mit ein paar interessanten Lupferpässen) sollte sich letztlich auszahlen. Joker Hewitt traf zum 2:1-Siegtreffer. Der fleißige Analyst notiert: Balleroberung auf links von Weier, langer Ball am Flügel entlang in den offenen Raum auf einen ausweichenden Stürmer, der eingewechselte Hewitt im Strafraum köpft ein. Das zwischenzeitliche 1:0 war übrigens ein Standardtor, wo eine Ecke in den Rückraum des Strafraums gespielt und dann vorgeköpft wurde, Black staubte ab.

Mit diesem Sieg qualifizierte sich Aberdeen für den Superpokal. Im Dezember desselben Jahres trafen sie auf den HSV.

“Aberdeen have what money can’t buy; a soul, a team spirit built in a family tradition” – Alfredo Di Stefano nach dem Spiel

Und der nächste Goliath fällt…

Die von Trainerlegende Ernst Happel geführten Hamburger waren zu jener Zeit der amtierende CL-Sieger und für viele eines der besten Teams der 80er. Im Hinspiel in Hamburg konnte sich Aberdeen ein 0:0 erkämpfen, weswegen im Rückspiel kurz vor Weihnachten der HSV einen schweren Stand haben sollte. Ihre Spielweise zeigte trotz einer kleinen Krise zu jenem Zeitpunkt und dem letztlichen Scheitern gegen Aberdeen aber einige beachtliche Aspekte.

Tiefes Mittelfeldpressing, Raumdeckung und Asymmetrie

Die Hamburger starteten in einem asymmetrischen 4-4-2/4-3-3-System. Im Buch „Das große Happel-Fußballbuch“ von Heinz Prüller sprach Ernst Happel von drei grundsätzlichen Strukturen in der Defensivarbeit: Ein System sei das “Pressing” über das ganze Feld bis zum gegnerischen Strafraum, dann das aggressive Forechecking weit in der gegnerischen Hälfte, von ihm meist praktiziert im 4-3-3. Das dritte System sei das passivere und auf konterorientierte Defensivspiel in der eigenen Hälfte, meistens mit einer klaren Sturmspitze und einem verdickten Mittelfeld genutzt. Die Raumdeckung, so Happel, sei aber bei beiden Pflicht. Manndeckung sei was für Esel (außer im eigenen Strafraum).

“Je weiter der Ball vom gegnerischen Spieler entfernt ist, desto mehr spiele ich auf Raumdeckung; je näher der Ball zum gegnerischen Spieler kommt, desto mehr spielt man auf Manndeckung” – Ernst Happel erklärt die mannorientierte Raumdeckung

Aberdeen vs HSV - FormationenDie starke Raumdeckung – mit vielen situativen Manndeckungen, flexiblen Positionierungen und viel Übergeben von Räumen und Gegenspielern – war auch in diesem Spiel zu sehen. Das hohe Pressing fehlte, ebenso wie die klare einzelne Sturmspitze beim tieferen Pressing. Stattdessen positionierte sich Schröder nicht nur häufig vor dem Mittelfeld klar hinter Schatzschneider, sondern agierte sogar oftmals gar vor Schatzschneider im Pressing.

Interessant war aber die Orientierung der beiden in der Arbeit gegen den Ball, wodurch immer wieder die von Happel erwähnten 4-5-1/4-1-4-1-Staffelungen entstanden. Schatzschneider und Schröder pressten situativ diagonal nach hinten auf den linken Außenverteidiger Aberdeens, dessen Raum häufig von Hamburgs Defensivformation freigelassen wurde. Jimmy Hartwig besetzte oft den Halbraum und unterstützte die Mitte, erst nach Pässen auf den Flügel wich er auf die Seite heraus. Rolff auf links hingegen agierte flügelorientierter und die offensive linke Außenbahn wurde in der Defensive eigentlich immer von ihm besetzt.

Schröder und Schatzschneider ließen sich auch immer wieder ins Mittelfeld zurückfallen, wodurch ebenfalls 4-5-1-Staffelungen entstanden. Einige Male ließen sich beide zurückfallen und es gab ein interessantes 4-1-5-0 zu sehen, das aber nicht häufig genug genutzt wurde. An sich war Hamburgs Pressing trotz betonter Passivität als gut zu bewerten, besonders ihre häufig zugeschlagene Abseitsfalle überzeugte und war aller Ehren wert. Insgesamt wirkte der HSV dynamischer und stärker gegen den Ball, doch der Schein sollte trügen. Verantwortlich waren dafür auch die Hamburger selbst.

Kombinationsstärke ohne Kombinationsorientierung

Wenn der Hamburger SV kombinierte, waren sie die klar bessere Mannschaft. Nicht nur taktisch und spielerisch, sondern auch in puncto Erzeugen von Chancen. Sogar enge Räume konnten sie einige Male dynamisch bespielen und durchbrechen. Dazu passten die Bewegungen der Hamburger Spieler. Schröder fiel gelegentlich nach halbrechts zurück, agierte aber vorrangig als Blocker von Schatzschneider. Der Mittelstürmer zeigte sich sehr aktiv, ging immer wieder bis ans Mittelfeld zurück, fungierte als Anspielstation für Ablagen und Vertikalpässe. Einige Male tat er dies auch auf dem Flügel, aber deutlich öfter gab es kleine Dribblings im zweiten Drittel, wo er Räume im Sturm verwaisen lassen und Überzahlen im Zentrum erzeugen wollte. Dasselbe probierten die Flügelstürmer mit ihrem situativen Einrücken.

Auch in der ersten Linie gab es einige interessante Aufbaumuster zu sehen. Groh und Magath ließen sich zwischen Hieronymus und Wehmeyer öfters zurückfallen, besonders der nominelle Spielgestalter Magath ging immer wieder bis vor die Innenverteidiger und holte sich Bälle ab. Hieronymus und Jakobs standen manchmal auf einer Linie oder es rückte einer der beiden bis ins Mittelfeld auf, um aus dem Sechserraum aufzubauen.

Problematisch – und womöglich neben Schröder die Ursache für das Fehlen einer stärkeren noch Kombinationsorientierung – war aber Jimmy Hartwig auf halbrechts. Taktisch erfüllte er zwar seine Hybridrolle passabel, gab situativ auch Breite und versuchte sich in Kombinationen einzubinden, doch spielerisch enttäuschte er komplett. Zahlreiche Fehlpässe sowie einige Ballverluste durch technische Unsauberkeiten oder schlecht gewählte Dribblings sind der von mir vermutete Grund für die verringerte Kombinationsorientierung und einen Linksfokus.

Kaltz‘ Läufe wurden auf links kaum eingebunden, während Wehmeyer schon im ersten Drittel als tief positionierender Außenverteidiger Diagonalpässe in die Mitte spielte und auch bis ins letzte Spielfelddrittel einrückte, entweder Breite gab oder auch situativ diagonal vorderlief. Insgesamt war der HSV von den Bewegungen sehr ansprechend und hatte in diesen einige abstrus gute Kombinationen (im zeitlichen Kontext).

Vereinzelt haben die Abläufe beim Raumöffnen gar an den modernen Basketball erinnert. So ließ sich auf links gerne Mittelstürmer Schatzschneider zurückfallen, einer der beiden zentralen Mittelfeldspieler schiebt vor und wird dann vom Flügelstürmer und dem Außenverteidiger vorder- oder hinterlaufen. Hätte Aberdeen eine klare Manndeckung gespielt, wären sie extrem aufgemacht worden, weil der HSV damit nicht nur Räume öffnete, Anspielstationen kreierte und Zuordnungen durcheinander brachte, sondern auch eine Lokalkompaktheit mit sehr dynamischen Kombinationsmöglichkeiten generierte.

Die Bewegungen und vielen Ablagen Schatzschneiders wurden aber von der damals relativ kompakten und stabilen Raumdeckung Aberdeens isoliert, was zu Verlagerungen auf den Flügeln und zahlreiche Hereingaben in die Mitte führte. Eine stärkere Fokussierung auf Rückpässe, Seitenwechsel oder gar Kombinationsdurchbrüche mit Gegenpressing wäre gegen Aberdeen deutlich effektiver gewesen. Diese überzeugten nämlich mit den klassischen Ferguson-Tugenden – und ein paar intelligenten taktischen Punkten, insbesondere mit einer hochinteressanten Veränderung im Vergleich zum Real-Spiel.

Strachans neue Rolle und formative Veränderung

Aberdeen im Aufbau

Aberdeen im Aufbau

Im Spiel gegen Real wirkte Fergusons Aberdeen zwar sehr gut organisiert, aber doch klassisch britisch: 4-4-2, zwei Stürmer, relativ simpel und flügelorientiert agierende Außenstürmer. Gegen den HSV stellte Ferguson seine Mannschaft allerdings um. Aus dem 4-4-2 wurde ein 4-3-3artiges Gebilde, in welchen einige Aspekte wie im ersten Spiel umgesetzt wurden. Weir gab die Breite, es gab Positionswechsel ganz vorne, vorrangig von McGhee und Hewitt, dazu kamen natürlich viele Flanken und die wie üblich gut organisierten langen Bälle.

Das Pressing selbst war manchmal auch ein 4-4-2, wenn Strachan den Flügel besetzte, doch meistens standen die Schotten in einem 4-3-3 oder gar in einem leicht asymmetrischen 4-5-1. Magath, Groh und die Abwehrkette waren in diesem System beim HSV die wichtigsten Aufbauspieler, konnten aber komplett vom offensiven Zentrum abgeschnürt werden. Nur über Flügelaufbau mit diagonalen Pässen in die Mitte hinein und einzelnen Schnittstellenpässen kam man in den Zwischenlinienraum, welchen Aberdeen mit guter Bewegung, intelligentem situativem herausrücken und zurückfallenden Mittelfeldspielern verschließen konnte.

Deswegen gab es beispielsweise auch kein durchgehendes mannorientiertes Verfolgen der zurückfallenden Bewegungen Schatzschneiders und bei der zentrumsorientierten Formation wurden auch die Außenverteidigers des HSV im Aufbauspiel freigelassen. Strachans enorm weiträumige und herausrückende Rolle sowie die balancierenden Positionswechsel der beiden anderen zentralen Mittelfeldspieler sorgten dafür, dass Strachan häufig auch der tiefste und zentralste Mittelfeldspieler war.

Allerdings standen Aberdeen nicht nur in einem tiefen Mittelfeldpressing, sondern presste einige Male sogar in der gegnerischen Hälften. Nach Ballverlusten gab es häufig Gegenpressing, was durch die beidseitigen Lokalkompaktheiten wegen des ballorientierten Verschiebens und der vielen Flanken und langen Bälle Aberdeens leicht aufzuziehen war.

Aberdeen stellt außerdem die meisten Abstöße des HSV mit einem sehr hohen 4-1-2-3/4-2-1-3 zu. Die Logik dürfte simpel gewesen sein: Beim Zustellen des Abstoßes muss der HSV abschlagen, es gibt meist einen 50:50-Ball und selbst verlorene Kopfballduelle führen wegen der Distanz zum Aberdeener Tor selten zu gefährlichen Angriffen hinter eine höhere Abwehr. Bei einer höheren und organisierteren Zirkulation des HSV presste Aberdeen wegen der erhöhten Instabilität durch die geringere Distanz zum eigenen Tor eben nicht mehr höher, sondern zog sich zurück.

Aberdeen lebte also von der defensiven Stabilität, welche sich zum Beispiel auch anhand der eher zurückhaltenden Außenverteidiger zeigte. Diese wurden aber intelligent eingebunden und abermals überzeugte die simple Struktur Aberdeens im Aufbauspiel trotz vieler langer Bälle.

Aberdeens Offensive: Wieder simpel, wieder effektiv

Das gute Nutzen von Ablagen, Offensivbewegungen, Diagonalpässen und raumüberwindenden Pässen entlang der Seitenauslinie wurde schon in der Analyse gegen Real erwähnt. Die interessante Ausrichtung war aber Strachans neue Rolle, welche im eigenen Aufbauspiel noch auffälliger war als gegen den Ball. Strachan spielte nämlich nicht ansatzweise wie ein Flügelspieler, nicht einmal wie ein eingerückter. Wie in seiner späteren Karriere bei Leeds war er der primäre Aufbauspieler und ein „richtiger“ Sechser, wenn man es so nennen möchte.

Er ließ sich nach hinten fallen, positionierte sich sehr häufig zwischen McLeish oder Miller und dem rechten Außenverteidiger. Ein Großteil der Angriffe Aberdeens wurde von Strachan als tiefstem Mittelfeldspieler aus dem rechten Halbraum eingeleitet. Neben Strachan hatte einzig Miller noch eine fokussierte Rolle mit mehr Verantwortung im Aufbauspiel, McLeish hingegen schien nahezu vor dem Ball zu flüchten. Teilweise entstanden interessante Rauten mit dem Miller, McLeish, Strachan und einem der Sechser, wo Aberdeen sehr gut nach passenden Räumen für die langen Bällen suchen konnte.

Diese Spielweise wirkte sich auch auf die beiden Mittelfeldspieler neben Strachan aus. Sie schoben weit nach vorne, besetzen den Zwischenlinienraum und gingen hinter McGhee oder Hewitt auf die zweiten Bälle. Der Verlust des zweiten Stürmers wurde dadurch dynamischer und mit mehr Defensivstabilität kompensiert. Das gute Pressing der Hamburger wurde sehr gut übersprungen und die offenen Räume der Hamburger Pressingformation in den defensiven Halbräumen wurden intelligent genutzt, um den HSV nicht pressen zu lassen und sauber aufbauen zu können. Die tiefen Außenverteidiger hatten ebenfalls viel Raum, die dank Strachan befreiten Bell und Simpson vorderliefen teilweise die Außenverteidiger weiträumig und starteten diagonal in die Flügelräume.

Am beeindruckendsten waren aber die sehr guten Strafraumbesetzung und –verteidigung, die immer gute abgesichert waren. Bei allen Angriffen hatte Aberdeen eine Vielzahl von Spielern im Strafraum. Beim 1:0 war es eine Balleroberung am Flügel am eigenen Strafraum, bei der Weir entlang des Flügels nach vorne sprintete und in den Strafraum vor das Tor flankte. Dort fanden sich gleich vier Spieler um den Fünfmeterraum des HSV vor undflipperten den Ball ins Tor.

Erinnert uns das an etwas? Im Spiel gegen Real war es ebenfalls ein Konter über links nach einer Balleroberung mit einer Flanke in den Strafraum, welche zum Tor führte. Und das tat man bekanntlich schon gegen den FC Bayern beim 3:2 ebenfalls, ebenso wie die enorme Strafraumpräsenz bei Flanken (beim dritten Tor gar ebenso von links nach einer Balleroberung). Ferguson wird noch dreister: Das zweite Tor war ebenfalls wie gegen Real und Bayern eine Ecke, bei der die Bewegungsmuster und Orientierung in der Wahrnehmung des Gegners bespielt wurden.

Es kam eine sehr scharfe und sich zum Tor hindrehende Flanke auf den Elfmeterpunkt. Zuvor hatten die Aberdeen-Spieler aber den HSV in Richtung Torlinie gedrückt und rückten dann weg vom Tor zur Flanke. Keine erwischte den Ball, doch am zweiten Pfosten stand ein weiterer Aberdeen-Spieler steht am zweiten Pfosten, spielte scharf in die Mitte zurück und Aberdeen traf, bevor der HSV reagieren konnte. Das 2:0 reichte und die Schlussoffensive des HSV brachte keinen Erfolg mehr – Aberdeen kürte sich sensationell gegen den damaligen deutschen Topklub zur besten Mannschaft Europas.

Fazit

Diese Ferguson-Version des Kick and Rush, garniert mit intelligenten, wenn auch seltenen Kombinationen unter Druck und sehr guten Standards war im Verbund mit dem unangenehmen und effektiven Defensivrhythmus zu jener Zeit überaus effektiv. Hamburgs Pressing beispielsweise sorgte zwar für eine gewisse Instabilität in Aberdeens unfokussiertem Ballbesitzspiel, weswegen die vielen langen Bälle sicherlich auch eine Reaktion auf den HSV waren. Gegen Real hingegen waren sie nicht so provoziert, waren aber dank der Organisation und der Manndeckungen der Madrilenen ebenfalls sehr effektiv.

Dazu kamen saubere 4-3-3-Staffelungen gegen den HSV im Defensivspiel bei Aberdeen, gegen Real waren es eher ein 4-4-2 und später ein 4-5-1. Bayern bespielte man mit einer Mischung aus 4-4-2 und 4-3-3. Auch das offensivere Pressing gegen den HSV überraschte und alles in allem war Aberdeen schon in den frühen 80ern taktisch kaum anders  als der heutige englische Fußball. Im Gegenteil: Teilweise, z.B. in puncto Offensivstruktur oder Pressingausrichtung, waren sie sogar schon damals der heutigen Moderne klar überlegen. Der unangenehme Defensivrhythmus erinnerte gar an Argentinien bei der vergangenen WM, war aber durch die Kollektivität stabiler und im Verbund mit der offensiven Effektivität wohl der Hauptpunkt für Aberdeens Erfolg in Europa zu jener Zeit.


Krönung einer Ära – Manchester Uniteds Champions League Triumph 2008

$
0
0

Nachdem Sir Alexander Chapman Ferguson nach 27 Jahren und 38 gewonnen Titeln als Trainer von Manchester United zurückgetreten ist, werfen wir im Rahmen unserer Serie einen verspäteten Blick auf einen der vielen Höhepunkte in seiner Trainerkarriere. United unter Ferguson zwischen 2006 und 2009 gilt zurecht als eines der besten Teams der letzten zwanzig Jahre. 2007/08 spielte United einen wunderbaren Fußball und gewann die Champions League. Ein Überblick über eine kleine Ära.

Mit einem 5:5 bei West Bromwich Albion endete die Karriere von Sir Alex Ferguson bei Manchester United nach unfassbaren 27 Jahren. Der Schotte, der insgesamt 38 Titel mit dem englischen Rekordmeister sammelte, betreute in seiner Laufbahn viele große Spieler, ja sogar Spielergenerationen. Doch welches United-Team war das beste? Die 1999er-Mannschaft, die das Triple holte, hat allein aufgrund ihrer Erfolge einen festen Platz im Ranking der United-Anhänger. Doch auch das Team zwischen 2006 und 2009 war extrem erfolgreich – und spielte hochattraktiven, modernen Fußball. Den Höhepunkt der Ära stellt der Champions League Sieg 2008 in Moskau gegen Chelsea dar. Bevor es dazu kommen konnte, musste sich Ferguson jedoch erstmal einiger Altlasten entledigen und das Spielsystem umstellen. Der Beginn des Umbruchs war die Saison 2006/07.

Drei Jahre ohne Meisterschaft: Sir Alex rüstet auf

Nachdem Manchester United drei Jahre in Folge ohne Meistertitel blieb, führte Ferguson die Red Devils 2006/07 zur Meisterschaft und erreichte das Halbfinale in der Champions League.

Vor der Saison war Ruud van Nistelrooy zu Real Madrid gewechselt – der Beginn einer Umstellung des Spielstils. Um den im Strafraum absolute Weltklasse verkörpernden Neuner van Nistelrooy richtig in Szene zu setzen, war das Spiel in den Jahren zuvor zu flügellastig geworden und auf Hereingaben in den Strafraum fokussiert.

Mit dem Abgang von Van the Man und der Verpflichtung des defensiven Mittelfeldspielers Michael Carrick vom Ligakonkurrenten Tottenham sollte die spielerische Komponente wieder stärker in den Vordergrund rücken. Mit 89 Punkten hatte man zum Saisonende sechs Punkte Vorsprung auf Chelsea. Auffällig war jedoch die Anzahl und die Verteilung der geschossenen Tore. United traf in der Saison 2006/2007 83 Mal ins gegnerische Tor – 19 Mal öfter als der Zweitplatzierte in dieser Kategorie. Wayne Rooney und Cristiano Ronaldo ragten mit 14 bzw. 17 Toren heraus, aber vor allem war bemerkenswert, wie viele Spieler dahinter eine Vielzahl an Toren in dieser Saison erzielten. So traf Louis Saha 8 Mal, Edeljoker Solskjaer 7 Mal, Paul Scholes 6 Mal, Park Ji Sung 5 Mal, Giggs und O´Shea je 4 Mal.

Um auch international wieder ganz oben angreifen zu können, verstärkte Ferguson den Kader zur Saison 2007/08 erheblich. Mit Owen Hargreaves, Anderson, Carlos Tevez und Nani kamen gleich vier Topspieler nach Manchester. Besonders Hargreaves und Tevez sollten dafür sorgen, dass das Spiel der Red Devils noch variabler wurde.

Das variable 4-4-2 war zwischen 2006 und 2009 das Standardsystem unter Sir Alex. Tiefe Sechser waren ebenso ein Merkmal des Teams wie eine sehr fluide Offensive. Je nach Spielsituation und Gegner griff Ferguson auf verschiedene Varianten des 4-4-2 zurück.

Der defensive Flügelspieler im 4-4-2/4-3-3

Gegen Gegner mit offensivstarken Außenverteidigern – zum Beispiel Chelsea mit Ashley Cole oder Barcelona mit Dani Alves – brachte Ferguson in der Regel eine asymmetrische 4-4-2-Formation aufs Feld, die auch zu einem 4-3-3 werden konnte. Laufstarke, disziplinierte und im Defensivzweikampf geschickte Spieler wie Park Ji Sung, Darren Fletcher oder Owen Hargreaves agierten in diesen Spielen als Bewacher des gegnerischen Außenverteidigers. Auf der anderen Seite spielte meistens Ronaldo in einer hohen, zockenden Rolle, wie er es heutzutage auch bei Real Madrid tut.

Uniteds asymmetrisches 4-4-2/4-3-3

Uniteds asymmetrisches 4-4-2/4-3-3

Gegen starke gegnerische Linksverteidiger (Gleiches gilt auch für den anderen Flügel) halfen Park, Fletcher oder Hargreaves dem eigenen Rechtsverteidiger in sehr tiefen Zonen, bei Angriffen über die gegenüberliegende Seite rückten sie weit mit ein. Ronaldo und die beiden Stürmer – in der Regel Rooney und Tevez – standen in diesen Situationen sehr breit, sodass ein 4-3-3 entstand. Ging der gegnerische Linksverteidiger nun nach vorne, konnte Rooney oder Tevez in den Raum hinter ihn ausweichen und sich dort bei Kontern anspielbar machen. Diese Gefahr verleitete offensivstarke Außenverteidiger wie Ashley Cole dazu, erst gar nicht so weit vorzurücken, was auf Kosten der Breite im Angriffsspiel ging. Indem er Fletcher, Park oder Hargreaves in einer Doppelrolle als dritter Sechser und Rechtsaußen brachte, erzwang Ferguson eine Anpassung des Gegners an seine eigene Anpassung.

Verdichtung der Zentrale im 4-4-1-1 und 4-5-1

Gegen im Zentrum stark besetzte Gegner opferte Ferguson oftmals einen seiner Stürmer und brachte stattdessen einen weiteren Mittelfeldspieler. Im Viertelfinale der Champions League 2006/2007 gegen den AS Rom, der zu dieser Zeit ein 4-6-0-ähnliches System unter Luciano Spalletti spielte, wollte Ferguson die Spielfeldmitte stärken und forcierte gleichzeitig schnelle Konter. Er brachte Anderson für Tevez ins Spiel und zog Rooney auf die linke Seite, Cristiano Ronaldo rückte dafür in den Sturm. Mit Rooney und Park auf den Flügeln und Anderson vor Carrick und Scholes hatte United einen sehr kompakten und laufstarken Fünferblock, an dem sich die Roma nicht vorbeikombinieren konnte.

Im Viertelfinalrückspiel gegen den stürmerlosen AS Rom vertraute Ferguson auf ein 4-4-1-1/4-5-1, in dem Ronaldo in der Spitze rückte

Im Viertelfinalrückspiel gegen den stürmerlosen AS Rom vertraute Ferguson auf ein 4-4-1-1/4-5-1, in dem Ronaldo in der Spitze rückte

Im Umschaltspiel nutzten sie Ronaldos ausweichende Bewegungen auf die Flügel, wo er zusammen mit Park, Rooney und Anderson kombinierte und den Teamkollegen Zeit zum Aufrücken gab. Ronaldo orientierte sich im Verlaufe der Angriffe wieder ins Zentrum und setzte seine Kopfballstärke ein. Der Portugiese köpfte nach Flanke des nachgerückten Scholes das 1:0, Rooney erhöhte später auf 2:0 und besiegelte den Halbfinaleinzug.

Fluidität und Offensive pur: Das 4-2-4

Gegen schwächere Gegner schickte Ferguson immer mal wieder vier der fünf Offensivkräfte Rooney, Tevez, Ronaldo, Giggs und Nani aufs Feld. Während Scholes oder Carrick neben einem laufstarken Sechser wie Hargreaves oder Fletcher den Spielaufbau organisierte, drifteten die vier Offensivkräfte frei über das Spielfeld und erzeugten Überladungen. Besonders Ronaldo kam diese Spielweise sehr entgegen, da er nun näher am Tor war und somit häufiger zum Abschluss kam. In der Saison 2007/08 erzielte er in 34 Spielen 31 Tore und wurde Torschützenkönig der Premier League.

Das sehr offensive 4-2-4 kam in der Liga gegen schwächere Teams zum Einsatz. Überladungen, Flexibilität und pure Durchschlagskraft standen hier im Vordergrund

Das sehr offensive 4-2-4 kam in der Liga gegen schwächere Teams zum Einsatz. Überladungen, Flexibilität und pure Durchschlagskraft standen hier im Vordergrund

Er profitierte hier stark von den gut nach hinten arbeitenden Nebenleuten, die ihm die Defensivarbeit abnahmen und ihn so fürs Zocken befreiten. Die vier Stürmer bewegten sich im letzten Drittel oft sehr nah aneinander, wodurch sie nach Ballverlusten in der Regel in guten Ausgangspositionen fürs Gegenpressing standen. United konnte im Aufbau schwache Gegner so regelrecht hinten einschnüren und lange Bälle erzwingen. Diese waren für Ferdinand und Vidic nur in Ausnahmefällen ein Problem, auch für die zweiten Bälle stand Fergusons Elf mit den beiden Sechsern gut gestaffelt. Gegen stärkere Gegner griff Ferguson immer mal wieder auf ein dem 4-2-4 sehr ähnliches System zurück.

Das 4-2-4-0

Gegen Gegner mit starkem Zentrumsfokus ließ Ferguson seine Mannschaft häufig im 4-2-4-0 spielen. Im Gegensatz zum eben beschriebenen 4-2-4 wurden hier jedoch etwas andere Spielertypen benötigt. Auf den Außenbahnen setzte er defensivstarke Spieler wie Hargreaves oder Park ein, auch Rooney hat viele Spieler als defensivstarker Flügelspieler gemacht. Die Abwehrkette stand im 4-2-4-0 nicht besonders tief, dafür zog sich die vorderste Linie sehr weit zurück und wartete an der Mittellinie. Dabei ließ United die gegnerischen Innenverteidiger frei, ähnlich wie es der FC Bayern in der vergangenen Saison gegen den FC Barcelona tat.

Um das Zentrum kompakt zu halten und gleichzeitig Kontergefahr auszustrahlen, spielte United ein 4-2-4-0, das die Innenverteidiger und teilweise auch den tiefsten Sechser des Gegners frei ließ

Um das Zentrum kompakt zu halten und gleichzeitig Kontergefahr auszustrahlen, spielte United ein 4-2-4-0, das die Innenverteidiger und teilweise auch den tiefsten Sechser des Gegners frei ließ

Durch den geringen Abstand zwischen den Linien entstand ein sehr kompakter Block, den sie sehr weit in Richtung des Ballführenden verschoben. Im Vergleich zum 4-4-1-1/4-5-1, das Ferguson gegen spielstarke Gegner ebenfalls nutzte, bot das 4-2-4-0 noch mehr Potenzial für starke Konter. Die vier vordersten und durchweg schnellen Spieler hatten nach Ballgewinn sehr große Räume vor sich und konnten in hohem Tempo auf die gegnerischen Innenverteidiger zulaufen. Die Verteidigung dieser Hochgeschwindigkeitskonter, die häufig auch mit ansehnlichen Direktkombinationen verbunden wurden, war extrem schwierig und ohne Fouls kaum möglich.

Der Höhepunkt der Ära: Das Champions League Finale 2008 in Moskau

Den Höhepunkt der Ära 2006-2009 bildete der Triumph in der Champions League 2008 in Moskau. Wie sie den Rivalen Chelsea vor allem in der ersten Halbzeit dominierten, war exemplarisch für die Fähigkeiten Fergusons, seine Personal-, System- und Strategiewahl an den Gegner anzupassen.

Chelsea spielte unter Interimstrainer Avram Grant das gewohnte 4-3-3. Wegen Personalproblemen musste Essien als Rechtsverteidiger auflaufen, der Rest der Viererkette bestnd aus dem Stammpersonal. Davor agierte Claude Makelele in seiner Paraderolle als löcherstopfender Sechser und Durchlaufstation im Aufbau. Frank Lampard und Michael Ballack agierten als Achter, die situativ in den Zehnerraum oder in die Spitze stoßen sollten. Linksfuß Malouda gab einen klassischen Linksaußen, Joe Cole interpretierte seine Rolle als Rechtsaußen nur leicht enger. Im Sturm war Didier Drogba Zielspieler für lange Bälle und Wandspieler für die Achter.

Die Startaufstellungen im Champions League Finale 2008

Die Startaufstellungen im Champions League Finale 2008

Ferguson wählte gegen die Blues ein asymmetrisches 4-4-2. Vor van der Sar wurden die Innenverteidiger Ferdinand und Vidic von Wes Brown und Patrice Evra flankiert. Paul Scholes und Michael Carrick bildeten davor eine recht tiefe, spielstarke Doppelsechs. Cristiano Ronaldo spielte als linker Mittelfeldspieler deutlich höher als Hargreaves rechts. Die Doppelspitze bildeten Carlos Tevez und Wayne Rooney, wobei Letzterer sich häufig auf den rechten Flügel bewegte.

4-3-3 gegen 4-4-2: Durch den zusätzlichen Mann im Mittelfeld kontrollieren viele Mannschaften im 4-3-3 das Zentrum gegen Gegner im 4-4-2. Manchester United bot jedoch ein Lehrbeispiel dafür, wie man im 4-4-2 das dominante Team sein kann.

Hargreaves gibt Balance und neutralisiert Ashley Cole

In der Mitte waren Scholes und Carrick gegen Ballack, Lampard und Makelele in Unterzahl. Um in diesem wichtigen Bereich dennoch Zugriff zu erhalten, nutzte Ferguson zwei grundlegende taktische Mittel.

Owen Hargreaves spielte eine Hybridrolle aus Rechtsaußen und halbrechtem Achter. Kam Chelsea über die rechte Seite, schob der ehemalige Bayernspieler extrem weit ins Zentrum, sodass eine Dreierkette aus ihm, Scholes und Carrick entstand. Aus dieser rückte der halblinke Akteur – meistens Scholes – heraus, um den Flügel zusammen mit Evra und Ronaldo zu verteidigen.

Baute Chelsea über rechts auf, rückte Hargreaves weit ein. Es entstand eine 4-3-3-Stellung

Baute Chelsea über rechts auf, rückte Hargreaves weit ein. Es entstand eine 4-3-3-Stellung

Bauten die Blues durch die Mitte auf, rückte Hargreaves zwar ein, jedoch in deutlich geringerem Maße als bei den Angriffen über die rechte Seite. Er ließ sich dennoch recht weit fallen und schirmte Ashley Cole somit ab. Dieser hatte nun zwar oft Zeit am Ball, jedoch keinen Raum, den er für seine gefürchteten Vorstöße nutzen konnte. Hargreaves verhielt sich sehr passiv und lockte Cole in schlechte Positionen, aus denen er entweder schlecht vorbereitete und somit ungenaue Flanken schlagen oder den Ball nur die Linie entlang spielen konnte. Darauf war Hargreaves´ Hintermann Wes Brown jedoch vorbereitet: Durch Hargreaves´ Deckungsschatten war Malouda ohnehin kaum anspielbar, sodass Brown auf jene Linienpässe lauern konnte.

Kam Chelsea durch die Mitte, ließ Hargreaves Cole Zeit am Ball, ließ ihm jedoch keine wichtigen Räume. Seine primäre Anspielstation Malouda stellte er gemeinsam mit Hintermann Brown zu

Kam Chelsea durch die Mitte, ließ Hargreaves Cole Zeit am Ball, ließ ihm jedoch keine wichtigen Räume. Seine primäre Anspielstation Malouda stellte er gemeinsam mit Hintermann Brown zu

Baute Chelsea das Spiel über die linke Seite auf, reagierte United auf zwei verschiedene Arten. Hargreaves erwartete in breiter Position auf Höhe der Mittelinie Ashley Cole. Dieser hatte im ersten Drittel Zeit am Ball, konnte aber durch Hargreaves´ Versperren des Raumes kein Tempo aufnehmen. In ausgewählten Momenten wagte United ein Angriffspressing in einer asymmetrischen 4-2-4-Anordnung, bei dem Ronaldo – oder wer gerade links war – etwas tiefer spielte, um Zugriff auf den Zehnerraum zu haben. Hargreaves ging in diesen Situationen sehr weit vor und war nicht selten der höchste Akteur seines Teams und setzte Ashley Cole sofort unter Druck. Dieser riskierte in dieser gefährlichen Zone keine Dribblings und spielte folglich risikolose, ungenaue lange Pässe nach vorne. Chelsea konnte kaum einmal längere Ballbesitzphasen einstreuen, was neben dem variablen Pressing Uniteds noch weitere Gründe hatte.

Erhielt Cole früh im Aufbau den Ball, zog sich Hargreaves weit zurück. In der 4-3-3-Stellung lief Rooney Chelseas Linksverteidiger bogenförmig an

Erhielt Cole früh im Aufbau den Ball, zog sich Hargreaves weit zurück. In der 4-3-3-Stellung lief Rooney Chelseas Linksverteidiger bogenförmig an

Chelseas Probleme im Ballbesitz

Wegen zu großen Abständen zwischen den Spielern, einer schlechten Tiefenstaffelung und geringem Aufrücken waren die Angriffe Chelseas in der ersten Halbzeit sehr leicht zu verteidigen. Manchester hielt die Abstände zwischen den Mannschaftsteilen stets klein, egal in welcher Höhe und Formation sie gerade pressten. Chelsea hatte große Probleme damit, zwischen die Linien zu kommen. Zwischen den kurzen und intensiven Phasen des Angriffspressings zog sich United weiter zurück und formierte sich in einem 4-4-2-0/4-2-4-0, das Chelseas Innenverteidiger und Makelele frei ließ.

Im 4-4-2-0/4-2-4-0 ließ United die Innenverteidiger und Makelele frei. Das Zentrum war somit verstellt, Ballack und Lampard verschwanden in Uniteds zentralem Käfig

Im 4-4-2-0/4-2-4-0 ließ United die Innenverteidiger und Makelele frei. Das Zentrum war somit verstellt, Ballack und Lampard verschwanden in Uniteds zentralem Käfig

Michael Ballack und Frank Lampard waren nun kaum anspielbar, da sie sich ständig in einem Viereck aus Tevez, Rooney, Carrick und Scholes befanden. Für ein Abkippen auf die Flügel rückten die Außenverteidiger nicht weit genug auf. Zudem wäre die Zentrumspräsenz vollkommen verloren gegangen, da Makelele auch nicht mit vorging.

Nur extrem selten trauten sich die Blues, anspruchsvolle, scharfe Vertikalpässe in das gegnerische Zentrumsviereck zu spielen. Einige Male rückte Ricardo Carvalho mit dem Ball am Fuß gut vor, kreierte so veränderte Passwinkel und konnte Lampard oder Ballack anspielen. In der Regel baute Chelsea jedoch über die Außenbahnen auf, wo United aber wie schon beschrieben ständig Überzahlen herstellen konnte. Ein auf die Flügel ausweichender Zehner hätte ihnen hier gut getan, da Ashley Cole und Essien im Prinzip nur ihre direkten Vorderleute Joe Cole und Malouda anspielen konnten. Die Alternative war der lange Ball in die Spitze auf Drogba.

Diesen verteidigte Manchester jedoch exzellent. Nemanja Vidic spielte gegen Drogba sehr mannorientiert und verfolgte ihn auch, wenn er sich mal weiter zurückfallen ließ. Rio Ferdinand agierte dabei einige Meter tiefer und etwas seitlich versetzt. Vidic konnte physisch mit Drogba mithalten, Ferdinand behielt den Raum dahinter gut im Auge. ar nicht so unähnlich praktizierten dies Tymoschchuk und Boateng im Finale 2012 gegen Drogba

Dies war enorm wichtig, da Drogba immer wieder versuchte, lange Anspiele direkt in der Drehung auf die in die Mitte startenden Flügelstürmer durchzustecken. Während Vidic das ohnehin schon schwierige Anspiel durch seine physische Präsenz noch weiter erschwerte, antizipierte Ferdinand die Anspiele und klärte sie zusammen mit dem jeweiligen Außenverteidiger. Drogba konnte den Ball also nie lange halten, was vor allem an den fehlenden Anspielstationen lag.

Chelsea war im Zehnerraum nicht präsent genug, Ballack und Lampard standen im Nirgendwo – also zwischen gegnerischen Stürmern und Sechsern – sodass es für Manchester nicht schwer war, die zweiten Bälle zu gewinnen. Bahnte sich ein langer Pass auf Drogba an, ließ sich Scholes ein paar Meter fallen. Vidic war nah an Drogba, Ferdinand dahinter, Scholes davor und die Außenverteidiger standen naturgemäß eingerückter als Malouda und Joe Cole. United gewann problemlos die zweiten Bälle und dominierte dann über Scholes und Carrick das Tempo. Neben ihren Hochgeschwindigkeitskontern bespielten sie immer wieder die schematischen Schwachstelle in Chelseas System.

Unpassende Anordnung des Dreiermittelfelds

Diese Schwachstellen waren die Halbräume neben Makelele. Diese waren unbesetzt, da Chelsea in einer 1-2-Anordnung im Mittelfeld spielte. Der Gedanke hinter dieser Anordnung war sicherlich, Uniteds Schaltzentrale unter Druck setzen zu können. Nicht trotz, sondern wegen dieser Anordnung konnte Chelsea jedoch keinen Zugriff auf Carrick und Scholes bekommen.

Weil Lampard und Ballack vor Makelele spielten, wurden neben Letzterem Räume frei, in die sich Rooney oder Tevez – in vielen Situationen sogar beide – bewegten. Carvalho und Terry trauten sich nicht, mit aus der Abwehrkette herauszurücken, denn gerade über die rechte Abwehrseite drohte durch Ronaldos Diagonalläufe immer wieder Gefahr.

United nutzte die schematischen Löcher in Chelseas Formation. Tevez und Rooney ließen sich – mal abwechselnd, mal gemeinsam – in die Halbräume neben Makelele fallen und stellten zusammen mit Carrick und Scholes Überzahlen im Zentrum her

United nutzte die schematischen Löcher in Chelseas Formation. Tevez und Rooney ließen sich – mal abwechselnd, mal gemeinsam – in die Halbräume neben Makelele fallen und stellten zusammen mit Carrick und Scholes Überzahlen im Zentrum her

United konnte so im Zentrum mit vier Akteuren Überzahlsituationen gegen Ballack, Lampard und Makelele herstellen, situativ wurden sie dabei zusätzlich von Hargreaves´ einrückenden Bewegungen unterstützt. Für Ballack und Lampard war es unmöglich, gleichzeitig die Passwege in die Räume neben Makelele zuzustellen und Druck auf den Ball zu machen. Scholes und Carrick konnten das Tempo bestimmen, und abwechselnd weiter vorstoßen – da Chelsea keinen Zehner hatte, reichte die einfache Absicherung in diesem Raum völlig aus.

Ein Missmatch verstärkt Uniteds Dominanz

Durch die totale Kontrolle des Zentrums konnte United sehr geduldig auf passende Situationen für den letzten Pass bzw. den Abschluss warten. Mit guter Endverteidigung und einem starken Torwart konnte Chelsea erst einmal ohne Gegentor bleiben, stand jedoch permanent unter Druck. Für das aus United-Sicht erlösende 1:0 sorgte Cristiano Ronaldo, der das Missmatch gegen Essien ausnutzte.

Der positionsfremde Ghanaer hatte nicht nur an der Außenlinie Probleme mit dem schnellen und wendigen Portugiesen – sondern auch in der Luft. Immer wieder suchten Hargreaves und Brown mit ihren Flanken Ronaldos Kopf am langen Pfosten. In der 25. Minute lösten Brown und Scholes nach einem Einwurf am rechten Flügel eine Zwei-gegen-Zwei-Situation gegen Malouda und Lampard. Brown fand mit seiner Flanke Ronaldo, der sich am zweiten Pfosten gegen Essien durchsetzte und zu seinem 42. Pflichspieltor der Saison einköpfte.

Wes Brown wurde in den nächsten Minuten immer mutiger, ging bei jedem Angriff mit nach vorne und schlug Flanke um Flanke auf den langen Pfosten. Um Essien nicht noch einmal ins direkte Kopfballduell mit Ronaldo zu bringen, ließ Carvalho einen großen Abstand zu Nebenmann Terry und orientierte sich in Richtung Ronaldo. Dies nahm zwar etwas die Gefahr durch den Portugiesen, allerdings öffnete es United noch einmal größere Räume. Makelele rückte bei Flanken mit in die Viererkette zwischen Terry und Carvalho, Ballack und Lampard verteidigten den Rückraum allein gegen Scholes, Carrick und einen der Stürmer. United nutzte dies gelegentlich, brach die Flügelangriffe ab und kombinierte sich über die Halbräume in gefährliche Positionen. Zwischenzeitlich hatte die Ferguson-Elf mehr als 65% Ballbesitz und war drückend überlegen – ohne jedoch nachzulegen.

Ferguson lockt Chelsea

Nachdem United gleich mehrfach an Chelseas hervorragender Strafraumverteidigung gescheitert war, beorderte Ferguson sein Team weiter zurück. In einer 4-2-4-0-Stellung lockten sie die Londoner etwas hinten raus und warteten auf passende Situationen für ihre Hochgeschwindigkeitskonter.

Erst in der 33. Minute kam Chelsea zum ersten Mal vor das Tor von United – und traf fast zum Ausgleich. Ballack, der in die Spitze gerückt war, warf sich gemeinsam mit Rio Ferdinand in eine Flanke von Lampard, van der Sar wehrte jedoch zur Ecke ab.

Im Anschluss an Selbige zeigte United einen seiner gefürchteten, für das Team typischen Konter. Rooney, der bei Ecken stets den Rückraum sicherte, eroberte den zweiten Ball und spielte einen diagonalen, 60 Meter langen Traumpass auf Ronaldo. Dieser nutzte sein Tempo, zog bis zur Grundlinie und flankte auf Tevez, der per Kopfball an Cech scheiterte. Terry traf den Ball beim Klären falsch und ermöglichte Carrick eine Schusschance von der Strafraumgrenze, doch Cech hielt abermals.

Auch im weiteren Verlauf konnte Chelsea keine klar ausgespielten Offensivaktionen gegen Uniteds tiefere 4-2-4-0/4-4-2-0-Stellung zeigen. Wurde die erste Pressinglinie einmal überspielt, blieben Rooney und Tevez (oder situativ Ronaldo) trotzdem vor dem Ball. Grund dafür war, dass Chelsea mit zu wenigen Spielern aufrückte. Terry, Carvalho, Makelele und Essien blieben fast permanent hinter dem Ball, sodass den Red Devils ihre beiden Viererketten zum Verteidigen der restlichen Londoner Spieler ausreichte.

Mit dem Halbzeitpfiff erzielte Chelsea genauso überraschend wie kurios den Ausgleichstreffer. Essien nutzte Ronaldos Zocken und rückte diagonal vor. Mangels Alternativen schoss er aus ungünstiger Position aus dem Halbfeld. Der Ball wurde zwei Mal abgefälscht und landete genau im Lauf vom in die Spitze startenden Lampard, der das 1:1 erzielte.

Zweite Halbzeit und Verlängerung

In der zweiten Halbzeit agierte United deutlich zurückhaltender. Da Chelsea ebenfalls wenig Risiken einging, entstand ein Spiel ohne große Höhepunkte. Avram Grant wies seine Flügelstürmer offenbar an, ihre Positionen zu verlassen, um Überzahlsituationen auf der anderen Seite herstellen zu können. Ferguson konterte dies mit einer klareren 4-3-3-Ausrichtung: Hargreaves ging als halbrechter Achter neben Carrick und Scholes ins Mittelfeld, Rooney kümmerte sich um Cole. United konnte dadurch die Breite des Platzes besser abdecken und mindestens einen der zentralen Akteure mit auf die Flügel schicken, wenn Chelsea dort mit mehreren Spielern überladen wollte.

In der 87. Minute nahm Ferguson den ersten Wechsel des Spiels vor und brachte Ryan Giggs für den angeschlagenen Paul Scholes. Grant wechselte erst in der Verlängerung und brachte mit Kalou und Anelka zwei frische Flügelstürmer für Joe Cole und Malouda. Zehn Minuten vor Schluss kam Nani für Rooney ins Spiel, um mit seiner Beweglichkeit noch einmal für Probleme bei den erschöpften Abwehrspielern zu sorgen. Unmittelbar vorm Elfmeterschießen brachten beide Trainer noch je einen guten Elfmeterschützen ins Spiel, bei Chelsea kam Beletti für Makelele, während Ferguson Anderson für Brown aufs Feld schickte.

Im Elfmeterschießen schien Ronaldo der tragische Held zu werden, nachdem er als einziger der ersten acht Schützen verschossen hatte. Nani verwandelte Uniteds fünften Elfmeter und glich aus, bevor John Terry zum Punkt schritt. Der Kapitän der Blues konnte den Sieg perfekt machen, verlud van der Sar, rutschte dabei jedoch aus – Pfosten. Nachdem Anderson, Kalou und Giggs im Stechen getroffen hatten, hielt van der Sar gegen Anelka und bescherte United den Sieg in der Königsklasse. Nach dem Triple von 1999 war der Titelgewinn Fergusons zweiter großer internationaler Triumph mit United. Es war der Höhepunkt einer kleinen Ära, die aber noch ein weiteres Jahr andauern sollte. In der folgenden Saison gewann United unter Ferguson die Klub-WM und bekam die Chance, als erste Mannschaft überhaupt den Champions League Titel zu verteidigen.

Die Saison 2008/09

Dafür erhöhte Sir Alex zur Saison 2008/09 noch einmal den Konkurrenzkampf und holte Dimitar Berbatov von Tottenham. Der Bulgare brachte zusätzlich zu den schnellen, beweglichen Stürmern die spielmachende Komponente mit ein und machte das Spiel der Red Devils noch variabler.

Manchester United holte in dieser Saison die dritte Meisterschaft in Folge und zog mit dem damaligen Rekordmeister Liverpool gleich. Im Winter gewann United die Klub-WM in Japan. Im Halbfinale schlugen sie Gamba Osaka 5:3 und holten den Titel im anschließenden Finale mit einem 1:0 über den ecuardorianischen Vertreter LDU Quito.

In der Champions League lief der Start äußerst schleppend. In einer vermeintlich einfachen Gruppe mit Aalborg, Villareal und Celtic Glasgow wurde United zwar Gruppensieger, gewann aber lediglich zwei Spiele.

In der K.O.-Runde fing sich das Team jedoch wieder und schaltete Inter Mailand, den FC Porto, und den FC Arsenal aus. Im Finale gegen den FC Barcelona stieß Fergusons Team jedoch an seine Grenzen und verlor mit 0:2.

2009 verpasste United die Titelverteidigung gegen den FC Barcelona

2009 verpasste United die Titelverteidigung gegen den FC Barcelona

Gegen die Katalanen hatte Ferguson sein Team im 4-4-1-1 aufgestellt, das zu einem 4-5-1 wurde, wenn Anderson zurückfiel. Mit Rooney und Park Ji Sung besetzte Ferguson die Außenbahn sehr defensivstark, um Barcelonas Flügelspiel zu bremsen. Das Defensivtrio hinter Ronaldo sollte Xavi, Busquets und Iniesta bändigen, sah sich aber überraschenderweise einem weiteren Gegenspieler gegenüber. Pep Guardiola zog Mittelstürmer Samuel Eto´o auf die rechte Außenbahn und stellte Messi als falsche Neun auf. Schon während der Saison hatte Guardiola diese Variante gegen Real Madrid mit Erfolg ausprobiert. Während heutzutage einige Mittel gegen die falsche Neun bewährt haben, gelang es United damals nicht, Zugriff auf Messi zu erhalten.

Durch die hergestellte Überzahl im Zentrum konnte Barca sich immer wieder zwischen die Linien kombinieren und für Torgefahr sorgen. Guardiolas Umstellung machte sich bezahlt, Eto´o traf aus Rechtsaußenposition und Messi stellte mit seinem Kopfballtor aus Mittelstürmerposition den Endstand her.

We got into good positions but in fairness we were beaten by the better team“

Sir Alex Ferguson nach dem Champions League Finale 2009

Nach der titelreichen Saison mit dem Gewinn des Community Shields, des Liga Pokals, der Klub-WM und der Meisterschaft verließ Cristiano Ronaldo den Verein für eine Rekordablöse von ca. 93 Millionen Euro und schloss sich Real Madrid an. Auch Carlos Tevez ging, nachdem man sich nicht auf einen neuen Vertrag einigen konnte.

Mit Ronaldo und Tevez fehlten zwei für Uniteds Spielweise unersetzliche Akteure, was gleichbedeutend mit dem Ende einer kleinen Ära war. Sir Alex Ferguson begann damit, den nächsten Umbruch einzuläuten, an die Klasse des Teams zwischen 2006 und 2009 kamen seine Mannschaften in den letzten Jahren aber einfach nicht mehr heran.

Sir Alex, der Unterschätzte

Fergusons Manchester United zwischen 2006 und 2009 gilt zurecht als eines der stärksten Teams der vergangenen zwanzig Jahre. Besonders die Saison 2007/08 mit dem Triumph in der Champions League stach heraus. Sir Alex wird häufig mit einem sturen, kaugummikauenden, sich mit Stars anlegenden Trainer alter Schule assoziiert. Betrachtet man allerdings Uniteds taktische Variabilität in der beschriebenen Ära, sieht man, wie passend der Schotte makro- und mikrotaktische Anpassungen an den Gegner vornahm und welchen Erfolg er damit hatte.

Als „modern“ geltende taktische Aspekte wie Asymmetrien, verschiedene Pressingformationen, -höhen und -intensitäten, situative und permanente Manndeckungen, Überladungen, inverse, ausweichende oder gar falsche falsche Stürmer hat Sir Alex schon vor Jahren je nach Situation genutzt. Ihn nicht zu der Riege der großen Taktiker der Trainergilde zu zählen, hat sich offenbar unter vielen Fußballfans und -experten eingebürgert, wird dem United-Urgestein in Ruhestand aber nicht wirklich gerecht.

Fergusons brutales 3-4-4

$
0
0

Am 28. August 2011 kassierte der Arsenal FC seine höchste Niederlage seit über hundert Jahren. Das Spiel kündigte einen taktischen Trend an und war eines der strategischen Meisterstücke von Sir Alex Ferguson. Möglicherweise wurde nie zuvor ein spielmachender Torwart so konsequent und effizient eingebunden wie in Manchester Uniteds 3-4-4-System.

Die Mannschaften von Sir Alex Ferguson waren bekannt für defensive Stabilität, schnelles Umschalten und eher individuelle Fähigkeiten als augenscheinliche taktische Stärke. Der Arsenal FC galt und gilt häufig als Gegenentwurf zum reaktiven Individualistenfußball. Doch Ferguson konnte auch anders. Bei seinem größten Sieg über Wenger war seine Mannschaft taktisch weit überlegen, hatte mehr Ballbesitz und überzeugte mit extrem aktivem, offensiven Fußball. Die offensive Herangehensweise wurde dabei konsequent auf dem ganzen Feld durchgedrückt, bis ganz nach hinten. Dort machte Edwin van der Saars Nachfolger David de Gea eine außergewöhnliche Partie als spielmachender Keeper in einer Torwartkette.

Die Torwartkette und das 3-4-4

Manchester United 3-4-4

Grundsystem von Manchester bei Ballbesitz, wenn Arsenal relativ hoch stand.

Dabei nutzte Ferguson die Torwartkette etwas anders als man das mittlerweile fast gewohnt ist. Meist wird sie zur Sicherung der Ballzirkulation genutzt und die Innenverteidiger formieren sich gut erreichbar zu beiden Strafraumseiten. Bei United wurde sie eher lockend genutzt und um David de Gea konsequent einzubinden. Dafür positionierte sich Jones auch gezielt breiter als Evans, wodurch sich de Gea sich bei Bedarf etwas nach rechts schieben konnte, sodass er das Spielfeld „vor“ seinem starken, rechten Fuß hatte.

Der wichtigste Unterschied war jedoch die strategische Basis: Normalerweise ist die Torwartkette eine Maßnahme von dominanten, ruhig aufbauenden Mannschaften und damit Teil der kollektiven Ball- und Spielkontrolle. Ferguson nutzte sie in einer extrem offensiven Elf, deren Fokus vor allem auf Durchschlagskraft lag. Insofern war ihr Ziel weniger die eigene Kontrolle, sondern sie sollte vor allem dafür sorgen, dass man für den Gegner noch unkontrollierbar wurde.

Dementsprechend wurde die Torwartkette gar nicht mal besonders oft und (schematisch) besonders sauber genutzt. Zu Zirkulationszwecken bildeten Evans, de Gea und Jones eher ein breites Dreieck. Erst wenn sich Arsenal zu aggressiverem Pressing entschloss, reagierten die beiden Innenverteidiger – sehr früh – mit ihrer sehr breiten Rückzugsbewegung und öffneten de Gea somit Räume für eröffnende lange Bälle.

Typisch Ferguson könnte man sagen: Sehr konsequente, strategische und individuelle Einbindung eines Kniffs, der sonst hauptsächlich taktisch und schematisch genutzt wird. Ebenso typisch Ferguson war, dass das 3-4-4 gut auf den Gegner angepasst war und auch in den Folgespielzügen extrem konsequent durchgedrückt wurde.

Schematische Überrumpelung

So bespielte die 3-4-4-Ordnung die Raumaufteilung von Arsenals 4-3-3 und ebenso die Pressing-Organisation von Wengers Mannschaft, die in dieser Phase besonders lasch und improvisiert war. Wenn die Gunners versuchten Druck zu machen, rückten nur einzelne Spieler aus der 4-1-4-1-Grundordnung mannorientiert heraus und die Mannschaft reagierte darauf völlig unabgestimmt. Zudem hatte die Mannschaft kein Gefühl für Kompaktheit und ließ sich von der extrem breiten Stellung Manchesters arg außeinanderziehen.

Sprich: Robin van Persie wurde im Pressing gegen die Torwartkette nicht aus dem Zentrum unterstützt, da Ramsey und Rosicky lose mannorientiert an Manchesters Doppelsechs hingen. Wenn Unterstützung von den Flügeln kam, wurde nicht vernünftig nachgeschoben. So entstanden große Räume zwischen den Außenstürmern und den Außenverteidigern, wo dann Manchesters Außenverteidiger auch noch völlig frei waren. Gleichzeitig waren die Halbräume neben Coquelin offen. Und das wurde vereinzelt auch noch mit einer hohen Linie verbunden, die entsprechend einfach bespielbar war und gegen Manchesters vier Angreifer keine Überzahl hatte.

Min12 A

Bilderbuchhaftes Beispiel für die Wirkweise der ManU-Torwartkette. Arshavin schiebt auf Jones, de Gea spielt Smalling sauber im Raum dahinter an. Trotz eines intensiven Rückwärtssprints bekommt Arshavin keinen Zugriff mehr. Vermutung: Jones spielte bewusst breiter um Arshavin ins Pressing zu locken; der Russe agierte jedenfalls deutlich aggressiver, aber auch inkonstanter als Walcott. Bemerkenswert auch, wie Evans den Ball gut gewichtet auf de Geas rechten Fuß in den Lauf spielt, sodass dieser schon das Sichtfeld auf Smalling geöffnet bekommt und den Pass flott umsetzen kann.

Normalerweise sind derartige Probleme und Freiräume nicht so dramatisch, solange der Ball weit genug entfernt ist. Die Zeit, die die angreifende Mannschaft benötigt, um hineinzukommen, kann man nutzen, um die Lücken oder wenigstens die Verbindungsräume zuzuschieben. Neben Arsenals mangelhafter und mannorientierter Organisation war das aber schon wegen de Gea nur schwer möglich. Der hochbegabte spanische Schlussmann zeigte tolle spielmachende Fähigkeiten und machte weit entfernte Räume mit seinen sehr präzisen und gut zu verarbeitenden langen Bällen nutzbar. Man könnte sagen, dass Fergusons Mannschaft auf diese Weise die grundsätzliche Raumlogik des Fußballs veränderte.

Raumgreifend bis ans Limit

Diese Fähigkeit wurde dann in typischer Fergie-Manier mit aller Gewalt ausgeschlachtet. Durch die sehr hohe Grundposition der Außenverteidiger waren weite Verlagerungen immer möglich. Auch Nani und Young positionierten sich oft an der Seitenlinie und konnten Arsenals Abwehrlinie bestrafen, wenn diese versuchte, sich kompakt vor dem Strafraum zu formieren. Zudem gab es vereinzelt ausweichende Bewegungen von Rooney.

Hier die schematischen Freiräume in Arsenals gestreckter Defensivformation. Man könnte aber auch sagen: Hier die Struktur der von United bespielten Offensivräume. Beides ist absolut gleichbedeutend.

Hier die schematischen Freiräume in Arsenals gestreckter Defensivformation. Man könnte aber auch sagen: Hier die Struktur der von United bespielten Offensivräume. Beides ist absolut gleichbedeutend.

Auch die Doppelsechs unterstützte die irrsinnig raumgreifende Spielweise. Anderson und Cleverley agierten über das ganze Feld raumsuchend. Beide spielten sehr freie box-2-box-Rollen – im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn sich Freiräume im Zentrum auftaten, attackierten sie diese mit kombinativen Vorstößen bis in den Strafraum hinein, auf der anderen Seite kippten sie oft zwischen die Innenverteidiger. Es gab sogar Situationen, wo sich beide zurückfallen ließen. Dann formierte United quasi ein riesiges Quadrat um Arsenals Pressingformation.

Das Problem für Arsenal war natürlich, dass sie das Zentrum nicht in gleicher Weise aufgeben konnten. Dennoch ließen sie sich immer wieder weit strecken und Manchesters Spieler rückten dann von allen Seiten in die Lücken. Vor allem Rooney hatte als zurückfallender Stürmer sehr viel Präsenz im Raum hinter Ramsey. Auch Young zeigte horizontale Läufe in die Halbraumlücken, von wo er auch zwei Distanzschüsse versenkte.

Kollektiv brutaler Angriffsrhythmus

Entscheidend für die letztliche Effizienz war auch die hervorragende Abstimmung und Konsequenz im Ausspielen der großen Räume. Cleverley, Anderson und Rooney verteilten die Bälle aus dem Zentrum sehr weiträumig und druckvoll und fanden dabei zuverlässig die Option mit dem meisten Raum. Wenn sie selber innerhalb des Zentrums viel Raum hatten, nutzten sie diesen für klare Kombinationen. So agierten sie konstruktiv und kreativ, ohne dabei zu verspielt zu werden.

So wurden in der Folge auch die individuellen und athletischen Vorteile der Manchester-Angriffsspieler fokussiert eingebunden. Durch den druckvollen Rhythmus wurde verhindert, dass Nani und Co. gedoppelt werden konnten. Dieses Problem wurde dann fokussiert aufgedeckt, da auch der Übergang in Dribblings prompt und druckvoll geschah und von den umliegenden Bewegungen gut unterstützt wurde. So wurde umgekehrt wiederum die Klarheit des Offensivspiels durch diese eher simplen Einzelaktionen unterstützt.

Min12 B

Folgesituation der obigen Aufbauszene in der Dreierkette.

Hinzu kam die übliche Zielstrebigkeit von Ferguson-Teams. Alle Aktionen waren von einem klaren Zug in den Strafraum geprägt. Wenn es die Möglichkeit zu Durchbrüchen vor das Tor gab, wurden die Strafraumzonen gut abgestimmt, dynamisch besetzt und sehr entschlossen angespielt. Die Permanenz, Simplizität und Eindeutigkeit in Manchesters Tororientiertheit erleichterte die Abstimmung und sorgte auch taktikpsychologisch dafür, dass United eine viel größere Grundintensität entwickelte als Arsenal. Wengers Elf wirkte neben den entfesselt attackierenden Hausherren völlig lethargisch und verunsichert.

Die Großräumigkeit und Aggressivität prägte Manchester auch, wenn sie aus höherer Grundstellung angriffen, nicht nur beim Aufbau aus der Torwartkette. So half es den Gunners auch nicht, wenn sie sich mal phasenweise etwas zurückzogen wie zu Beginn der zweiten Halbzeit. Sie wurden von den Red Devils förmlich überrannt. Vor allem in der Phase um die 60. Minute – vor den Toren vier bis sechs – wurde Arsenal komplett an die Wand genagelt und United kam zu Großchancen im Minutentakt.

Absicherung nicht notwendig

Neben der permanenten Durchschlagskraft hatte der straffe Rhythmus eine vielleicht noch wichtigere zweite Auswirkung: Arsenal war kaum einmal in der Lage, den Ball kontrolliert zu erobern. Sehr oft scheiterten Manchesters Angriffe erst im Strafraum an unkontrollierten Klärungsaktionen und wenn sie eher unterbrochen wurden, dann meist unsauber und häufig am Flügel.

Dadurch verhinderten die Red Devils, dass sie gegen Walcott und Co. in Konter liefen. Wieder drehte Fergie ein bisschen die Spiellogik um: Wo andere durch zurückhaltendes Aufrücken oder dichte Strukturen dafür sorgen, dass man im Moment des Ballverlusts gut abgesichert ist, lässt er genau das Gegenteil praktizieren. Durch extrem aggressives Aufrücken und weiträumige Strukturen wird zwar die Absicherung fast aufgegeben, aber dafür wird die Anzahl der relevanten Ballverluste auf ein Minimum reduziert. Arges Querdenkertum.

Darüber hinaus war die Ausrichtung der Defensive sehr passend, wenn es doch einmal Konter gab. Das passierte in dieser Partie sehr selten, doch zeigte sich generell in dieser Saisonphase. Die Abwehrreihe fokussierte sich sehr darauf, nicht direkt überspielt zu werden und die gegnerischen Konter vor allem zu entschleunigen, um klare Durchbrüche und Großchancen zu verhindern. Im besten Fall konnte sich das Mittelfeld dann zurückziehen und die defensive Kompaktheit herstellen oder der Gegner blieb mit überhasteten Versuchen in der Rückzugsbewegung hängen. Im schlechtesten Fall wurde der Gegner zu vorhersehbaren Abschlüssen durch die Schnittstellen gedrängt. Diese Passivität nutzte United auch bei kompakten Defensivszenen.

So kassierte Manchester in dieser Phase auch extrem viele Distanzschüsse. Was zuweilen so interpretiert wurde, dass die Gegner bewusst versuchten, den unerfahrenen de Gea zu „testen“, war eigentlich ein geplanter Teil von Fergusons Strategie. (Und natürlich ist der weitgehend unterschätzte de Gea der statistisch wohl beste Torwart der Premier League beim Parieren von Schüssen.) Dieser Fokus auf die gegnerische Chancenqualität funktionierte ziemlich gut. Im folgenden Spiel wurden zum Beispiel die Bolton Wanderers mit 0:5 geschlagen – und diese hatten dabei einen Schussvorteil von 22:14!

Desinteressiertes Defensivsystem deckt Arsenals Schwächen auf

Auch Arsenal hatte gelegentlich Ballbesitz. Kommt es mir nur so vor, oder sieht das auf den ersten Blick weniger durchschlagskräftig aus als die Grafik von ManU?

Auch Arsenal hatte gelegentlich Ballbesitz. Kommt es mir nur so vor, oder sieht das auf den ersten Blick weniger durchschlagskräftig aus als die Grafik von ManU?

Dennoch: Bei allem Offensivfokus und zwei Gegentoren – plus einem verschossenen Elfmeter – liegt nahe, dass United in dieser Partie defensiv durchaus Schwächen hatte. Bezüglich der Intensität stimmt das ohne Zweifel. Abgesehen von vereinzelten Mittelfeldpressing-Szenen, in denen Rooney mit leitenden Aktionen den Arsenal-Aufbau über Coquelin und Ramsey effizient erschwerte, verhielt sich Manchester sehr simpel und zurückhaltend gegen den Ball.

So konnte Arsenal relativ problemlos bis an das Angriffsdrittel von Manchester heranspielen. Dort wurden aber die strukturellen Probleme von Wengers Elf aufgedeckt. Mit simplen, losen Mannorientierungen verhinderte Manchester Überladungen und Dribblingversuche wurden durch die Grundpassivität abgebremst.

Arsenal kam daher trotz technisch starken Personals und einem nominell ganz interessanten Fokus’ auf den linken Halbraum kaum zu Durchbrüchen. Walcott und van Persie konnten kaum eingebunden werden. Bei direkteren Angriffen zeigte sich dabei auch eine passende Rollenverteilung innerhalb der United-Viererkette: Evans rückte gegen van Persie – der natürlich vor allem halbrechts zurückfiel – heraus und Jones sicherte mit seinem großen Tempo den Raum.

Mit individuellen Ideen oder nach Pingpong-Situationen – das 1:3 entstand aus einem tölpelhaften Befreiungsschlag Evras – konnte Arsenal dann zwar aus der Offensivpräsenz Kapital schlagen, aber sie waren nie in der Lage diese Szenen so fokussiert zu erzwingen wie Manchester. Neben der Zielstrebigkeit und eines kollektiven Rhythmus’ fehlte vor allem die Fähigkeit, sich gezielt entscheidende Feldvorteile zu erspielen; etwas, dass bei Manchester schon mit dem Torwart anfing und auf allen Positionen konsequent fortgesetzt wurde.

Historische Einordnung schwierig

Trotz der durchschlagenden Erfolge von Manchester United in dieser brutal offensiven Systematik, wurde dieses System nicht konsequent konserviert. Woran das lag, ist schwer zu sagen, vermutlich eine Mischung mehrerer Faktoren: Die grundsätzliche Instabilität gegen den Ball, das Verglühen des Überraschungsfaktors, die Limitiertheit in gruppentaktischen Aspekten, weniger passende Gegner und die Rückkehr diverser älterer Spieler, die weniger gut in dieses System passten und besser in ein ruhigeres, strategischeres mit niedrigeren athletischen Anforderungen. Immerhin basierte dieses wilde System auch auf einer „wilden“ Besetzung: Außer Evra waren alle Akteure jenseits der Offensive jünger als 24 Jahre.

Ich hatte damals die Theorie, dass dieses System eine Reaktion Fergusons auf die (erneute) klare Niederlage gegen Pep Guardiolas FC Barcelona im Champions-League-Finale der Vorsaison gewesen sein könnte. Die extrem offensive, raumgreifende Spielweise wäre vielleicht das Gegengift gegen die Guardiola-Dominanz gewesen. Leider trafen die beiden Koryphäen kein weiteres Mal aufeinander.

Was bleibt sind ein paar Spiele einer Mannschaft, die so offensiv spielte, wie man es eigentlich nicht tun darf, und die damit zumindest einen sensationellen Sieg feierte. Dass Ferguson ein Jahr vor seinem Rücktritt und nach etlichen Jahren des Erfolges noch solch eine irre Elf aus dem Boden stampft, dokumentiert viele der Dinge, die den Sir ausgemacht haben. Vor allem zeigt es, dass Ferguson bedeutend visionärer, unorthodoxer und taktisch außergewöhnlicher war als es sein Image war und ist.

Die Torwarkette selber hat Ferguson wohl nicht erfunden, doch sie hat sich erst in den folgenden Jahren breitflächiger etabliert, ist weiterhin nicht der Standard und wurde bisher wohl kein zweites Mal in dieser Konsequenz genutzt. Das liegt auch daran, dass sich das 4-1-3-2 als intuitives Gegenrezept zur „normalen“ Torwartkette festgesetzt hat. Hier ein paar Beispiele von mehr oder weniger effektiven Torwartketten:
http://spielverlagerung.de/2013/06/27/italien-spanien-24-u21-em-finale/
http://spielverlagerung.de/2012/06/17/deutschland-danemark-21/
http://spielverlagerung.de/2014/06/17/deutschland-portugal-40/
http://spielverlagerung.de/2014/06/19/spanien-chile-02/
http://spielverlagerung.de/2014/05/22/bayern-munchen-real-madrid-04-in-depth-szenenanalyse-des-madrilenischen-pressings/

Diego “Cholo” Simeone – Der Leidenschaftliche | Teil 1

$
0
0

Die Welttrainerwahl steht an und der Nachfolger von Jupp Heynckes wird ausgezeichnet. Carlo Ancelotti wurde bei uns bereits porträtiert. Ein guter Zeitpunkt, um nun ein Porträt von Diego Pablo Simeone zu starten. 

“Wenn du dich mit Cholo Simeone unterhältst, dann sagt er dir […]: ‘Als Fußballspieler habe ich das Maximum aus meinen begrenzten Möglichkeiten herausgeholt. Und weißt du, warum? Weil ich Leidenschaft habe. Wie hätte ich bei meinem Spielniveau hundert Spiele für Argentinien machen können! Als Spieler war ich Mittelmaß. Alles, was ich erreicht habe, verdanke ich meiner Leidenschaft.'” (Lorenzo Buenaventura, Fitnesstrainer des FC Bayern, zitiert nach: Martí Perarnau, Herr Guardiola. Das erste Jahr mit Bayern München, aus dem Spanischen von Lea Rachwitz und Hans-Joachim Hartstein, 2014.)

2015-01-12_Argentinien-Niederlande_1978_Grundformation

WM-Finale 1978, Argentinien – Niederlande 3:1 n.V:

Das Vorbild

Die frühe Nachkriegszeit war für den argentinischen Fußball keine erfolgreiche. Die Albiceleste qualifizierte sich entweder gar nicht erst, wie 1970 oder schied mehrmals in der Vorrunde aus. Obwohl zumindest Klubs wie CA Independiente, Estudiantes de La Plata und Boca Juniors in den 1960er und 1970er Jahren reihenweise die Copa Libertadores gewannen, war der argentinischen Militärjunta daran gelegen, die Weltmeisterschaft 1978 im eigenen Land erfolgreich zu gestalten. Bis heute wird dieses Nationenturnier enorm kritisch gesehen. Vor allem mit dem 6:0-Sieg über Peru, als der gebürtige Argentinier Ramón Quiroga im peruanischen Tor eine unglückliche Figur abgab und sich das Gastgeberteam in der Gruppe doch noch an Brasilien vorbeischob, werden häufig Bestechungsvorwürfe verbunden. 35000 Tonnen Weizen sollen an Peru geliefert worden sein. Doch von all dem abgesehen, hatte Argentinien eine starke Mannschaft zusammen. Neben Mario Kempes stach vor allem “El gran Capitan” Daniel Passarella hervor. Der damals achtjährige Simeone bewunderte den offensiven Verteidiger, der mit seiner Dynamik in die Mittelfeldzonen vorstieß und die gegnerischen Mittelfeldreihen vor große Herausforderungen stellte, da er Kempes und Co. mehr Freiräume ermöglichte.

“Ich war auf alles fixiert. Die Gesichter der Spieler. Auf jedes Detail. […] Ich mochte vor allem Passarella, weil ich immer Menschen mit Persönlichkeit bewundere und mag. Du kannst einen Anführer daran erkennen, wie er geht. Du kannst es darin sehen, wie er sich bewegt. Diese Bilder von Passarella 1978, dem Kapitän, als er aus dem Spielertunnel kam und es Konfetti regnete.” (Diego Simeone)

Doch so sehr der junge Simeone von Passarella begeistert war. Er entwickelte sich später doch mehr zu einem Osvaldo Ardilles. Zwanzig Jahre nach der WM im eigenen Land sollten Passarella und Simeone zusammenkommen. Beim Turnier 1998 in Frankreich war das Vorbild Nationaltrainer der Albiceleste und der Mittelfeldmotor im besten Alter war sein Kapitän. Bei dieser WM sollte Simeone nicht nur durch sportliche Leistungen auf sich aufmerksam machen. Die Auseinandersetzung mit David Beckham im Achtelfinale führte zur Roten Karte für den Jungstar von Manchester United, der schwere Kritik in England einstecken musste. Im Viertelfinale verletzte sich Simeone. Argentinien schied aus.

2015-01-12_Argentinien-Niederlande_1998_Grundformation

WM-Viertelfinale 1998, Argentinien – Niederlande 1:2

Bis jedoch der in Buenos Aires gebürtige solch eine wichtige Rolle für das Heimatland einnehmen konnte, war es ein weiter Weg, der von der Obsession für den Fußball geprägt war. Simeone beschreibt sich selbst als Jugendlicher, der keinen Plan B hatte, der stets Fußballer werden wollte. Wie bei vielen anderen ging es schon in jungen Jahren sofort nach der Schule auf den Platz – sprich auf einen Hof, wo Bäume die Tore und die Regeln unbekannt waren.

Die Laufbahn

Allerdings war der harte Straßenfußball nur eine prägende Komponente. Denn Simeone hatte Talent, genügend Talent, um bei den Jugendmannschaften von Vélez Sársfield, der in Liniers im Westen von Buenos Aires angesiedelt ist, unterzukommen. Das erste Ziel war es, im El Fortín, dem Tempel von Vélez Sársfield aufzulaufen. Simeone trainierte beispielsweise unter dem legendären Victorio Spinetto, der ihm den bis heute bekannten Spitznamen “Cholo” verpasste. Denn Diego Simeone erinnerte an die aggressive Verteidigerlegende von Vélez Sársfield der 1950er Jahre Carmelo Simeone, der ebenfalls “Cholo” genannt wurde. Spinetto hatte großen Einfluss auf die frühen Jahre von Diego Simeone. Er starb 1990. Im selben Jahr verließ sein ehemaliger Schüler Argentinien und versuchte sein Glück in der Serie A bei Pisa. Der italienische Erstligist gab Simeone nachdem das Angebot übermittelt wurde, lediglich eine Dreiviertelstunde zum Überlegen. Seine Eltern waren im Urlaub, sein Berater nicht anwesend. Cholo ergriff die Möglichkeit. Wie das große Vorbild Passarella führte der Weg in die italienische Liga und Simeone sollte während der 1990er und 2000er Jahre vermehrt zwischen Primera Division und Serie A pendeln, inklusive zweier Engagements bei seinem heutigen Klub Atlético Madrid.

Simeone_Diego

Goalimpact Chart (anklicken zum Vergrößern)

Es wäre nun müßig, alle Stationen im Einzelnen zu analysieren. Der Double-Gewinn mit Atlético, der UEFA-Cup-Sieg mit Internazionale und der Scudetto mit Lazio waren große Meilensteine. Am meisten beeinflusst hat ihn aber wohl ein Landsmann. Carlos Bilardo trainierte den FC Sevilla Anfang der Neunziger, als Simeone aus Pisa nach Andalusien wechselte. Doch auch Trainer wie Luis Aragones und Marcelo Bielsa nahmen mehr oder weniger Einfluss.

Der Spielertyp

Die Neunziger Jahre waren eine Zeit als große Strategen und beinharte Anführer des Öfteren in einer Person vereint wurden. Stefan Effenberg und Roy Keane waren zwei prominente Beispiele. Diego Simeone wird häufig auf seine Leidenschaft, seine Aggressivität, seine Kampfmentalität reduziert. Doch dabei wird gerne übersehen, was für technische Qualitäten Simeone besaß, welche Übersicht er hatte und mit welcher taktischen Intelligenz er gesegnet war. Er entwickelte sich in den meisten Mannschaften, inklusive der argentinischen Nationalmannschaft, mit der er immerhin zweimal die Copa América gewann und eine olympische Silbermedaille in Atlanta errang, zum essentiellen Knotenpunkt. Wie bereits erwähnt, Simeone hatte Passarella als Vorbild, aber er war Ardilles ähnlicher, wenn man einen Vergleich zur 1978er-Mannschaft ziehen möchte. Eine Reihe hinter den Kempes, oder im Falle Simeones eine Reihe hinter den Djorkaeffs und Nedvěd, sorgten Ardilles und Cholo für die Strukturierung des Spiels in Kombination mit einer enormen Laufleistung. Im heutigen Atlético-Kader bestehen sicherlich die größten Ähnlichkeiten mit Tiago und Gabi, aber auch ein Stück weit mit Jungtalent Saúl Ñíguez.

2015-01-12_Internazionale-Lazio_1998_Grundformation

UEFA-Cup-Finale 1998, Internazionale – Lazio 3:0

Simeone ist unter 1,80 Meter groß und war infolgedessen trotz seines teils physischen Spiels in Luftzweikämpfen eher unterlegen. Deshalb neigte der Argentinier auch dazu, halbhohe Bälle so oft wie möglich herunter zu nehmen. Diese Bewegungen am Ball ließen ihn sehr ruhig erscheinen. Und in der Tat, der Argentinier sorgte mit seinen Aktionen oftmals für leichte Verzögerung. Das lag weniger an einer schlechten Ballverarbeitung. Simeone hatte ganz im Gegenteil eine elegante Art und Weise, wie er sich selbst in verdichteten Zonen noch geschmeidig das Spielgerät zurechtlegte. Doch er konnte keinesfalls mit Ball am Fuß enorm beschleunigen. Diese mangelnde Weiträumigkeit machte er wiederum mit langen, empathischen Diagonal- und Vertikalzuspielen wett. Aus diesem Grund suchte Simeone nicht selten zunächst die passenden Kanäle und offenen Räume. Diese wenigen Zehntelsekunden an Verzögerungen konnten wiederum die Mitspieler nutzen, um bereits in den entsprechenden Zielbereich des dann erfolgenden Passes zu laufen.

Da das Mittelfeldpressing vor allem um die Jahrtausendwende herum, oftmals wenig intensiv war oder komplett darauf verzichtet wurde, hatte Simeone an der Seite eines weiteren spielstarken Akteurs in der Regel genügend Zeit, um als Ballverteiler entscheidenden Einfluss auf die Fortführung des Angriffs oder, nach einer seiner zahllosen Balleroberungen, auf die Entstehung des Angriffs Einfluss zu nehmen.

Problematischer waren im Gegensatz dazu zwei andere Facetten. Wurde Simeone zu Engendribblings gedrängt, war er vergleichsweise leicht vom Ball zu trennen. Dies galt nicht unbedingt dafür, wenn er direkt attackiert wurde, sondern vielmehr wenn er sich mit dem Spielgerät nach vorn bewegte. Aufgrund eines gewissen Mangels an Dynamik wurden seine Dribblings oftmals unsauber, so komisch es klingen mag. Er versuchte Geschwindigkeit aufzunehmen, verlor aber dadurch ein Stück weit seine enge Ballführung. Zudem war Cholo nie ein Meister von großartigen Tricks und Finten.

2015-01-12_Atletico_1996_Grundformation

Doublesieger-Mannschaft von Atlético 1996 – Irgendwie kommt das doch bekannt vor…

Eine weitere kleine Schwäche, wobei wir hier auf hohem Niveau kritisieren, ergab sich in vermeintlich ungefährlichen Situationen am Sechserraum. Simeone tendierte dabei vereinzelt zu schwachen Querpässen, die genau in die Fallen des Gegners geraten konnten. Er war interessanterweise im weiträumigen Passspiel um einiges sauberer, als wenn es zum Beispiel um eine kurze Verlagerung von halblinks auf halbrechts ging. Das galt wiederum nicht für Ablagen. In seinen Rollen bei Inter und auch in der Albiceleste, wobei er häufiger als halblinker Sechser/Achter oder sogar als eine Art Flügelläufer agierte, konnte Cholo immer wieder effektiv seine Nebenspieler einbinden, da er im Halbraum ohne Gegenspieler war und deshalb vermehrt nach vorn rücken konnte. In diesen engen Zonen war er für kurze Ablagen sehr passabel zu gebrauchen. Im Gegensatz zu Internazionale war Simeone übrigens bei Atlético oder Lazio meist in einem 4-4-2-System stärker als Schaltzentrale, Durchlaufstation und Taktgeber gefordert, als das beispielsweise in Mailand an der Seite von Zé Elias der Fall war.

Gleichzeitig zeichnete sich der verbissene, laufstarke Argentinier durch seine exzellenten individuellen Gegenpressingfähigkeiten aus. In hohen Räumen hatte er stets die Möglichkeit nach Ballverlust sofort wieder den Umschaltmoment durch gezielte Attacken umzukehren. Dass Simeone mit dem Messer zwischen den Zähnen über das Feld lief, ist nur die halbe Wahrheit. Er erinnerte in vielen Partien an einen strategisch intelligenten und ruhigen Spielmacher, wobei er selten in seiner Karriere auf einer Soloposition im Mittelfeldzentrum agierte, sondern meist mit einem Nebenmann gutes gruppentaktisches Verständnis zeigte.

Die nächste Generation

Beim Sieg gegen Real Madrid im Copa-del-Rey-Hinspiel in der vergangenen Woche wurde Simeone jubelnd mit einem Balljungen beobachtet. Schnell wurde bekannt, dass es sich um seinen zweitältesten Sohn Giuliano handelt. Alle drei Kinder sind genauso fußballversessen. Der älteste Sohn Giovanni spielt bereits für die erste Mannschaft von River Plate und kam vor einigen Wochen sogar im Halbfinale der Copa Sudamericana im legendären Superclásico gegen die Boca Juniors in der Startelf zum Einsatz. Seine ersten Tore konnte er seit seinem Profidebüt vor eineinhalb Jahren bereits erzielen. Doch ob Giovanni jemals unter Vater Simeone trainieren wird, ist eher unwahrscheinlich. Denn Diego gab schon zu, dass er seine Söhne niemals wie andere Spieler bewerten könnte. Selbst wenn man meint, dass Arda und Co. wie Cholos Kinder wirken, so ist die intensive Unterstützung seiner eigenen Kinder natürlich noch auf einem anderen Niveau.

Giovanni ist ein schneller Konterstürmer, ein Schnittstellenläufer, der sich mit Vorliebe in den Rücken der Abwehr schleicht und dann beidfüßig selbst aus spitzen Winkeln abschließen kann. Der “Hijo del Cholo” lebt weniger von seiner Physis im Zweikampf. Dafür kann er gut beschleunigen und das Spielgerät unter hohem Tempo unter Kontrolle bringen, Umschaltangriffe nach dem Ballgewinn selbst fortführen oder an der letzten Linie gesucht werden. Giovanni gilt als eines der größten Stürmertalente in Argentinien, aber ob er, wie manchmal spekuliert wird, in absehbarer Zeit zu Atlético Madrid wechselt, das darf noch bezweifelt werden. In puncto Spielstil unterscheidet sich Giovanni jedenfalls signifikant von Vater Diego.

P.S.: In den nächsten Teilen wird man erfahren, warum Simeone seinen Flügelstürmer Arda nicht versteht, weshalb er Stiere mag und wer noch hinter dem Erfolg von Atlético steckt. Allerdings müssen sich die Leser dafür noch etwas gedulden.

Der VfL Bochum in der zweiten Liga – Der harte Weg zurück in die Erstklassigkeit

$
0
0

Diego “Cholo” Simeone – Der Leidenschaftliche | Teil 2

$
0
0

Im zweiten Teil des Porträts von Diego Simeone geht es um die Philosophie des bekannten Atlético-Trainers.

“Cholismo” bedeutet: sich aufopfern, hart arbeiten, täglich ums Überleben kämpfen und Erfolg haben. Dieses Wort ist das Fundament der Philosophie von “Cholo” Simeone und schaffte es sogar vor einiger Zeit auf die Liste für das spanische Wort des Jahres. Die aufopferungsvolle Leidenschaft passt zum 44-jährigen Trainer wie die Faust aufs Auge, einst auf dem Platz vorgelegt, nun an seine Spieler weitergebend. Zudem wird der Begriff häufig mit dem Spielstil seiner Mannschaften – insbesondere einst Estudiantes de La Plata und nun Atlético Madrid – in Verbindung gebracht wird. Simeone selbst bleibt in diesem Zusammenhang zurückhaltend und sieht sich nicht als eine Art religiöser Führer.

“Ich glaube nicht an Glück. Ich glaube mehr an harte Arbeit, Überzeugung und Hartnäckigkeit.”

Als der Argentinier Ende 2011 die Mannschaft der Rojiblancos übernahm, war Atlético am Boden – eine deprimierende Stimmung herrschte im Klub. Simeone kannte diese Situation bereits aus den 1990ern, als er selbst das Trikot des Klubs trug. Doch auch damals rehabilitierte man sich von der Krise und fuhr immerhin 1996 das Double ein.

Simeone betrat nach seiner Amtsübernahme von Vorgänger Gregorio Manzano die Umkleidekabine und berichtete von seinen Erfahrungen, wie man sich wieder aufrappeln könnte. Er selbst kann nicht beschreiben, wie seine Motivationstechniken funktionieren, oder er will es schlichtweg nicht verraten. Aber der Argentinier sagt unter anderem: “Ich habe diese Energie. Folge mir oder eben nicht. Aber man kann nicht beschreiben, was ein Anführer genau macht.” Dass Simeone das Charisma eines Anführers hat, wurde schon in seiner Kindheit deutlich, wie eine Anekdote beweist, nach der er vom Musiklehrer zum Dirigenten des Schulorchesters ernannt wurde, obwohl viele ältere Schüler dort spielten.

Es wirkt teilweise wie eine gewisse Gleichgültigkeit, mit der er über die Eigenschaften von Profifußballern berichtet. Simeone erwartet nicht, dass man sich auf dem Platz anders verhält, als man es abseits des Rasens tut. Für ihn ist es eine grundsätzliche Charakterfrage. Folglich versucht er auch nicht, Spieler von seiner Philosophie mit aller Gewalt zu überzeugen, sondern er wartet einfach ihre Reaktionen ab. Selbst im aktuellen Kader von Atlético oder in der erfolgreichen Mannschaft der letzten Saison gab es vermutlich Akteure, die nicht hundertprozentig von Simeones Weg überzeugt waren. Dies habe man ihm zufolge zu akzeptieren, aber gegebenenfalls müsse eine Trennung erfolgen.

“Es gibt ein Sprichwort, wenn dir 49 Prozent der Leute folgen, dann sei zufrieden damit.”

Trotzdem schreibt er (in Zusammenarbeit mit Santi Garcia Bustamante) in seinem Buch Partido A Partido. Si se cree, se puede (“Von Spiel zu Spiel. Wenn du an dich glaubst, kannst du es”) unter anderem darüber, dass die Gruppe dem Trainer vertrauen müsste. Bestünden Zweifel, würden sich früher oder später Schwierigkeiten in der Arbeit mit der Mannschaft einstellen. Simeone behandelt sein Team laut eigener Aussage wie eine Familie. Vom Präsidenten bis zum Platzwart sollten alle Wertschätzung erfahren und die größte kommunikative Rolle hätte der Cheftrainer in einem Klub wie Atlético. Er sei ein Fixpunkt, der aber in Erfolgsmomenten die eigene Eitelkeit zurückzustellen habe.

Zudem versucht Simeone stets eine Gewinnermentalität zu generieren. Geht es in Richtung eines entscheidenden Spiels, dann wird nur davon gesprochen, dass man das Spiel gewinnen wird. Diese Einstellung teilen Trainerkollegen wie José Mourinho. Für Simeone geht es oftmals um Überzeugung. Wer an sich selbst glaubt, kann es auch schaffen. Wer jedoch eher präferiert, “bei einem kleinen Klub zu spielen, der wird sich Endspiele nur im Fernsehen anschauen können.”

Da sich Simeone mittlerweile im vierten Jahr bei Atlético befindet, wird oftmals vergessen, dass der 44-Jährige zuvor bereits sechs Trainerstationen bei fünf Vereinen hinter sich brachte. Dabei hatte er nicht durchweg Erfolg. Ligatitel errang er mit Estudiantes und River Plate, wurde aber in der zweiten Saison bei Los Millonarios auf dem letzten Platz der Primera División Argentina stehend entlassen. Auch bei seinem Aufenthalt beim ambitionierten CA San Lorenzo war er nicht erfolgreich und wurde von Fans teilweise ausgebuht , als sich der Klub nach einer Niederlagenserie auf dem viertletzten Rang befand.

Seine erste Station außerhalb der südamerikanischen Heimat war wie bei seiner Spielerkarriere in Italien. Die fünf Monate bei Calcio Catania prägten Simeone ungemein. Er “wuchs mit den Schwierigkeiten. Was Courage und Ideenreichtum betrifft, kommt vieles jetzt bei Atlético aus der Zeit in Italien”, berichtet der Argentinier. Interessant waren damals in der Rückrunde der Saison 2010/11, als Simeone die Sizilianer in der Serie A trainierte, nicht nur die taktischen Entwicklungen. (Mehr dazu im letzten Teil des Porträts.)

Er versuchte auch psychologische Stellschrauben zu drehen und die Mannschaft auf einen neuen Weg zu führen. In Catania entwickelte sich eine explizite Außenseitermentalität. Simeone wurde nicht müde zu betonen, dass “wir gegen den Rest” kämpfen. Mediale Kritik nutzte er noch dazu, seine Behauptungen zu untermauern. Die Rossoazzurri wurden unter seiner Ägide vor allem zu Hause eine absolute Macht, relativ zur grundsätzlichen Stärke des Teams gesehen. Selbiges gilt übrigens auch für Atlético heute.

“Du brauchst Furcht in diesem Sport. Das gibt dir Mut und lässt dich wachsam bleiben.”

Interessanterweise arbeitete Simeone bei Catania einst mit insgesamt dreizehn Landsmännern zusammen. Akteure wie Torwart Mariano Andújar kannten den Trainer Simeone bereits aus der gemeinsamen Zeit bei Klubs wie Estudiantes. Obwohl der damals 40-Jährige natürlich aufgrund seiner Aufenthalte bei Pisa, Internazionale und Lazio über gute Sprachkenntnisse verfügte, half die verbesserte Kommunikation gerade beim Trainer-Stil von “El Cholo”. In diesem Zusammenhang muss man auch immer wieder die Gerüchte um einen möglichen Wechsel in die englische Premier League in Frage stellen. Denn die Kommunikation wäre arg behindert. Dass Simeone allerdings auch ohne Worte einen Spieler richtig einstellen kann, zeigt das Beispiel Arda Turan, dessen Spanischkenntnisse nur rudimentär vorhanden sind. Beide sind temperamentvoll. Beide kommunizieren meist non-verbal.

Die Chemie zwischen “Wassermann” Arda und “Stier” Simeone scheint zu stimmen. Der Argentinier hat selbst bestätigt, dass er stets ein Auge auf die Sternzeichen der Spieler wirft. Er glaubt bis zu einem gewissen Grad an Horoskope und eine Kaderanalyse ergibt, dass sich aktuell vor allem Steinböcke, Wassermänner, Fische, Widder und Stiere – also Spieler, die in der ersten Jahreshälfte geboren sind – im Kader befinden. Im letzten Sommer kamen beispielsweise die drei Stiere Guilherme Siqueira, Mario Mandžukić und Raúl Jiménez. Vielleicht ist auch so die Winterverpflichtung von “Fisch” Fernando Torres zu erklären…

Mario und Fernando – Partnerschaft/Beziehung: “Zwei Romantiker kommen zusammen, was der Partnerschaft sehr zuträglich ist. Fische sind jedoch allen gegenüber sehr verständnisvoll, womit der Stier anfangs mit Eifersucht reagiert. Dieses Problem kann aber schnell überbrückt werden. Der Stier ist besonders gut darin, eine schöne Atmosphäre zu schaffen, was das Sternzeichen Fische mit Zuwendung anerkennt.”

Im dritten und letzten Teil wird es dann um die taktische Genese des Trainers Simeone gehen.

Diego “Cholo” Simeone – Der Leidenschaftliche | Teil 3

$
0
0

Dieser Artikel hat lange auf sich warten lassen. Vielleicht lag es an zeitlichen Engpässen des Autors, vielleicht war die dünne Quellenlage dafür verantwortlich. Oder: Dieser Artikel musste erst reifen. Er musste reifen, so wie es die Trainerpersönlichkeit von Diego Simeone tat.

Natürlich, Simeone war ein grandioser Fußballer. Einer dieser beinharten Staubsauger und Antreiber, die vor allem in den 1990ern über die Fußballfelder stürmten. Ganze Armeen wurden ihnen entgegengeworfen, um sie zu stoppen. Aber ich komme vom Thema ab.

Bevor Simeone seine unvergleichliche Ära bei Atlético Madrid im Jahr 2011 begann, hatte er bereits sechs Trainerstationen hinter sich. Die eine erfolgreicher als die andere. Insgesamt war Simeone kein heißes Eisen auf dem Trainermarkt, so wie das heute der Fall ist. Mit Estudiantes de La Plata gewann er 2006 das Torneo Apertura, mit River Plate dann 2008 das Torneo Clausura. Nicht schlecht, aber auch nicht herausragend.

Vom Spieler zum Trainer

Sein letztes Profispiel absolvierte Simeone im Oktober 2005 gegen CA Rosario Central für Racing Club de Avellaneda. Er blieb noch bis Anfang des nächsten Jahres im Kader, hing aber seine Schuhe in dieser Zeit an den Nagel, nur um fast postwendend das Traineramt bei Racing zu übernehmen. Der damals 35-Jährige blieb dort allerdings nur rund drei Monate, was eine eingehende Bewertung seiner Trainerleistung eher schwierig macht.

“Ich hatte eigentlich geplant, durch Europa zu reisen und ein radikales Projekt mit Nelson Vivas [seinem späteren Assistenten bei Estudiantes, River Plate und San Lorenzo] zu entwickeln. Aber das Angebot der Albiceleste [Racing Club] kam sehr plötzlich und wir entschieden, es war zu gut, um es abzulehnen.” (Diego Simeone)

Im Endeffekt schaffte Racing den Klassenerhalt, ohne dass Simeone dabei revolutionäre taktische Änderungen vornahm. Vielmehr war er bereits zu jener Zeit der absolute Motivator des Teams. Er wuchs als Altstar und argentinische Spielerlegende schnell in diese Rolle hinein. Junge Profis wie Maxi Moralez, aber auch bereits erfahrene Spieler wie der Ex-Bundesligaprofi Cristian Ledesma respektierten Simeone zu hundert Prozent. Nichtsdestotrotz verließ er nach der Neuwahl des Präsidentenamtes den Klub und wurde von Reinaldo Merlo ersetzt.

Anschließend dachte er wieder daran, ein neues Projekt mit Nelson Vivas anzugehen. Aber Simeone war lediglich 48 Stunden arbeitslos. Denn umgehend klingelte sein Telefon. Der Anruf vom Präsidenten von Estudiantes de La Plata kam erst zehn Uhr abends und Simeone entschied sich sofort, noch in den Nachtstunden das Trainingsgelände seines neuen Klubs zu besichtigen.

Boca Juniors - Estudiantes de La Plata 1:2, Apertura 2006, Finale, 13.12.2006, Estadio José Amalfitani

Boca Juniors – Estudiantes de La Plata 1:2, Apertura 2006, Finale, 13.12.2006, Estadio José Amalfitani

Sein Engagement bei den Pincharratas stellte auch einen ersten wirklichen Meilenstein in der Trainerkarriere dar. Er heuerte dort im Mai 2006 an und bereits im Oktober 2006 wählte ihn die Sportzeitung Olé zum Trainer des Jahres. Simeone ersetzte den nicht unbedingt erfolglosen Jorge Burruchaga, was schon ein gewisser Vertrauensvorschuss für einen unerfahrenen Jungtrainer war. Simeone baute die Mannschaft von Estudiantes um Routinier Juan Sebastián Verón, der nach elf Jahren zu seinem Jugendverein zurückkehrte. Nach eher durchwachsenen letzten Spielzeiten bei Chelsea und Internazionale wollte Verón seiner Karriere wieder neues Leben einhauchen. Und unter der Ägide seines ehemaligen Nationalmannschaftskollegen Simeone sollte dies gelingen. Gleich in der ersten Saison wurde Verón zu Argentiniens Fußballer des Jahres gewählt.

Im Viertelfinale der Copa Libertadores schied das Team im Elfmeterschießen gegen São Paulo aus. In der heimischen Liga hingegen legte Estudiantes einen unvergleichlichen Siegeslauf hin. Mit zehn Dreiern in Folge wurde der Klubrekord eingestellt. Dabei zerstörte Simeones Team unter anderem Club de Gimnasia y Esgrima La Plata mit 7:0 im traditionsträchtigen Clásico de La Plata. Am Ende der Spielzeit war Estudiantes punktgleich mit Ricardo La Volpes Boca Juniors. Da die Tordifferenz nicht von Bedeutung war, kam es zum Entscheidungsspiel auf neutralem Boden im Estadio José Amalfitani von Buenos Aires. Nach der frühen Führung von Boca durch Martin Palermo schlug Estudiantes in der zweiten Halbzeit – zu diesem Zeitpunkt waren beide Teams schon nur noch zu zehnt – per Freistoß durch Eigengewächs José Ernesto Sosa, der ein halbes Jahr später bei Bayern München unterschreiben sollte, und Mariano Pavone zurück. Die Startruppe Bocas um Palermo, Palacio, Ibarra und Jungtalent Gago war bezwungen. Simeone hatte den ersten großen Titel in der Tasche. Roberto Perfumo, einstiger argentinischer Starverteidiger der 1960er und 1970er sowie heutiger ESPN-Journalist, bezeichnete Simeone als “geborenen Trainer”.

“Boca hatte die Pokale für einige Zeit in Beschlag genommen. Also war der Gewinn auf diese Weise besonders spektakulär. Ich sage immer, Gewinnen ist alles. Aber es gibt Wege zum Sieg, die machen es noch erfreulicher.”

In der darauffolgenden Runde landeten Los Pincharratas auf dem dritten Rang hinter Meister San Lorenzo und Boca Juniors. Das 2007er Torneo Apertura lief umso enttäuschender, als ein schwacher Start alle Hoffnungen auf einen Titelgewinn begrub. Am Ende landete das Team nach neun Spielen ohne Niederlage noch auf dem sechsten Platz. Aber Simeones ehemaliger Lazio-Kollege Roberto Sensini ersetzte Cholo auf der Trainerbank.

Was zeichnete Estudiantes nun in dieser Zeit im Besonderen aus? Gerade in der erfolgreichen Spielrunde mit dem anschließenden Titelgewinn kam eine enorme Defensivstärke zum Tragen, sodass die Pincharratas die wenigsten Gegentore kassierten und zugleich alle Teams der Cinco Grandes besiegten. Im Grunde genommen setzte Simeone durchgehend auf ein 4-4-2 oder 4-4-1-1. Dabei war Verón stets der etwas vorgeschobene beziehungsweise vorstoßende Sechser, der dadurch auch die Angriffsstrukturen bestimmte. Rückte er beispielsweise mehr auf die linke Seite, so wurde der Spielaufbau auf diesen Flügel ausgerichtet, um Veróns Präsenz sowie die kleinen Überladesituationen zu nutzen.

Offensiv war zudem Mittelstürmer und Estudiantes’ bester Torjäger Pavone von essentieller Bedeutung. Nicht nur lief er oftmals in die verlängerten Bälle, sofern im Aufbau zunächst Schläge in den Zehnerraum erfolgten, er riss für die zweite Spitze auch die entscheidenden Löcher aufgrund seiner hohen Aktionsrate. Sicherlich war Pavone auf die Unterstützung eines einrückenden Flügelspielers wie Diego Galván oder eines Verbindungsspielers wie Routinier José Luis Calderón angewiesen. Aber er konnte auch in manchen Phasen als Alleinunterhalter die Angriffe am Leben erhalten.

Gegen den Ball war Simeones Team bekannt für ein sehr rigoroses Kettenspiel. Die beiden Viererreihen standen durchweg horizontal kompakt, was gegen die vielen flügelfokussierten Mannschaften der argentinischen Liga durchweg effektiv funktionierte. Bei einem Außenspieler wie vor allem Sosa wurden sicherlich stets die offensiven Qualitäten herausgehoben. Aber auch die defensive Zuarbeit, das konstante, laufintensive Doppeln gehörten zum Aufgabenbereich der Flügelakteure.

So machte es Estudiantes einerseits dem Gegner sehr schwer aus Flügelisolationen herauszubrechen, andererseits wurde sehr schnell in die Spitze gespielt, wo es entweder zu raschen Abschlüssen oder aber zum Nachstoßen von Sosa und Verón kam. Und zu guter Letzt hatten die Pincharratas immer wieder gefährliche Standards, von Verón oder auch Sosa getreten, die eine enge Partie zu ihren Gunsten entscheiden konnten.

In der nächsten Runde hatte sich bei Estudiantes wenig bis gar nichts geändert. Der Klub aus dem Ballungsraum von Buenos Aires konnte die Mannschaft zusammenhalten, weil Präsident Eduardo Abadie bis zum Ende des Torneo Clausura einen Transferstopp verhängte. Diese Sperre betraf gerade umworbene Spieler wie Sosa und Pavone, die beide dann in der nächsten Meisterschaftspause Estudiantes in Richtung Europa verließen. Sicherlich wurden junge Talente wie Enzo Pérez und Pablo Piatti integriert. Aber die angesprochenen Abgänge sowie ein Fernbleiben Veróns, mit dem sich Simeone öffentlich anlegte, von den ersten Partien des 2007er Torneo Apertura führten zu einem echten Horrorstart. Nach dem 2:4 gegen River Plate am fünften Spieltag kam Simeones Team zunächst nicht mehr aus dem Tabellenkeller heraus.

In dieser schwierigen Phase griff Simeone auf ein ungewöhnliches Mittel zurück. Der Legende nach zeigte er seinen Spielern Al Pacinos Kabinenansprache aus Any Given Sunday. Von nun an sollte es wieder bergauf gehen. Oder es lag an der Rückkehr von Verón…

“Es ist eine großartige Rede, die so viele Dinge zum Ausdruck bringt, an die ich glaube, die ein Team stark macht. Es ist eine Art, wie ich versuche, meine Spieler zu erreichen. Ich denke, der einzige Kniff ist, wie sie diese Nachricht aufnehmen – als Trainer musst du eine motivierende Nachricht verbreiten und dann liegt es an ihnen, wie sie diese Nachricht aufnehmen und wie sie es in ihre Spielweise auf dem Feld übertragen.”

Veróns zweiter Startelfeinsatz war am 13. Spieltag gegen Argentinos Juniors und anschließend gab es noch fünf Siege und zwei Remis, ohne eine Niederlage zu kassieren. Simeone hielt an sich an seiner taktischen Ausrichtung auch während der Krise von Estudiantes fest. Viele Niederlagen fielen dabei knapp aus. Die stabile Verteidigung mit einem horizontal kompakten Kettenspiel funktionierte immer noch. Aber: Simeone fand keine passende Antwort auf den Verlust wichtiger offensiver Schlüsselspieler. Etwas, das ihm auch phasenweise in der letzten Saison bei Atlético Madrid passierte.

Titel und Katastrophe beim Wunschverein

Schlussendlich trat er direkt nach dem Ende der Meisterschaft zurück und heuerte eine Woche später als Nachfolger seines Vorbilds Daniel Passarella bei River Plate an. Ähnlich wie zu Beginn seiner Amtszeit bei Estudiantes musste sein Team zunächst ein Ausscheiden in der Copa Libertadores verkraften – in diesem Fall gegen ein um zwei Spieler dezimiertes San Lorenzo. Diese Partie sollte Simeone später als eine seiner schwärzesten Stunden im Fußball bezeichnen.

River Plate 2011

River Plate 2008

Doch zum Ende des Torneo Clausura von 2008 stand River Plate an der Spitze der Tabelle. Es war die zweite Meisterschaft für Cholo Simeone. Ähnlich wie bei Estudiantes hatte das Kollektiv oberste Priorität. Das bekam insbesondere Altstar Ariel Ortega zu spüren, der nicht selten durch Disziplinlosigkeit und Alkoholprobleme auffiel. El Burrito war in Simeones 4-4-2 nicht immer gesetzt, aber passte dort auch nur bedingt hinein.

An hoher individueller Qualität mangelte es River jedoch nicht. Im Angriff stürmte an der Seite vom wilden Sebastián Abreu meist Radamel Falcao. Oder der junge Alexis Sánchez, gerade von Udine ausgeliehen, agierte ganz vorn. Über die Flügel griff unter anderem Diego Buonanotte an. Im Mittelfeld zogen Typen wie die heutige Klublegende Leonardo Ponzio oder Óscar Ahumada und Augusto Fernández die Fäden.

Wichtig für das Offensivspiel von River war zu jener Zeit gerade Falcao, dessen Präsenz im Zehnerraum meist die Anbindung zum Mittelfeld herstellte. Etwas anders verhielt es sich mit Ortega, der oft eine hybride Rolle zwischen Außenspieler und Zehner übernahm. Buonanotte hingegen war als dribbelnder Wirbelwind starrer auf den Flügel fokussiert.

Ein Merkmal, was hier bei Simeones River-Mannschaft wieder auftauchte, war die Konterstrategie, die zu einem höheren Prozentsatz auf den Fähigkeiten des vordersten Zielspielers beruhte. Abreu konnte mit seiner körperlichen Präsenz den Ball in vielen Szenen festmachen und anschließend auf die heranstürmende Meute weiterleiten. Ohne diesen Zielspieler waren die Millonarios auf eine ruhigere Ballzirkulation angewiesen, was ihnen aber eher selten gelang. Denn auch die Passstrukturen aus dem Mittelfeld heraus forcierten verstärkt steile, tiefe Anspiele. Die offensiven Flügel beziehungsweise vorstoßenden Außenverteidiger überliefen unablässig die gegnerische Abwehrlinie. In dieser Form konnten auch die defensiven Mängel – schwächere Verschiebemechanismen, zu großer Mannorientierungsfokus – sowie die Schwäche bei defensiven Standards übertüncht werden. River Plate gewann viele Partien aufgrund der zahlreichen herausgespielten Torchancen, die sicherlich durch eine von Simeone vergleichsweise offensive Ausrichtung auch erzwungen wurden.

“Hoffentlich wird er [irgendwann Argentinien trainieren], aber wenn nicht, würde ich wetten, er steht mit Atlético Madrid oder einem ähnlichen Klub 2010 im Champions-League-Finale.” (Journalistin Marcela Mora y Araujo im Juni 2008 nach Simeones Titelgewinn mit River Plate)

Eigentlich blieb in der Personalabteilung vieles beim Alten, als River Plate in die nächste Meisterschaftsrunde startete. Allerdings verließ Weltenbummler Abreu kurzzeitig das El Monumental, um bei Beitar Jerusalem zu unterschreiben. Der Paraguayer Santiago Salcedo war kein passender Ersatz an der Seite von Falcao. Ähnliches galt für Gustavo Bou. Außerdem ging Torhüter Juan Pablo Carrizo zu S.S. Lazio. Zu Beginn des Torneo Apertura probierte Simeone interessanterweise neue Systemvarianten und dabei sogar kurzzeitige Möglichkeiten mit pendelnden Viererketten aus. Aber das war nicht von Erfolg gekrönt. Auch ein kompakteres 4-5-1 ohne Falcao gab es zu bestaunen, was vermutlich eine Reaktion auf die chronischen Kompaktheitsprobleme war. Doch die Synergien im Offensivzirkel waren verloren gegangen. River kassierte wie schon beim Meisterschaftsgewinn immer wieder Tore, konnte aber selbst offensiv nicht derart gefährlich werden. Schlussendlich wurde Simeone Mitte November 2008 entlassen. River Plate erholte sich nicht von der sportlichen Krise. Die Mannschaft verließ bis zum Ende der Runde nur noch einmal den letzten Platz, stand aber nach dem 19. Spieltag am Tabellenende – erstmalig in der damals 107-jährigen Vereinsgeschichte. Man muss aber an dieser Stelle auch erwähnen, dass dieser Absturz nicht nur taktische Gründe hatte. River Plate war ganz einfach ein total chaotischer Verein, wo selbst Simeone nicht immer die Oberhand behalten konnte. Der Meistertitel in der Runde davor verschlimmerte womöglich sogar die Situation bei den Millonarios. Man dachte sofort wieder, River Plate hätte den Glanz alter Tage. Dem war allerdings nicht so.

Enttäuschung in Flores

Mitte April 2009 wurde Simeone als neuer Trainer von CA San Lorenzo de Almagro vorgestellt und ersetzte Miguel Ángel Russo. Anscheinend war sogar TV-Star Marcelo Tinelli, einer der bekanntesten Fans des sehr beliebten Klubs, in den Deal involviert. Ungeachtet des katastrophalen Endes bei River Plate waren die Erwartungen an den jungen Trainer, der nun schon zwei Meistertitel in seiner Vita vorzuweisen hatte, groß. Doch Simeone konnte zusammen mit der Mannschaft diese Hoffnungen nie erfüllen und San Lorenzo aus dem Tief befreien. Die Emotionen kochten auch in der knapp einjährigen Amtszeit immer wieder hoch, so wie es schon seine Vorgänger anhand einer versuchten Stürmung des Teamhotels zu spüren bekamen.

Direkt nach der Amtsübernahme konnte Cholo in der Endphase des Torneo Clausura keine außerordentlichen Verbesserungen hinsichtlich der Ergebnisse herbeiführen. San Lorenzo schloss auf Platz elf ab, was aufgrund des Saisonverlaufs noch respektabel war.

Die Mannschaft war gespickt mit erfahrenen Akteuren wie Cristian Ledesma, Santiago Solari, Kily González, Leandro Romagnoli und Bernardo Romeo, die allesamt auch in Europa ihre Duftmarken hinterlassen hatten. Einige jüngere Talente wie Juan Manuel Torres, Emiliano Alfaro und Alejandro Gómez, der Simeone später nochmal in Italien begegnen sollte, erzeugten rein theoretisch eine gute Mischung im Kader. Allerdings schmälerten die Verpflichtungen von González und Romagnoli im Sommer das Transferbudget erheblich.

Am Ende wurde Simeone mehr oder weniger mit einem Pfeifkonzert vom Hof gejagt, dabei lobte die Vereinsführung wiederum seine Arbeit mit den Talenten. Doch das anspruchsvolle Publikum von San Lorenzo schien verärgert darüber, dass Simeone das vermeintliche Starensemble nicht zu besseren Resultaten führen konnte. Nach dem siebten Platz im Torneo Apertura entstand noch Hoffnung, dass Cholo den gewünschten Aufschwung herbeiführen könnte. Sieben Niederlagen an den ersten zwölf Spieltagen des Torneo Clausura besiegelten das Ende Simeones.

Auch bei dieser Station setzte er vornehmlich auf 4-4-2- oder 4-4-1-1-Formationen. Hier gab es ebenso wieder klassische Zielspieler ganz vorn, die bereits erwähnten Flügelüberladungen, das schnelle Vertikalspiel aus dem offensiven Umschalten heraus und eine insgesamt pragmatische Herangehensweise, sodass auch die Routiniers ihre Rollen finden sollten. Es war schlichtweg nicht von Erfolg gekrönt. Simeone konnte die Mannschaft nicht nach seinen Wünschen formen. Die knapp einjährige Periode bei San Lorenzo sollte nicht unbedingt als Bewertungsmaßstab für seine Fähigkeiten herangezogen werden. Lediglich Simeones Entscheidung im Vorfeld darf man kritisch hinterfragen, denn er wusste um die schwierige Situation im Gasómetro.

Italienisches Semester

Sucht man bei Simeone neben dem Heimatland Argentinien und der momentanen fußballerischen Heimat Spanien einen weiteren Fixpunkt in der Karriere, so ist es ohne Zweifel Italien, wo er ebenso Wurzeln hat. Hier begann seine europäische Karriere bei Pisa. Hier feierte Cholo als Spieler mit Internazionale und S.S. Lazio große Erfolge.

Im Januar 2011 heuerte Simeone als Trainer erstmals in der Serie A an. Es war die Aufgabe beim wenig attraktiven Kellerklub Catania Calcio, die ihn einmal mehr ins Land des Stiefels führte – oder in diesem Fall auf die Insel Sizilien. Passt diese sizilianische Mentalität nicht wie angegossen zu Simeone?

Zumindest referiert Simeone heute noch über die damalige Erfahrung als echte Lehrzeit, obwohl er nur fünf Monate in Diensten Catanias war. Damals ersetzte er Marco Giampaolo, der mit einem wenig kompakten 4-1-4-1 der individuell eher schwach besetzten Mannschaft überhaupt keine Stabilität verleihen konnte. Da Catania ganz im italienischen Stil aber trotzdem eher auf Abwehrpressing setzte, prallten hier zwei Elemente aufeinander, als dass sich Spielstil und taktische Ausrichtung ergänzten. Giampaolo war vor allem darauf bedacht, seinem Kreativspieler Adrian Ricchiuti eine Art Freirolle zu geben. Man könnte dies auch als Trequartista bezeichnen, allerdings blieb Ricchiutis Aufgabenfeld lange Zeit eher nebulös. Aufgrund der teils reaktiven Ausrichtung wurde aus dem 4-1-4-1 in vielen Partien eher ein 4-4-1-1, wo Ricchiuti stets die Anbindungen an Angreifer wie Maxi López suchte. Allerdings war dieses weiträumige Spiel nur selten von Erfolg gekrönt. Zu einfach konnten die strategisch herausragenden Defensivspieler in der Serie A in die Angriffsdynamiken Catanias eindringen und Offensivvorträge der Elefanti zerstören.

Simeone warf zu Beginn seiner Amtszeit nicht alles um, sondern ging zunächst recht zurückhaltend an die Aufgabe heran. Er wollte sich laut eigener Aussage nicht auf eine starre Taktik versteifen. So wechselte Simeone während der Rückrunde oftmals zwischen einem 4-2-3-1 und einem 4-3-1-2 hin und her.

“Du kannst nicht eine favorisierte Formation haben; ganz einfach aus dem Grund, dass du dich als Trainer anpassen musst. Ich denke, das Beste, was ein Trainer tun kann, ist danach zu schauen, was funktioniert für das Team, nicht was einen selbst befriedigt, wenn ich sage: Ich spiele auf diese Weise. Denn einer allein ist nicht wichtig. Einer allein ist nur ein kleiner Teil vom großen Ganzen, das wichtig ist.”

Schauen wir zunächst auf das 4-2-3-1: Hierbei waren die Änderungen im Vergleich zu Giampaolo eher marginal. Ricchiuti spielte als klarer Zehner hinter der Spitze, was zumindest die Offensivmechanismen nicht großartig veränderte. Interessant war allerdings das Spiel gegen den Ball. Denn hierbei zogen sich die offensiven Flügelakteure wie Ezequiel Schelotto oder Giuseppe Mascara stets in eine klare, verengte Mittelfeldviererkette zurück. So blieben die Außen willentlich offen, aber die Mitte war gedeckt, was noch dadurch verstärkt wurde, dass die vordersten Spieler Ricchiuti und López nie die gegnerischen Innenverteidiger anliefen, sondern sich immer um den etwas höher positionierten Sechser stellten.

Juventus - Catania 2:2, Serie A, 34. Spieltag, 23.4.2011, Stadio Olimpico di Torino

Juventus – Catania 2:2, Serie A, 34. Spieltag, 23.4.2011, Stadio Olimpico di Torino

Im 4-3-1-2 war die offensive Herangehensweise etwas progressiver gestaltet, da hierbei flexiblere Bewegungen der Sturmreihe und kurzzeitige Überladungen auf den Flügeln genutzt wurden. Defensiv rutschte das Team dann allerdings häufig wieder in ein verengtes 4-4-2 zurück, wobei Simeone nicht nur auf die schmale Mittelfeldkette Wert legte. Auch die vertikale Kompaktheit sollte stets aufrechterhalten werden, was einen vergleichsweise hohen Laufaufwand zur Folge hatte.

Zunächst verlief der Start bei Catania allerdings wenig erfolgreich, da die Sizilianer beispielsweise gegen direkte Abstiegskonkurrenten wie Parma und Bologna verloren. Allerdings sollten sich die Elefanti nach und nach im neuen Defensivgefüge zurechtfinden. Simeone war es zu jenem Zeitpunkt am liebsten, wenn sein Team nur 25 Prozent Ballbesitz hatte. Interessanterweise bestritt man aber die Auswärtsspiele mit dieser Kontertaktik weniger erfolgreich als die Partien im eigenen Stadio Angelo Massimino. Dort kamen nicht nur die sauberen Defensivmechanismen besser zur Geltung, – vielleicht auch weil man doch mehr Entlastung über längere Ballbesitzphasen schuf – es war auch diese spezielle Mentalität, die Simeone hervorrief. Er befeuerte das Abgrenzungs- und Außenseiterdenken der Sizilianer. Das galt im Endeffekt nicht nur bei den Partien gegen die Festlanditaliener. Sondern ganz besonders deutlich wurde dies auch beim Inselderby gegen den Erzrivalen aus Palermo. Man schickte die Rosanero mit 4:0 nach Hause. Ein weiteres Highlight war das 2:2 bei Juventus, als Catania in den letzten zehn Minuten noch einen Zwei-Tore-Rückstand in ein Remis verwandeln konnte.

Am Ende der Saison wurde der Nichtabstieg durch aufeinanderfolgende Siege gegen Cagliari, Brescia und die Roma unter Dach und Fach gebracht. Simeone war der gefeierte Mann in Catania, löste jedoch im Einverständnis mit der Klubleitung, wie es zumindest offiziell hieß, seinen Vertrag auf. Während seiner kurzen Amtszeit hatte er nicht nur Bewunderer gewonnen, was allerdings nicht an seiner sehr defensiven Ausrichtung lag, sondern vielmehr an der Art und Weise, wie er das Team vom Mentalen her weiterformte und wie er sich öffentlich beziehungsweise in den Medien präsentierte. Für kurze Zeit erinnerte Catania eher an Fidel Castros kleine Revolutionsarmee, die die verhassten Bonzen von Kuba vertreiben wollte, als an ein professionelles Fußballteam.

“Ich hatte viele großartige Trainer, welche viele Eindrücke bei mir hinterließen. Aber, ich denke, es wäre respektlos gegenüber diesen, wenn ich mit ihnen vergleichen werde. Über allem identifiziere ich mich mit mir selbst, mit dem, was mir meine Augen zeigen und was ich fühle.”

Warmlaufen für Madrid

Am 21. Juni 2011 wurde Simeone einmal mehr Nachfolger von Miguel Ángel Russo. In diesem Fall beim Racing Club de Avellaneda, wo er bereits als Trainer aktiv war. In dieser wiederum ungefähr halbjährigen Amtszeit erreichte er mit dem Traditionsklub aus dem Ballungsraum von Buenos Aires einen starken zweiten Platz im Torneo Apertura. Bedenkt man, dass Racing Club im Halbjahr davor nur den 17. Rang belegte, war mit der Ankunft Simeones ein deutlicher Aufschwung zu erleben.

In dieser Spielzeit setzte er meist auf ein klar asymmetrisches 4-2-3-1. Dabei agierte der Rechtsaußen Gabriel Hauche höher als sein Pendant auf der anderen Seite. Oftmals war dies Luciano Aued, der mehr oder weniger als verkappter Achter fungierte und demnach des Öfteren hinter dem Linksverteidiger oder sogar dem linken Sechser im Spielaufbau absicherte. Mit Lucas Castro als Linksaußen versuchte es Simeone ein wenig symmetrischer. Doch insgesamt war Hauche, der in 16 Spielen allerdings nur fünf Scorerpunkte verbuchte, der Schlüssel- und Zielspieler bei Racing. Folglich wurden in Umschaltsituationen häufig Diagonalbälle direkt in seine Richtung gespielt, während Mittelstürmer Téofilo Gutiérrez für kurzzeitige Flügelüberladungen ebenfalls nach rechts auswich. Jedoch hatten die Gegner in der Primera División diesen Kniff irgendwann durchschaut, sodass viele offensichtliche Diagonalzuspiele abgefangen wurden.

Racing Club 2011

Racing Club 2011

Simeone reagierte beispielsweise mit der Umstellung auf ein 4-3-1-2 in manchen Partien. Dabei schob er Hauche auf die Höhe von Gutiérrez, während der offensivere, rechte Sechser – oftmals Patricio Toranzo – etwas breiter stand. Somit wurden die Passmuster aus dem Mittelfeld heraus verändert. Racing eroberte den Ball nicht mehr vornehmlich halblinks, wo sie durch die tiefere Stellung des Flügelspielers und des linken Sechsers geballter verteidigten. Der bereits erwähnte rechte Sechser schob ansonsten im herkömmlichen 4-3-2-1 immer etwas stärker nach vorn, um die Anbindung zu Hauche auf diese Weise zu erhalten. Doch über diese Raute, die es als Alternativformation gab, konnte Racing den Ball einfacher horizontaler durchs Mittelfeld passen.

Eine weitere Komponente des Offensivspiels unter Simeone waren die fluiden Bewegungsmuster einerseits von Neuner Gutiérrez und andererseits vom schlaksigen Zehner Giovanni Moreno. Insbesondere gegen kompakt verteidigende Teams taten sich beide durch ständige gegenläufige Pendel- oder gemeinsame Ausweichbewegungen hervor. Moreno war zudem ein essentieller Part, wenn Racing eher auf Konterfußball eingestellt war. Denn dann schirmte er meist den Ball nach dem ersten offensiven Umschaltpass ab und leitete das Spielgerät anschließend weiter. Bei längeren Schlägen versuchte sich Gutiérrez zudem an gezielten Ablagen, ohne die Angriffsdynamik zu zerstören. Der Kolumbianer tat sich gerade nach der Hälfte der Meisterschaftsrunde nicht unbedingt als Torjäger hervor, aber er war wichtig für die vorderste Ballzirkulation, ähnlich wie auch heute bei River Plate. Übrigens im Kader von Racing war auch ein 17-jähriger Angreifer namens Luciano Vietto, den Simeone in diesem Sommer von Villareal zu Atlético lotste. Damals kam Vietto gerade aus der Jugend von Simeones Ex-Klub Estudiantes de La Plata zu Racing. Gegen CA Lanús gab ihm Simeone seine ersten Einsatzminuten im argentinischen Oberhaus.

Zur Defensivkonzeption von Simeones Racing-Mannschaft ist eher wenig Spektakuläres zu sagen. La Academia verteidigte normalerweise mit einer sehr verengten Viererkette, wodurch die beiden Flügelspieler häufig zu langen Läufen gezwungen wurden, um die jeweilige Außenbahn zu verteidigen. Oder aber der ballnahe Sechser rückte nach außen und schloss die Lücke, wenn es die gegnerische Dynamik erforderte. Die beiden vordersten Akteure agierten meist eher passiv und gingen selten in aggressives Anlaufen des gegnerischen Spielaufbaus über. Dafür funktionierte gerade das Rückwärtspressing von Gutiérrez in manchen Szenen wunderbar. An sich bot Simeone auch bei dieser Trainerstation kein taktisches Spektakel, aber dafür sehr solides Handwerk. Seine durchaus talentierte Mannschaft errang immerhin den zweiten Platz und musste erst in den letzten vier Partien die ersten beiden Niederlagen einstecken, wobei der Abstand zum Tabellenführer Boca Juniors eh schon zu groß war. Das torlose Remis am 15. Spieltag im La Bombonera ließ auch die kleinsten Meisterschaftshoffnungen verpuffen.

Der Rest ist Geschichte

Kurz vor Heiligabend des Jahres 2011 stellte Atlético Madrid seinen neuen Trainer vor. Simeone ersetzte Gregorio Manzano, nachdem dieser im Pokal gegen den Drittligisten Albacete Balompié verloren hatte. Die Saison endete mit dem ersten großen Titel in Form des Europa-League-Siegs gegen Athletic Club in Bukarest. Es sollte nicht der letzte Pokal bleiben.

Atlético Madrid - Athletic Club 3:0, Europa League, Finale, 9.5.2012, Arena Națională

Atlético Madrid – Athletic Club 3:0, Europa League, Finale, 9.5.2012, Arena Națională

Diego Simeone ist ein gutes Beispiel für einen Trainer, der keineswegs ein Dogma in strategischen und taktischen Fragen verfolgt. Seine bisherigen Stationen waren meist von großem Pragmatismus geprägt. Sicherlich tauchten einzelne Facetten immer wieder auf: Physisch starke Zielstürmer, variable Sechser und diszipliniertes Kettenspiel. Doch rein formativ variierte er in vielen Fällen. Phasenweise vertraute Simeone auf einen spielstarken Trequartista. Oder aber er ließ ein sehr variables 4-4-2 mit diagonalen und vorstoßenden Bewegungen einstudieren. Auch bei Atlético setzte er nicht direkt von Anfang an auf das mittlerweile bekannte 4-4-2 mit enger Mittelfeldkette und breiten Außenverteidigern. Beispielsweise spielte Diego als Zehner zu Beginn von Simeones Amtszeit noch eine große Rolle. Bei seiner Rückkehr in der Meisterschaftssaison konnte sich der Brasilianer als einrückender Flügelspieler nicht mehr an das kollektivtaktisch ausgefeilte Gebilde anpassen, wenngleich verkappte Achter auf Außen wie aktuell Koke und Saúl Ñíguez in den letzten Jahren zu einer wichtigen Komponente von Simeones taktischem Korsett gehörten.

Dass er trotzdem über die Jahre hinweg vor allem auf das zunächst simpel wirkende 4-4-2 zurückgriff und immer noch darauf zurückgreift, hat sicherlich auch etwas mit der südamerikanischen und argentinischen Spielkultur in den letzten Jahrzehnten zu tun, wo eher einfache Formationen erst durch bestimmte Rollenverteilungen, Asymmetrien und Rochaden mit Leben gefüllt werden. Diese Tüfteleien sind es, die Cholo Simeone wie nur wenige andere Trainer auf der Welt beherrscht.

“Ich empfinde ihn als obsessiv. Ein unermüdlicher Schüler des Fußballs im Sinne von Hiddink, taktisch offensiv im Stile eines Bielsa, aber meist extrem intelligent.” (Pablo Gerchunoff, Wirtschaftshistoriker und Universitätsprofessor)


Teil 1 des Porträts | Teil 2 des Porträts | Teamporträt zu Atlético 2013/14 | Analyse zu Atléticos Hinrunde 2014/15

Türchen 23: Arrigo Sacchi

$
0
0

Aus einem provinziellen Querkopf wird eines der meist beachtetsten Masterminds des Weltfußballs. Arrigo Sacchi steht wie nur wenige andere Trainer für die Evolution des Spiels. Und er steht wie nur wenige andere im Sport für Paradigmenwechsel.

Seine Karriere verlief nicht wie von so vielen, die zunächst auf dem Feld Erfolge feiern und später die Transformation zum Fußballlehrer schaffen. Sacchi ist der Schuhverkäufer aus der italienischen Provinz, der sich schon in der Kindheit eher in der Rolle des Schachspielers statt in der einer Schachfigur sieht. Seine Berufswünsche: Dirigent, Regisseur oder Fußballtrainer.

“Ich hatte einen guten Lehrer, der mir erklärte, dass es der Trainer ist, der einer Mannschaft ihr Spiel gibt, so wie ein Autor, der eine Idee hat und daraus eine Geschichte schreibt”, rekapituliert Sacchi später. “Der Gedanke, elf Menschen beizubringen, sich wie eine einzige Person zu bewegen, macht mir immer noch Gänsehaut.”

Er selbst schnürt über ein Jahrzehnt lang die Stiefel für den Fusignano CF aus seiner Heimatstadt, muss aber in der Schuhfabrik seines Vaters für den wirtschaftlichen Erfolg der Familie schuften. Während dieser Zeit trägt Sacchi keine Scheuklappen. Er beobachtet mit offenen Augen die Großen des Sports. Insbesondere Ajax und die niederländische Nationalmannschaft – die Vorreiter des Totaalvoetbal – begeistern den Jungen aus der Provinz Ravenna.

Ihm gefallen “immer schon Mannschaften, die ein Spiel dominieren, den Ball besitzen wollen und Emotionen bei den Zuschauern wecken.” Einzelspieler sind dann nicht mehr wichtig. Italienische Teams dominieren gerade in den 1960er Jahren, langweilen aber gelegentlich das Publikum – unter ihnen auch Sacchi: “Für mich waren nicht so sehr die Erfolge wichtig, als vielmehr die Art, wie diese zustande kamen.”

Geistig ist Sacchi bereits früh in seiner Karriere auf einem absoluten Spitzenniveau. In der Theorie weiß er, wie ein modernes – und damit pressingstarkes sowie ballbesitzdominantes – System auszusehen hat. Ihm fehlen jedoch das Renommee und auch das Selbstbewusstsein. In den Niederungen des italienischen Fußballs will keiner seine Spinnereien hören.

Sacchis Trainerkarriere beginnt in seiner Heimat. Ganz unspektakulär. Mit 26 hängt er seine Schuhe an den Nagel und übernimmt einen Posten bei Baracca Lugo. Es ist für ihn eine “Lehrphase”. Denn dort respektiert ihn niemand. “Mein Torhüter war 29 und mein Stürmer 32. Ich musste sie für mich gewinnen”, analysiert Sacchi rückblickend. Sein damaliges Ich bezeichnet er als “fleißigen Arbeiter”. Wenig deutet auf seine Genialität hin. Viel jedoch auf seine Besessenheit. Er lässt seine Spieler täglich antanzen. Zuvor undenkbar.

Sacchi in den 1980er Jahren. Quelle hier.

Sacchi in den 1980er Jahren. Quelle hier.

Stationen in den benachbarten Cesena und Rimini bedeuten: Juniorenfußball oder Regionalliga. Das soll sich zunächst auch nicht ändern, als er die Jungtalente der Fiorentina betreut. Seine Zonendeckung dominiert die engen Mann-zu-Mann-Schemen der kleinen Klassen. Es sind aber seine Leidenschaft und Hingabe, die andere Vereine aufhorchen lassen.

1985 folgt der Schritt zum S.S.D. Parma. Sacchi reift, obgleich er immer noch in den Niederungen trainiert. Sein Konzept der Universalität hebt die Parmigiani schnellstens in eine exponierte Stellung innerhalb der Serie C1. Sacchis Faible für den totalen, den niederländischen Fußball findet nun Anklang. Seine Spieler sollen sich auf diversen Positionen wohl fühlen. Er möchte ihre Fähigkeitenpalette erweitern.

Bereits in Fiorentinas Jugend und mit der Amateurmannschaft Riminis lässt er seine Kicker auf dem Feld rotieren. Nur ein kompletter Spieler ist ein Sacchi-Spieler.

Und er hat mittlerweile das Selbstbewusstsein, um gestandene Routiniers von seinen Ideen zu überzeugen. Sie müssen härter arbeiten. Für ihn müssen sie geistig flexibel sein. Sacchis Pressingsystem verlangt viel. Die Linien bleiben ständig kompakt. Es braucht Absicherungen zur Restfeldverteidigung. Im Konter- und Umschaltspiel müssen fünf Meter pro Sekunde zurückgelegt werden. In Ballbesitz sind alle konstant in Bewegung.

Soweit so gut. Aber man beachte: Mitte des Jahrzehnts steckt er in der Serie C1. Doch schon vier Jahre später gewinnt Sacchi den European Cup. Wie kommt es zum kometenhaften Aufstieg?

Eine wichtige Schlüsselfigur in Sacchis Karriere spielt der geborene Bösewicht Silvio Berlusconi. Der Medienunternehmer wird 1986 Besitzer des A.C. Milan. Damals noch mit Nils Liedholm an der Seitenlinie. Der Schwede befindet sich in seiner zweiten Amtszeit bei den Rossoneri, wird aber bald schon von Sacchi ersetzt.

Dieser erinnert sich an die Vorkommnisse jener Tage: “Wir waren mit dem AC Parma gerade in die zweite Liga aufgestiegen und hatten den AC Mailand überraschend zweimal im Pokal mit 1:0 besiegt. Nach unserem ersten Sieg sagte Silvio Berlusconi zu mir, er werde meinen Weg aufmerksam verfolgen. Nach dem zweiten Sieg gab er mir einen Vertrag.”

Mit einem Schlag trainiert Sacchi nicht mehr die Marco Ferraris und Walter Dondonis dieser Welt. Seine Spieler tragen nun klangvolle Namen wie Franco Baresi oder Marco van Basten. Die Skepsis ist anfangs groß. Doch mit Berlusconis Geldbeutel und Sacchis Gehirn werden die Rossoneri zu Unsterblichen.

Steve Amoia von World Football Commantaries beschreibt die Beziehung der beiden wie folgt: “Ähnlich wie Sir Bobby Robson und Louis van Gaal für den jungen, weithin unbekannten José Mourinho war Berlusconi ein Förderer Sacchis. Er erkannte sein Talent und setzte auf ‘Mister Nobody’, um Sacchi zu zitieren. Das Resultat waren acht Pokale in vier spektakulären Jahren.”

Gli Immortali Teil 1: Der schnelle Scudetto

“Er war sehr hart. Das Training war manchmal etwas verrückt”, erinnert sich Paolo Maldini, der mit Sacchi seinen Aufstieg im Profifußball erlebt. “Er ließ dich dieselben Dinge ständig wiederholen – vor allem uns Verteidiger. Jeden Tag. Aber wenn Baresi, Costacurta, Tassotti und ich uns heute treffen, dann können wir immer noch wie damals spielen. Es bleibt im Kopf. Das war eines unserer Erfolgsrezepte.”

Milan 1987/1988

Milan 1987/1988

Sacchi führt bei den Rossoneri eine heute geläufige Trainingsform ein: so genannte Trockenübungen. Seine Spieler müssen als Kollektiv, aber ohne Ball, ihre Formation halten. Und gegebenenfalls auf den Gegner reagieren.

Einer Erzählung zufolge verstecken sich hin und wieder Spione in den Gebüschen. Doch sie können Sacchis Training keine Erkenntnisse abgewinnen. Es fehle schließlich der Ball. Wahrscheinlich ist dieser Amateur verrückt geworden. Sacchi lacht zuletzt.

1987/1988, in seiner ersten Saison, gewinnt er den Scudetto und verweist Vorjahressieger Napoli auf Rang zwei. Die Rossoneri bestechen durch eine derart raumintelligente Spielweise, dass viele Gegner schlichtweg überfordert sind, mit dem was ihnen präsentiert wird.

Wichtiger Schlüsselspieler ist Carlo Ancelotti. Im System Sacchis agiert er zunächst als zentrale Figur im Mittelfeld. Der damals 28-Jährige muss größere Zonen bewachen, erhält aber die Unterstützung von einem ganzen Quartett an Spielern. Insbesondere Baresi schiebt häufig aus der Abwehr heraus. Aber auch Freigeist Ruud Gullit spielt einen essentiellen Part. Obwohl der Niederländer zuweilen als nomineller Außenstürmer aufgeboten wird, zeichnet ihn ein diagonales Rückzugsverhalten aus, wodurch er die Spitze einer situativen Raute ausfüllt.

Interessanterweise kommandiert Sacchi seine beiden eigentlichen Flügelspieler zu drastischer Defensivarbeit ab. Die einrückenden, raumverdichtenden Bewegungen um Ancelotti herum kreieren einen engen Mittelfeldblock.

2015-12-23_AC-Milan_Defensiv_1987-88

Der Linksverteidiger rückt auf den Ballführenden heraus und nutzt seinen Deckungsschatten, um das Zuspiel auf den Flügelstürmer zu verhindern. Der Nebenmann blockiert außerdem den inneren Passweg.

Der ballnah vorrückende Außenverteidiger stopft unterdessen den Freiraum an der potenziell gefährdeten Außenseite des Blocks.

Sacchis Verteidiger operieren vielfach mit Elementen wie Deckungsschatten und Passwegbedrohung. Für das Auge des italienischen Beobachters mag ein aggressiv vorstoßender Außenverteidiger wie Harakiri aussehen, ist aber in Wirklichkeit das beste Mittel, um schnelle Flügelangriffe zu verhindern.

Sie missachten Manndeckungsschemen und kleben folglich an keinem Stürmer. Passwege und Bewegungszonen werden höher gewichtet als Eins-gegen-Eins-Duelle.

Mit 43 Toren in der Serie A erzielen die Rossoneri keine beachtliche Anzahl an Toren. Marco van Basten kämpft mit Verletzungen. Pietro Paolo Virdis erzielt als bester Torjäger immerhin elf Treffer.

Daniele Massaro findet sich im System von Sacchi nur schwerlich zurecht. Beide führen vermehrt hitzige Diskussionen. Massaro bleibt auf der Strecke.

2015-12-23_AC-Milan_Aufbau2_1987-88

Einfacher Verschiebemechanismus infolge von Ancelottis seitlicher Rückfallbewegung.

Die Bewegungen der Angreifer sind in dieser Spielzeit vor allem Beiwerk. Sie initiieren nichts, sondern reagieren nur. Seitlich ausweichende Läufe fungieren lediglich als Mittel, um die Breite im letzten Spielfelddrittel zu besetzen, sofern die nominellen Außenspieler diagonale Wege nach innen gehen. Oder Milans Angreifer wollen sich lediglich der gegnerischen Manndeckung entziehen.

Im Spielaufbau ist einmal mehr Ancelotti der Fixpunkt, aber im selben Moment auch der Gestalter. Seine herauskippenden Initialbewegungen fordern die Mitspieler zum Handeln auf.

Mechanisch präzise – aber doch flüssig im Kollektiv – verschieben Gullit und Co., sodass sich automatisch Dreiecke ergeben. Die fluide, makrotaktische Ausrichtung in Kombination mit dem intelligent mikrotaktischen Einzelspielerverhalten generiert eine Ballzirkulation ohne abruptes Abstoppen.

2015-12-23_AC-Milan_Aufbau_1987-88

Gullits diagonale Bewegungen erzeugen ein Dreieck mit dem herausgekippten Ancelotti. Baresi füllt die Lücke.

Falls das Milan der Saison 1987/1988 einen Fehler hat, dann ist es die direkte Zweikampfführung im defensiven Umschalten. Baresi zeigt große Gegenpressingpräsenz im Mittelfeld. Über die Flügel hingegen sind die Lombarden hin und wieder anfällig.

Sie gewinnen den Scudetto, scheiden aber im UEFA Cup bereits in der zweiten Runde gegen den späteren Finalisten RCD Español aus. Eine 0:2-Niederlage im Hinspiel in Lecce verkommt zum Tiefpunkt der Saison.

Die Presse schreibt bereits von einer bevorstehenden Entlassung. Aber Berlusconi, Sacchis Förderer, taucht umgehend auf dem Trainingsgelände Milanello auf.

“Diesen Trainer habe ich gewählt und er genießt mein absolutes Vertrauen. Wer seinen Ideen folgt, kann bleiben, alle anderen müssen gehen”, macht der Präsident den Spielern deutlich.

Gli Immortali Teil 2: Der erste Henkelpott

Im zweiten Jahr der Sacchi’schen Amtszeit drehen sie das Momentum auf internationalem Parkett. Während in der heimischen Serie A lediglich ein dritter Platz sowie ein zwölf Punkte großer Abstand auf Stadtrivale Internazionale zu Buche stehen, triumphieren die Rossoneri im European Cup.

Milan 1988/1989

Milan 1988/1989

Sie liefern sich große Schlachten mit Crvena Zvezda und Werder Bremen. Sie zerlegen Real Madrid im Halbfinale in alle Einzelteile. Und im Endspiel erlebt Steaua București sein rot-schwarzes Wunder. Keiner schmunzelt mehr über Sacchi.

Der Kader bleibt nahezu unverändert. Eine Ergänzung ist zugleich das letzte Bausteinchen in Sacchis Maschinerie, das zuvor fehlt. Frank Rijkaard kommt von Sporting, nachdem er sich bei Ajax mit Trainer Johan Cruijff überwirft. Bei den Portugiesen kann er aufgrund eines zu spät stattgefundenen Transfers nicht antreten. Die Karriere des Niederländers befindet sich in der Schwebe. Da kommt der Anruf Sacchis zur rechten Zeit.

Der Maestro stellt nun konsequent auf 4-4-1-1 um. Van Basten kommt wieder zu Kräften und schießt Tor um Tor. Gullit bleibt Freigeist, findet sich aber in einer verbindenden Rolle wieder. Rijkaard sorgt an der Seite Ancelottis für physische Imposanz und strategisches Denken. Die Flügelspieler erhalten bei Ballbesitz größere Freiheiten. Erst jetzt sind sie wirklich die Unsterblichen.

Rijkaard ändert die gesamte Balance der Mailänder Mannschaft. Muss Ancelotti vorher noch an seine Grenzen gehen, um die horizontal weiträumige Position im zentralen Mittelfeld auszufüllen, ist es nun Rijkaard der zum zentralen Raumblocker wird. Baresi startet häufiger von der halblinken Seite, weil er nun eher das Loch neben Rijkaard füllen muss.

Zudem offeriert der niederländische Neuzugang weitläufige Box-to-Box-Bewegungen und damit eine neue physische Komponente im Angriffsspiel. Die breitere Formation ermöglicht Flankenangriffe. Rijkaards sowie Van Bastens und Gullits Präsenz im Strafraum des Gegners dienen als passendes Werkzeug, um einfache Tore auf die Anzeigetafel zu bringen.

2015-12-23_AC-Milan_Aufbau_1988-89

Ancelotti als Ballverteiler an der Seitenauslinie. Rijkaard besetzt die große Zone im Mittelfeld, während aus der Innenverteidigung ein Spieler nachschiebt.

Ancelotti rückt unterdessen in eine verstärkt abseitige Rolle. Im Dreieck mit Donadoni und dem jungen Maldini gibt Carletto zunehmend den Spielgestalter an der Seitenlinie. In der ersten Aufbauphase postiert er sich sehr breit und empfängt fernab des gegnerischen Zugriffs den Ball. Anschließend bieten ihm Donadoni eine diagonal-offensive, Maldini eine vorderlaufend-dynamische und Rijkaard eine horizontal-statische Anspieloption.

Infolge dieser kleinen Rochaden und mit entsprechenden gruppentaktischen Elementen sind die Rossoneri für die Manndeckungsfetischisten der Fußballwelt nur schwer zu greifen. Es befreien sich nicht nur einzelne Spieler als autonome Individuen. Sie lösen die Fesseln der Bewachung in einem organisch, durchstrukturierten Prozess. Nicht jeden Mechanismus zeichnet Sacchi im Vorhinein auf die Taktiktafel. Vieles entsteht in den Köpfen seiner Spieler. Sie erlangen ein neues Verständnis für Raumstrukturen.

Wie beschreibt es Sacchi selbst? “Wir trainierten, um die Bewegungen aller elf Spieler zu synchronisieren. Der Grundgedanke war, ein Bewusstsein für die Zusammenhänge dieses Spiels zu schaffen. Alle elf Spieler sollten immer in einer aktiven Position sein, mit oder ohne Ball.”

Ebenso funktionieren die einfachen Abläufe. Rijkaard bietet sich für Vertikalpässe zwischen der zweiten und dritten Linie des Gegners an. Mauro Tassotti und Angelo Colombo doppeln die rechte Seite. Maldini zeigt intelligente Diagonalbewegungen mit und gegen den Ball. Entscheidungsfindungen wie auch reale Bewegungen des Jungtalents sind äußerst explosiv.

Die 4-4-2-Pressingformation ermöglicht derweil neue Variabilität, um auf etwaige tiefe Positionierungen des gegnerischen Spielmachers oder das schnelle Herausspielen auf einen Außenverteidiger zu reagieren.

Van Basten und Gullit verhalten sich als vorderste Linie sehr diszipliniert. Sie belauern den zentralen Passweg, bleiben mit kurzen Schulterblicken aufmerksam und wissen folglich, wann und wohin sich ein Gegenspieler in ihrem Rücken bewegt. Jedoch lassen sie sich nicht dazu verleiten, Verfolgungsläufe zu starten. Denn eben jene würden die Statik des Sacchi’schen Pressings arg gefährden.

2015-12-23_AC-Milan_Pressing_1988-89

Herausrücken Ancelottis. Donadoni belauert den Flügelpassweg. Im Zentralen Mittelfeld wird horizontal nachgeschoben. Der Linksverteidiger kann gegebenenfalls im Halbraum vorstoßen.

Vielmehr sind sie sich im Klaren darüber, dass bei erfolgreichem Initialpass des Gegners, ein Mitspieler aus dem Mittelfeld herausrücken wird. Zudem sind die beiden niederländischen Offensiven in entsprechende Abläufe zum Attackieren des ballempfangenden Außenverteidigers eingebunden. Sobald das gegnerische Team nach außen spielt, stößt der jeweilige ballnahe Zentralspieler nach vorn und nimmt dem Außenverteidiger die Sicht.

Milan steht nun im 4-3-3. Der verbliebene Sechser sowie die beiden Flügelakteure ziehen sich langsam mit Tendenz zur ballnahen Seite zusammen. Der lineare Passweg auf dem aktiven Flügel wird belauert. Gegebenenfalls kann der jeweilige Außenverteidiger in den Halbraum vorstoßen und ein kurzzeitiges 3-4-3 erzeugen. Die Lombarden zerstören jede erdenkliche Möglichkeiten für den Gegner, um Raumgewinn zu verbuchen. Sacchi hat eine perfekte Pressingmaschine erschaffen.

Gli Immortali Teil 3: Die Titelverteidigung und der Abschied

In der darauffolgenden Saison gelingt ein Kunststück, das bis heute keine Mannschaft mehr wiederholen konnte. Milan verteidigt den European Cup.

In der Serie A müssen sie sich mit Rang zwei hinter Maradonas Napoli begnügen. Der Kader bleibt weitestgehend unverändert. Sacchi ist zufrieden mit dem, was er hat.

Auf internationaler Bühne muss sich erneut Real Madrid geschlagen geben. Im Halbfinale kommt es zum mit Spannung erwarteten Duell gegen Bayern München. Nach einem 1:0 im San Siro gleicht Thomas Strunz im Rückspiel nach rund einer Stunde aus. Es geht in die Verlängerung. Ersatzstürmer Stefano Borgonovo erzielt das wichtige Auswärtstor. Den Bayern gelingt nur noch ein weiterer Treffer, sodass Milan im Wiener Praterstadion den Titel durch ein knappes 1:0 gegen Benfica verteidigen kann.

Milan 1989/1990

Milan 1989/1990

Den Zenit scheint Sacchis Mannschaft langsam überschritten zu haben. Die mangelnde Auffrischung des Kaders ist ein Faktor. Zum anderen laugt Sacchis Training bis zum letzten Tropfen Blut aus. Auch der Maestro bemerkt Erscheinungen des Lagerkollers.

“Ich gab alles und forderte auch alles. Nach dem dritten Jahr war ich ausgelaugt. Die italienische Fußballszene sah in mir einen Umstürzler. Ich musste gegen alles kämpfen, auch gegen weite Teile der Presse. Das war ein großer Druck”, gesteht Sacchi selbst ein. “Ich habe 16 Stunden am Tag gearbeitet und nur an Fußball gedacht. Wie ein Besessener. Ich war überzeugt, dass man immer noch mehr und alles besser machen konnte.”

Dies gelingt dem notorischen Sonnenbrillenträger jedoch nur bedingt. Die Spielzeit 1989/1990 wird einerseits von besser austarierten Grundelementen, aber andererseits von einer größeren Gleichförmigkeit geprägt.

In der zweiten Pressingphase erfolgt die Trichterbildung nun in mechanischer Präzision. Die meisten Akteure befinden sich im dritten Jahr unter der Aufsicht Sacchis. Sie atmen, essen und schlafen mittlerweile seine Art von Pressingfußball.

Auch die Defensivvorstöße der Außenverteidiger sind perfekt abgesichert. Beide Sechser lassen sich genau zu jenem Punkt zurückfallen, an dem kein diagonaler Schnittstellenpass, sobald der Außenverteidiger seine Position verlässt, mehr möglich ist.

Die erste Pressingphase verliert jedoch ihr gewisses Etwas. Nun stürmen die Flügelspieler frontal auf die Außenverteidiger des Gegners zu. Diagonalität und Asymmetrie lassen in Gänze nach. Individuelle Fehler sowie leichte Abstimmungsschwierigkeiten in der Abwehrkette nehmen derweil zu. Der seitliche Ballfokus wird hin und wieder zur Falle. Gefährliche Topteams können mit schnellen Horizontalverlagerungen eben jene lokale Kompaktheit Milans für sich nutzen.

Aber: Die Rossoneri bleiben eine, wenn nicht sogar die beste Defensivmannschaft weltweit. Kleine Aussetzer wie gegen Bayern München im Halbfinale des Europapokals oder gegen Juventus im Finale der Coppa Italia wären verkraftbar, würde nicht die Offensivmaschinerie der Lombarden zunehmend ins Stocken geraten.

Ancelotti fällt phasenweise aus. Der Druck lastet auf den breiten Schultern Rijkaards. Der Niederländer ist überall zu finden. Sieht man ihn gerade noch abgekippt zwischen den beiden Innenverteidigern, ist er plötzlich im offensiven Halbraum und bedient mit einem geraden Schnittstellenzuspiel den nächstbesten Flügelangreifer. Doch allein kann er die nachlassenden Verbindungen im Mittelfeld nicht kitten.

Baresi greift immer häufiger zum langen Ball. Der Gegenpressingzugriff im Mittelfeld wird schwächer. Die Rossoneri wirken ihrerseits anfällig für frühes Pressing und Zonendeckung im zweiten Drittel. Sacchis Revolution scheint ihn langsam aufzufressen.

Rückblickend sagt er: “Drei Mannschaften haben den Fußball vorangebracht: Ajax Amsterdam, der AC Mailand und heute der FC Barcelona. Alle drei sind festgelegt auf Ballbesitz und schnelle Rückeroberung des Balles.”

Diese Dominanz geht zum Ende seiner Amtszeit verloren. Die Saison 1989/1990 schließt Milan noch erfolgreich ab. In der darauffolgenden Spielzeit sind die Risse zwischen Trainer und Mannschaft nicht mehr zu übersehen. Sacchis fordernde Art hinterlässt ihre Spuren. Der ausbleibende Erfolg in der Serie A ruft Kritiker auf den Plan.

Das eher unrühmliche Ende ist Milans Ausscheiden gegen Olympique Marseille im European Cup, als sich die Lombarden nach einem Stromausfall im Rückspiel weigern, die Partie fortzusetzen, und daraufhin aus dem Wettbewerb ausgeschlossen werden.

Sacchi selbst gilt allerdings schon lange als Trainergenie. In Italien, also in dem Land, das er aus dem Dornröschenschlaf gerissen hat, wird er trotz seiner eigenwilligen Art gefeiert. Die Medien und Tifosi nennen ihn den “Propheten von Fusignano”.

ESPNs John Brewin fasst es so zusammen: “Auf dem Milanello steht eine Sporthalle, wo das physisch anspruchsvolle Pressingspiel den Feinschliff verpasst bekam. Mittlerweile unbenutzt steht es als Monument für Sacchi. Der italienische Fußball war ängstlich defensiv – bis Sacchi ihn ergriff.”

Gli Azzurri: Die Kulturrevolution

Die Nationalmannschaft steckt Anfang der 1990er Jahre in einer gehörigen Krise. Die Weltmeisterschaft im eigenen Land wird nicht gewonnen. Für die anstehende EURO ist die Qualifikation quasi abgeschrieben.

Im Hinblick auf die kommende WM greift der Verband deshalb auf die Geheimwaffe des heimischen Fußballs zurück. Arrigo Sacchi ersetzt 1991 den gescheiterten Cesenati Azeglio Vicini. Bei seinem Debüt gegen Norwegen reicht es nur zu einem Remis. Die EURO 1992 ist damit endgültig verloren. Das Ziel ist jedoch der Wiederaufbau der Squadra Azzurra.

Bei diesem Vorhaben setzt er defensiv auf die ihm bekannte Achse bestehend aus Maldini, Costacurta und Baresi. Offensiv ist der 1993er Weltfußballer Roberto Baggio der Fixpunkt. Gewiss vermisst Sacchi die Qualitäten seiner Niederländer. Aber mit Baggio sowie den Rossoneri Donadoni und Massaro kann er an einem stimmigen System arbeiten. Ein System, das – wenig überraschend – jenem vom Milan der 1980er stark ähnelt.

Formationsvarianten der

Formationsvarianten der Squadra Azzurra 1994

Sacchi muss sich allerdings der Kritik erwehren, wonach er Spieler seines ehemaligen Klubs, mit dem ihm immerhin der internationale Durchbruch gelingt, bevorzugt. Inters Walter Zenga und Giuseppe Bergomi, Sampdorias Roberto Mancini sowie Juves Gianluca Vialli werden für die WM nicht nominiert. Mit jedem Einzelnen liegt Sacchi im Streit.

Eine andere Lesart: Er nominiert nur Spieler, denen er hundertprozentig vertraut. Guten Gewissens muss er davon ausgehen, dass sie in jeder Situation die Intensität im Pressing hochhalten. Die Gier nach dem Ball, der Wille zur Dominanz – sie dürfen nicht abflauen.

Der Einzug ins Finale gegen Brasilien untermauert schlussendlich den Status Sacchis und rechtfertigt in der Öffentlichkeit seine Methoden.

Zudem stellt er unter Beweis, dass er mehr kann, als seine Spieler durch die wöchentliche Knochenmühle zu schicken. Mit der Squadra kann er nur sehr selten arbeiten. Die Nominierten unterliegen den Einflüssen ihrer Vereinstrainer. Umso stärker muss Sacchi seinen Stil ändern. Er kann keine Dogmen lehren. Er muss – mehr als je zuvor – als verständnisvoller Lehrer auftreten.

Die Trockenübungen und Pressingeinheiten aus seiner Mailänder Zeit kann er allenfalls in der unmittelbaren WM-Vorbereitung unterbringen. Bis dahin bereitet sich Sacchi akribisch vor. Er durchdenkt über zwei Jahre hinweg, jedwede Formationsmöglichkeit. Er beobachtet penibel die einzelnen Spielertypen, die in Frage kommen. Sacchi feilt bis ins letzte Detail an den Übungen, die dann im Sommer 1994 Anwendung finden.

2015-12-23_Italien_Skizze-Positionen

Von Sacchi skizzierte 4-3-3-Grundordnung sowie die dazugehörigen Aufrückbewegungen

Die Weltmeisterschaft ist von ihm und seinen Assistenten – darunter sein ehemaliger Spielgestalter Carlo Ancelotti – generalstabsmäßig durchgeplant. Die Weltmeisterschaft droht zum Debakel zu verkommen. Die Italiener verlieren ihr Auftaktspiel in East Rutherford gegen Irland mit 0:1. Es folgen ein knapper Sieg gegen Norwegen sowie ein Remis gegen Mexiko. Als einer der besten Gruppendritten kann Italien am Achtelfinale teilnehmen.

Dort schlagen sie in einer dramatischen Partie Nigeria in der Verlängerung. Die Entscheidung bringt Roberto Baggio – per Elfmeter. Zwei weitere 2:1-Siege gegen Spanien und Bulgarien bescheren den Finaleinzug. Im trägen Endspiel von Pasadena muss am Ende die Entscheidung im Elfmeterschießen gesucht werden.

Ministerpräsident Berlusconi verspricht Sacchi einen Kabinettsposten, sollte er den Weltpokal nach Hause bringen. Später scherzt Sacchi: Baresi, Massaro und Roberto Baggio verbauen ihm die politische Karriere. Das brasilianische Team um Dunga und Romário triumphiert zum vierten Mal bei einer WM.

Was zeichnet die Italiener im Jahr 1994 aus? Sacchis präferierte 4-4-2-Strukturen sind in Ansätzen erkennbar, aber fluider als bei Milan. Tendenziell agiert das Team aus einem 4-1-2-3 heraus.

Sacchi bindet alle zehn Feldspieler in das Liniensystem ein. Lediglich Roberto Baggio erhält gewisse Freiheiten, die er zu nutzen weiß. Der Starstürmer lässt sich gelegentlich in den Zwischenlinienraum fallen und nimmt zwischen den gegnerischen Manndeckern das Spielgerät auf. Anschließend verzögert Baggio kurz, um entweder seinen Sturmpartner oder einen vorstoßenden Außenstürmer per weiträumigen Steilpass zu bedienen.

2015-12-23_Italien_Skizze-Aufbau_Tiefenpässe

Sobald Baggio im Mittelfeld das Kommando übernimmt, ähnelt die Ballverteilung aus dem Zentrum diesen beiden Skizzen von Sacchi. Auffällig sind insbesondere die diagonalen Läufe der Flügelspieler, die in dieser Form die äußeren Deckungsspieler abschütteln sollen. Andererseits wird auch deutlich, dass der ballnahe Achter – häufig sehen Sacchis Skizzen eine Eröffnung über die rechte Seite vor – als kurze Anspielstation etwas tiefer positioniert ist.

Die Bewegungen Baggios erzeugen aufgeweichte Formationsschemen. Er pendelt meist zwischen einem Trequartista und der dritten Zentralposition im Mittelfeld. In der zweiten Welle stößt er des Öfteren bis hinter die Abwehrlinie vor und bietet sich somit als nächste zentrale Tiefenoption an.

Hin und wieder tauscht Baggio seine Position mit Massaro oder Giuseppe Signori. Ein Überraschungseffekt bleibt dadurch als Ass im Ärmel. Außerdem erzeugt Sacchi mit diesen Verschiebungen automatisch Dynamik innerhalb der Formation und folglich beim Eindringen in die gegnerische Hälfte.

Hohe Temperaturen verlangen der italienischen Mannschaft viel ab. Wenngleich Sacchi erneut ein hohes Angriffspressing als erste Phase in der Arbeit gegen den Ball einplant, muss er vereinzelt auf das Pressing Ultraoffensivo verzichten.

2015-12-23_Italien_Skizze-Pressing

So soll das Pressing Ultraoffensivo aus einem 4-1-4-1 heraus aussehen. Das Herausrücken des ballnahen Flügelspielers erzeugt eine Druckwelle, die durch stetiges Nachschieben aus dem Mittelfeld heraus aufrechterhalten wird.

Dann greifen die Italiener auf die altbewährten 4-2-4- oder 2-4-4-Staffelungen zurück, womit sie in einem orthodoxen Kettenspiel variable Zugriffsmöglichkeiten haben und dementsprechend Verformungen reibungslos ablaufen können.

2015-12-23_Italien_Skizze-Pressing-tief

Tiefer 4-3-Block

Im Zuge von stärkeren Rückzugsbewegungen bilden sich als Alternative zu zwei Viererketten teilweise 4-3-Staffelungen. Das liegt darin begründet, dass die Italiener bei einigen Partien auf die Tempostärke ihrer Außenspieler setzen. Sie versuchen im Zentrum – die Abwehrformation darf nur in 40 Meter Breite stehen – einen Ballgewinn zu erzwingen und ihre enge Verbindung für eine schnelle Befreiungskombination zu nutzen.

Italiens Kombinationsspiel stellt bisweilen eine unterschätzte Komponente bei dieser WM dar. Die technisch versierten Zentralakteure, die wie etwa Demetrio Albertini ein herausragendes Auge für kurze und mittellange Passvarianten haben, kommen über einstudierte Dreiecksbildung und präzise Ablagen zu stetigem Raumgewinn. Und sie halten zudem den Spielrhythmus hoch. Bedächtiges Vorrücken liegt dieser italienischen Mannschaft nicht.

2015-12-23_Italien_Skizze-Kombination

Angedachte Kombination: Der Linksverteidiger eröffnet in dieser Variante den Angriff. Sein Vordermann bietet sich nach einer kurzen Curl-Bewegung für den Prallpass an. Unterdessen lässt sich der linke Offensivakteur zurückfallen und leitet auf den vor ihm postierten Angreifer weiter. Die Zick-Zack-Muster involvieren nun den zentralen Sechser, der den Angriff aus der Verengung lösen soll. Mittlerweile hat sein eigentlicher Nebenmann bereits den Weg über die Außenbahn gewählt, wodurch ein etwaiger Trigger dafür sorgt, dass der Außenstürmer entweder in den vorderen Zwischenlinienraum oder hinter die Abwehrlinie sprintet.

Sacchis Team hält sich im Turnier selten schadlos. Mehrfach kassieren sie einen Treffer. Deshalb sieht sich die Offensive umso mehr gefordert, die gegnerische Deckung mit schnellen Doppelpässen und Ablagen auszutricksen.

In der Verteidigung ist Sacchi zum ständigen Umbau gezwungen. Routinier Baresi begeht in der Auftaktpartie gegen Irland einen Fehler, bleibt aber trotzdem der Libero-hafte Fels in der Brandung. Er verletzt sich im zweiten Spiel am Meniskus. Als Konsequenz muss Sacchi seinen Übergangskapitän Maldini ins Zentrum ziehen. Auf beiden Außenpositionen sind deshalb offensivere Spielertypen aufgestellt, wodurch etwaige Situativdreierketten zur absoluten Seltenheit werden.

Baresi kehrt rechtzeitig zum Endspiel gegen Brasilien zurück. Die Abwehr Italiens steht über 120 Minuten nahezu durchweg stabil. Sacchi zaubert eine Variante des 4-4-2-Pressings aus dem Hut. Die drei jeweils ballnahen Mittelfeldspieler schieben extrem zum Flügel und bilden eine verkürzte Kette. Der ballferne Flügelspieler hingegen ordnet sich entweder in der vorderen oder in der letzten Linie ein.

Lokal verdichten die Azzurri das Spiel sehr stark, bleiben aber ansonsten locker gestaffelt. Das Resultat: Sacchis Team wirkt gegen Brasiliens schnelle Seitenwechsel stabil. Sie müssen im Verschieben nicht unmittelbar viele Meter zurücklegen, um Zugriff zu generieren. Vielmehr stopfen die Akteure, die von der anderen Seite nachschieben, etwaige Löcher oder bleiben raumdeckend im Zentrum.

Obwohl Italiens Verteidiger im Eins-gegen-Eins nicht immer einen souveränen Eindruck hinterlassen, kassieren sie kein Gegentor. Der Rest ist Geschichte. Roberto Baggio, Italiens Superstar und Sacchis große Hoffnung, schießt den letzten, den entscheidenden Elfmeter übers Tor.

Die Karriere des Arrigo Sacchi bleibt zumindest bei internationalen Turnieren ungekrönt. Zwei Jahre später scheitert er mit La Nationale in der EM-Gruppenphase. Seine Zeit in Amt und Würden ist vorüber. Die weiteren Stationen sind nicht von Erfolg gekrönt. Sacchi wirft nach enttäuschenden Monaten bei Milan und Atlético das Handtuch. Die Rückkehr zu Parma im Jahr 2001 wird von gesundheitlichen Problemen beeinträchtig.

“Der Fokus liegt heute auf Resultaten, nicht auf der Art und Weise, wie gearbeitet wird. Du kannst keinen Wolkenkratzer an einem Tag bauen”, sagt er einmal entnervt über die Schnelllebigkeit im modernen Fußball.

In den 2000ern wechselt er in die Direktorabteilungen von Parma und Real Madrid. Später gibt er sich ganz der konzeptionellen Arbeit im italienischen Nachwuchs hin. Der einstige Schuhverkäufer, der Außenseiter, der Provinzler ohne Namen hat seinen Stempel in der Geschichte des Sports hinterlassen.

Arrigo Sacchi, der “fleißige Arbeiter”, wird zum Selfmade-Vordenker. Ein Besessener, getrieben von der Idee eines totalen Fußballs und gelenkt vom Zwang zur Perfektion.

“Ein großer Trainer hat seinen eigenen Stil. Er strebt nach Qualität, nicht nach Oberflächlichem. Ich gehe nicht zum Bäcker des Bäckers wegen. Ich gehe zum Bäcker wegen der Qualität des Brots.” (Arrigo Sacchi)


Traineranalyse: Johan Cruijff

$
0
0

Johan Cruijff ist womöglich die einflussreichste Einzelperson des Fußballs.

Auf dem Weg zum Superstar der Niederlande

Schon als Spieler war Cruijff ein herausragender Akteur und schon damals hauptverantwortlich für eine innovative Spielweise gewesen. Er war nämlich das Herzstück des „totaal voetbal“ der großen Ajax-Mannschaft der 70er und der beeindruckenden niederländischen Nationalmannschaft bei der WM 1974.

Für viele war Cruijff  der erste und letzte Erbe Alfredo Di Stefanos. Ein totaler Fußballer, im wahrsten Sinne des Wortes. Cruijff besaß unglaubliche Rhythmuswechsel, physisch wie geistig. Kaum ein Spieler konnte das Spiel mit einzelnen Aktionen dermaßen stark beeinflussen, wie Cruijff; und nur wenige konnten das Spiel so konstant beeinflussen.

Einigen gilt Cruijff gar als wahrer Kopf hinter der Strategie und Taktik der großen Michels-Mannschaft jener Jahre. Ohne Cruijff hatte Michels nur wenige Erfolge – und auch diese waren ganz anders geartet als jene mit Cruijff. Die enorme positionelle Flexibilität war kaum zu sehen. Besonders Michels‘ Jahren in Deutschland deuten darauf hin, dass zumindest teilweise etwas Wahres dran sein könnte.

They laugh when I say it, but I don’t care. I insists that Dutch football can come very far internationally. It can become the best football ever seen on the planet. That seems boastful for a 20 year old braggart but can I explain why I’m an optimist? Because Dutch football is both disciplined and imaginitive. Others don’t have this. Look at Liverpool. Only when they were 4-0 down they tried something else – and only on command. We would do this much quicker, because we have fantasy in our game. In five or ten years time look back and you will see that this guy called Cruyff was right.

Allerdings dürfte es eher stimmen, dass beide einander brauchten. Cruijff galt in der Jugend gar als Streichkandidat. Zu schmächtig war er – seine Ecken kamen mit 15 Jahren noch nicht einmal bis auf den ersten Pfosten. Doch Ajax war bereits jener Zeit vielen Mannschaften voraus, insbesondere in der Jugendausbildung.

Cruijff, der mit einer schwierigen Kindheit, einem verstorbenen Vater und Problemen in der Schule zu kämpfen hatte, wurde dennoch toleriert. Jimmy Hogan, Jack Reynolds und Vic Buckingham hatten über die Jahre bereits Ajax auf Nachwuchsarbeit und Kurzpassspiel ausgerichtet.

Ein junger Johan Cruijff

Rinus Michels, einst selbst ein Spieler Ajax‘, verkörperte diese Ideale zwar in seiner aktiven Zeit nicht, dafür als Trainer. 1965 wurde Michels Trainer und machte Cruijff zum Stammspieler; er wurde bald zu einem überaus wichtigen Spieler. In der Saison 1966/67 erzielte Ajax unglaubliche 122 Tore in 34 Spielen, 33 davon durch den 19jährigen Cruijff. Es sollte seine beste Torquote in einer Saison in der niederländischen Liga sein.

Cruijff startete meistens als linker Flügelstürmer in einem 4-2-4 und Ajax arbeitete sich langsam zu einer der besten Mannschaft Europas empor. 1969 stand man sogar schon im Finale des Meisterpokals, doch verlor gegen AC Milan mit 1:4.

Rinus Michels at one time decided we needed more stamina. Footballers should be able to do everything: defend and attack. But what’s often ignored is that Michels had technically perfect players: Keizer, Mühren, Vasovic, Krol, myself, Rep, Swart – yes when you have so much technical ability you can start paying attention to running. Everyone has since copied him, but without having all that technical ability.

Rinus Michels sollte in den Folgejahren nun ein anderes System nutzen. Das 4-3-3 schaute man sich vom Erzrivalen Feyenoord Rotterdam ab, welche 1969 Meister wurden und 1970 den Meisterpokal gewannen. Nicht umsonst war auch Cruijff voll des Lobes über Happel, den er als einen von zwei Trainermeistern bezeichnete:

„Happel war der andere Meister des niederländischen Fußballs; und der eine war Rinus Michels. Happel war ihm ebenbürtig. (…) Happel war einer, der auch als Coach einzigartige Qualitäten besaß. Ernst Happel war ein großer Taktiker, bei dem alles auf den Fußball gegründet war.“

Außerdem intensivierte Michels das Training. Teilweise trainierten sie sogar 4mal am Tag, einigen Gerüchten späterer Jahre sollen auch Amphetamine zur Verbesserung der physischen Leistungsfähigkeit genutzt worden sein. Die Spieler wurden bisweilen nicht nach ihrem Namen angeredet, sondern nach ihrer Nummer, die sich nach ihrer Position definierte. Waldläufe standen ebenfalls an der Tagesordnung. Waldläufe, die Cruijff eigentlich nicht benötigte.

Eine schöne Anekdote erzählt, wie Michels und Cruijff damit umgingen. Cruijff verweigerte gelegentlich den Dauerlauf, woraufhin Michels ihn vor versammelter Mannschaft zu einem Einzel-Waldlauf am nächsten Tag kommandierte. Auf die Minute pünktlich würde Cruijff am nächsten Morgen erscheinen, um mit Michels spazieren zu gehen. Grund: Es war nicht Cruijffs Physis, welche gepflegt werden müsste, sondern seine Vorbildwirkung für die Mannschaft.

Im Verbund mit dem neuen System und der physischen Qualität sowie natürlich den verbesserten Einzelspielern – kaum eine Vereinsmannschaft vor dem Bosman-Urteil und nach Di Stefanos Real dürfte individuell so stark besetzt gewesen sein – schufen Michels und Cruijff ein innovatives System.

Ein Spiel des flexiblen Raums

Obige Überschrift stammt aus dem tollen Buch Dietrich Schulze-Marmelings „Der König und sein Spiel“. Sie wird genutzt, um die Spielweise jener Ajax-Mannschaft zu beschreiben.

“We discussed space the whole time. Cruijff always talked about where people should run, where they should stand, where they should not be moving. It was all about making space and coming into space. It is a kind of architecture on the field. We always talked about speed of ball, space and time. Where is the most space? Where is the player who has the most time? That is where we have to play the ball. Every player had to understand the whole geometry of the whole pitch and the system as a whole.”

So äußerte sich einer der Mitspieler Cruijffs (Barry Hulshoff) über die Spielweise. Andere Übersetzungen aus dem Niederländischen ergänzen „Geschwindigkeit“ anstatt „Raum“. Was mit Geschwindigkeit damals auf Niederländisch gemeint war, dürfte im heutigen Taktiksprech am ehesten dem Begriff „Dynamik“ entsprechen. Ajax wollte auf dem Feld Dynamik – die Symbiose aus Raum und Geschwindigkeit im Fußball – erzeugen. Überall, jederzeit, flexibel und doch organisiert.

Europas Fußballer des Jahres

Strategische Grundlagen dafür: Pressingfußball, Zirkulationsfußball und Positionsspiel. So bezeichneten Cruijff und Michels sie damals. Pressingfußball bedeutete grundsätzlich die durchgehende Jagd nach dem Ball, die Zirkulation ist mit der bewussten Nutzung des Balles für offensive wie defensive Zwecke gleichzusetzen und das Positionsspiel bezeichnete zu jener Zeit prinzipiell eine Positionsbesetzung, aus der flexibel Bewegungen gemacht und Positionen gewechselt werden konnten.

Drei Mal in Folge sollte Ajax den Meisterpokal gewinnen. Die Liga dominierten sie ebenfalls. 1971/72 holten sie gar in 34 Spielen 30 Siege bei einem Torverhältnis von 104:20. 1972/73 waren es 30 Siege bei einem Torverhältnis von  102:18. Konstanz auf allerhöchstem Niveau; europaweit konnte keiner mithalten, am ehesten war national noch Feyenoord eine Gefahr. Diese schafften immerhin in den Erfolgsjahren Ajax‘ im Meisterpokal einmal Meister und einmal mit fünf Punkten Rückstand Vizemeister zu werden. Einzig 1972 war es mit zwölf Punkten eine klare Deklassierung.

In den letzten zwei Jahren war jedoch Michels nicht mehr Trainer. Er war bereits zum FC Barcelona  abgewandert. Ștefan Kovács hatte die Mannschaft übernommen und die Zügel gelockert, was zu noch höheren Höhen führte – und letztlich zum Zerfall. Interne Streitigkeiten zwischen Cruijff und Mitspielern sorgten für Cruijffs Abgang.

El Salvador

Cruijff sollte beim FC Barcelona das Gegenstück zum jeweiligen Star Real Madrids bilden. Diese wollten nämlich mit ihren Einkäufen unbedingt wieder an die Spitze Spaniens und natürlich Europas kommen. Sie holten sich Günter Netzer und wollten zwei der ganz großen Stars Osteuropas: Kaszimierz Deyna und Nicolae Dobrin, welche beide jedoch das Land nicht verlassen durften. Barcelona angelte sich zwar Sotil aus Südamerika, aber man benötigte einen Spielmacher. Cruijff, der zwischenzeitlich auch immer wieder als (falsche) Neun gespielt hatte, war dabei die Ideallösung.

Problem: Real mischte sich ein. Unangenehme Erinnerungen an den Verlauf des Transfers von Alfredo Di Stefano, der eigentlich zuerst zu Barcelona hätte gehen sollen, wurden wieder wach. Real hatte hinter Cruijffs Rücken damals sogar schon alles mit Ajax vereinbart, aber nein, Cruijff wollte zu Barcelona.

Der spanische Verband RFEF war wie bei Di Stefano dagegen, doch trotz einer Sanktion blieb man standhaft. Nach sechs verpassten Spieltagen debütierte Cruijff mitten in der Saison beim kriselnden FC  Barcelona. Es folgten 24 Ligaspiele in Folge ohne Niederlage und zwei ganz große Erfolge Cruijffs, welche ihn endgültig zum Held der Katalanen machten.

Catalonia was suffering a dictatorship and that was strange for me. I don’t accept anyone forbidding me to do anything. I can forbid things to myself but no one else can.

Im Februar 1974 gab es die Geburt von Cruijffs Sohn; Jordi Cruijff. Jordi ist der Name des katalanischen Schutzpatrons, den die spanischen Ämter partout nicht akzeptieren wollten. Cruijff stellte sie mit den niederländischen Dokumenten vor vollendete Tatsachen und aufgrund der Angst vor einem Streit gab man nach. Nur zwei Wochen später gab es das legendäre 0:5 im Estadio Bernabeu, welches für manche sogar als ein wichtiger Schritt für die Freiheit Kataloniens diente.

Cruijff in der Elftal

Um dies zu verstehen, muss man einerseits das katalanische Selbstverständnis und den Bezug zum Fußball nachvollziehen können und andererseits wissen, wie repressiv und rassistisch Francos Innenpolitik war. Katalanen wurden verächtlich als „Pollacken“ bezeichnet, ihre Sprache denunziert und aus der Öffentlichkeit gedrängt. Katalanisch wurde nun nur noch hinter verschlossenen Türen geflüstert – und gelegentlich im Stadion angestimmt.

Der Fußball war somit eine Ausnahme und diente auch als Versammlungspunkt. Der FC Barcelona stand stellvertretend für das in der Öffentlichkeit verbliebene Katalonien; was wiederum zu Repressionen gegenüber dem Fußballverein führte. Das rückte die Katalanen natürlich noch näher zu ihrem Verein und es entstand eine Eigendynamik, weswegen das 0:5 im Bernabau so frenetisch bejubelt wurde.

Spätestens nach diesem Februar 1974 wurde Cruijff zum beliebtesten Nicht-Katalanen aller Katalanen; er war El Salvador, der Retter. Seine Krönung wollte sich Cruijff bei der WM 1974 verpassen, doch man scheiterte an den Deutschen und der Vogts’schen „mal schon, mal nicht“-Manndeckung im Finale.

I knew I would dominate less in this game. Because the Germans played so strong on man marking, our libero Arie Haan had to advance more, creating a free man on midfield. But the interchange between myself and Haan failed. I was mentally exhausted in the final. The World Cup lasted one game too long. I didn’t have a bit of energy left in my body.

Cruijff sollte im Rahmen der Weltmeisterschaft den Spruch „Tore haben nichts zu tun mit Fußball“ prägen, was ihm gelegentlich später vorgeworfen wurde. Nach 1974 gab es nur noch einzelne Erfolge für Cruijff als Spieler. Die EM 1976 wurde verpatzt, die Folgejahre bei Barcelona gestalteten sich als schwierig, da es trotz des späteren Kaufs Johan Neeskens an Mitspielern fehlte.

Cruijff ließ das Training schleifen und die WM 1978 fiel aus, nachdem er persönliche Drohungen erhalten hatte und sich außerdem weigerte, in ein Land mit Militärdiktatur einzureisen. Dem neuen Trainer Weisweiler schmeckte Cruijff nicht, was auf Gegenseitigkeit beruhte:

The Barcelona coach, Hennes Weisweiler, always did the opposite of what I told him to do.

Der Rebell Cruijff kam hier zum Vorschein. Von Anfang an verband Cruijff seinen enormen Fokus nach Gerechtigkeit mit einer gewissen Selbstgerechtigkeit, Arroganz und lateralem Denken. Im Fußball war dies nie anders. Bei der WM 1974 hatte er als Spieler seinen eigenen Sponsor und sein eigenes Trikot, im Verein war er der Chef und 1970 wechselte er nach einer Verletzung seine Rückennummer von 9 auf 14; für Stammspieler unüblich.

Cruijff sollte keine WM mehr bestreiten. 1978 beendete er seine Karriere sogar für ein Jahr, bevor er wegen Geldsorgen in die amerikanische NASL ging. Nach einem Jahr in Washington schloss sich Cruijff dem spanischen Zweitligisten Levante für ein kurzes Gastspiel an, spielte jedoch nur wenige Partien und versetzte sich bei einem Freundschaftsturnier, wo er mit Milan spielte.

Das kurze Intermezzo endete 1981, woraufhin Cruijff zu Ajax ging. Eigentlich war er der „technische Berater“ von Trainer Leo Beenhakker, doch nach kurzer Zeit unterschrieb er einen Vertrag und spielte ab Dezember 1981 wieder für zwei Jahre bei Ajax. Beide Male wurde man Meister, einmal holte man sogar das Double und erzielte einen bis heute legendären Elfmetertreffer.

198 3 erhielt er jedoch keinen Vertrag und er ging aus Rache für eine Saison zu Feyenoord. Die Folge: Ein weiteres Double, ein weiterer Titel als niederländischer Fußballer des Jahres; zwanzig Jahre nach seinem Profidebüt.

I was terribly insulted that Ajax wrote me off. Nobody can write me off. I will decide when I quit. That’s why I wanted revenge. At first I wanted to sign for Feyenoord purely out of rancour, but I quickly put Ajax out of my mind. I look back on that year with lots of joy. We won the double and that seemed like a nice farewell.

Cruijff verabschiedet sich erhobenen Hauptes bei Feyenoord; was ihm bei Ajax verwehrt wurde.

Meine Lieblingsanekdote über Cruijff stammt gar aus dieser Saison.

Among the Feyenoord players, he quickly wins a reputation for thinking he knows everything. To trick him, the Feyenoord players ask him for the definitions of several difficult words. Full of his usual confidence, Cruyff explains one meaning after another. The players pretend to be impressed. In reality, they have prepared a trap. The final word has a catch. It doesn’t exist.

Still, Cruyff proceeds to explain it. lnitially the players laugh, telling him he got fooled. But Cruyff continues to insist. Feyenoord player Bennie Wijnstekers describes the scene: “Cruyff kept explaining the word with so much confidence that we started to doubt ourselves. Maybe that word existed after all?”

Diese Geschichte, hier auf 4dfoot zu finden, zeigt Cruijff in der Nussschale. Intelligent, aber dabei anmaßend. Eine Führungspersönlichkeit, zu der man aufschaut, aber an deren Arroganz man sich auch reibt. Ein Redner, der sogar sicheres Wissen verunsichert. Kann so einer ein Trainer sein? Es sollte sich zeigen, dass diese Anekdote das beste und das schlechteste an Cruijffs Trainerdasein einfängt.

Cruijffs dritter Start bei Ajax

Every trainer talks about movement, about running a lot. I say don’t run so much. Football is a game you play with your brain. You have to be in the right place at the right moment, not too early, not too late.

Zitate wie dieses zeigen Cruijffs enormes Spielverständnis, trotz einiger anderer abstruser Bemerkungen. Doch tatsächlich hatte Cruijff ein faszinierendes Gespür für den Fußball. Eine Geschichte vom 30. November 1980 zeigt dies beeindruckend. Leo Beenhakker ist Trainer Ajax‘, die zur Halbzeit 1:3 hinten liegen. Zuschauer Johan Cruijff geht zur Trainerbank, setzt sich neben den Trainer und beginnt die Spieler einzuteilen. Rijkaard geht sich aufwärmen, die anderen erhalten taktische Instruktionen. Das Spiel endet 5:3. Für Ajax, wohlgemerkt. Die Bilder von damals wirken wie eine Parodie.

1987 gegen Lok Leipzig

1987 gegen Lok Leipzig

Fünf Jahre später wird Cruijff der Trainer Ajax‘. 1985/86 wurde man trotz 120:35 Toren nur Zweiter hinter Guus Hiddinks PSV Eindhoven, die zwei Jahre später sogar den Meisterpokal holen konnten. In dieser und der nächsten Saison konnte man jedoch den niederländischen Pokal gewinnen und auch den Pokal der Pokalsieger 1987 holen.

Cruijff implementierte ein System, welches vielfach mit Louis van Gaal und dem CL-Sieg 1995 verbunden wird: Das 3-1-2-1-3 mit einem Sechser, welcher sich bei beiden Mannschaften in die erste Linie zurückfallen lassen konnte. Bei Van Gaal geschah dies jedoch etwas häufiger, obwohl beide denselben  Akteur auf dieser Position einsetzten.

Frank Rijkaard war für beide (einer) der Schlüsselspieler, doch wie in meinem Porträt vor einigen Tagen geschrieben war der junge Rijkaard ein ganz anderer Akteur als die ältere Version seiner selbst. Unter Van Gaal gestaltete er sich das Spiel, stieß punktuell nach vorne und unterstütze die erste Linie häufig.

Bei Cruijff war Rijkaard ein wahrer Box-To-Box-Spieler. Immer wieder stieß er an den anderen Mittelfeldspielern vorbei und agierte unheimlich weiträumig. Im Finale des Pokals der Pokalsieger 1987 gab es z.B. eine Szene, wo Rijkaard im Sechserraum den Ball erobert und einen Lauf ansetzt. Nach seinem Pass setzt er den Lauf fort und die Situation endet damit, dass der tiefste Sechser der Mittelfeldraute, Frank Rijkaard, an der rechten Eckfahne des Gegners seinen Gegenspieler tunnelt und gefoult wird.

Ein weiterer wichtiger Akteur war natürlich auch Marco Van Basten. Wie Rijkaard sollte er später beim AC Milan für Furore sorgen, unter Cruijff wurde er zu einem der besten Mittelstürmer Europas. Cruijff hatte den talentierten, aber etwas faulen Jungstar häufig auf anderen Positionen eingesetzt, insbesondere als Zehner.

Die zwei Gründe dafür: Van Basten solle anfangen zu laufen, sich anzubieten und die Mitspieler zu unterstützen sowie natürlich seine spielerischen Fähigkeiten noch verbessern. Als er später wieder im Sturmzentrum agierte, agierte er zumindest unter Cruijff teils wie eine falsche Neun und insgesamt vom Bewegungsspiel her ähnlich zu Lewandowski in der aktuellen Bayernsaison; viele ausweichende und situativ zurückfallende Bewegungen mit kurzen, gestalterischen Aufgaben.

Gegen den Ball spielte man in zwischen Mann- und Raumdeckung; prinzipiell wurde im Raum gedeckt, doch immer wieder wurden bestimmte Läufe und anspielbare Optionen in Ballnähe mannorientiert verfolgt.

„Wir spielen mit Raumdeckung. Du deckst also den Raum, das heißt den ballführenden Gegner, der in den Raum kommt. (…) Eine der Verteidigungsaufgaben, auf die Johan immer wieder zurückkommt, ist, dafür zu sorgen, dass immer ein Mann frei ist. Wenn wir unerwartet den Ball verlieren, müssen wir, je nachdem, wo wir sind, entweder sofort eingreifen oder sofort unsere Positionen einnehmen. (…) Wenn Menzo den Ball hat, schlägert ihn ab zu dem Spieler, der am weitesten entfernt von ihm steht. Dann bist du manchmal vier Gegner los. Früher war ich lediglich Verteidiger, heute bin ich Teil des Teams.“ – Ronald Spelbos, Spieler unter Cruijff

Das Pressing wirkte wie eine Mischung aus 4-1-4-1 und 3-1-2-3-1, wobei in einigen Situationen der Flügelstürmer diagonal herausrücken und einen der gegnerischen Halb- oder Innenverteidigerpressen konnte. Dies ist ebenfalls unter Guardiola bei den Bayern zu sehen, wo aus dem 4-1-4-1 oft ein asymmetrisches 4-1-3-2 zum Ball hin entsteht.

Cruijff nutzte allerdings in diesen Situationen Van Basten als Akteur, der seinen Deckungsschatten über den Sechserraum legte und aus dieser recht tiefen Situation nach eigenem Gutdünken herauszurücken schien. Die Pressinghöhe war somit hoch, aber eigentlich kein Angriffspressing und zwang den Gegner eher zu langen Bällen in das überfrachtete Mittelfeldzentrum.

Insgesamt waren die Defensivschemen flexibel. Ein 3-2-2-3 war ebenso möglich wie ein kurzzeitiges 4-2-1-3, viele asymmetrische Staffelungen und natürlich 3-2-4-1 mit engen Sechsern vor der Kette, welche die Abwehr auffüllen, kamen vor. In Strafraumnähe waren auch 5-2-2-1-Staffelungen möglich.

Kompaktheit und Gegenpressing waren für damalige Verhältnisse bereits gut ausgeprägt, ebenso wie die Abseitsfalle, wenn auch inkonstant und unsauber. Die ersten Ansätze des Cruijff’schen Positionsspiels waren ohnehin schon klar vorhanden. Bewegungen waren mithilfe von simplen Vorgaben an das Individuum in Relation zum Ball gekoppelt.

„Wenn Mühren links den Ball hat und Rijkaard rückt ins Mittelfeld, komme ich von der rechten Seite in die Mitte. Bleibe ich in meiner Zone, dann entsteht hinter Rijkaard eine gefährliche Lücke. Wenn ich den Ball habe, geht Mühren zur Mitte.“ – Jan Wouters, der rechte zentrale Mittelfeldspieler

Interessant war eine leichte Asymmetrie in eigenem Ballbesitz. Auf dem rechten Flügel spielten sie etwas breiter und fokussierter auf Durchbrüche, welche durch lange Bälle oder Ablagen und Sprints erzeugt werden. Auf der linken Außenbahn war man etwas flexibler, aber auch isolierter und mit Witschge individueller. Passenderweise blieb der rechte Verteidiger häufiger auch tiefer und absichernder.

Das Siegtor entstand z.B. passenderweise nach einem Flügeldurchbruch auf der rechten Seite von Van’t Schip nach einem Loblangballs und einer Flanke nach einem gewonnenen Sprintduell. Generell schienen die Außenspieler eher positionell fixiert zu sein und mit längeren Vertikalbällen zu agieren, während es in der Mitte viele Rotationen gab. Immer wieder tauschten die vier zentralen Spieler die Positionen, dazu bewegten sich Van Basten vorne und der „Libero“ hinten vertikal in sich bietende Lücken. Besonders das Wechselspiel zwischen Verlaat und Rijkaard funktionierte gut, ebenso wie das Einrücken der ballfernen  Spieler.

Allerdings hatte Cruijffs Ajax auch einige Schwächen. Diese Spielweise gegen den Ball nicht immer stabil und mit Ball gegen bessere Mannschaften etwas anfällig. In der zweiten Aufbauphase war man bisweilen zu flach und die Zirkulation war zu fokussiert auf die Seiten, auch zu drucklos in der Positionierung. Schob man mehr Spieler in die Formation des Gegners hinein, hatte man Probleme die Folgeaktionen konstant anzubringen und war häufig zu überhastet im Beenden der Angriffe.

Insgesamt gab es auch eine recht breite und oftmals doppelte Flügelbesetzung, die zwar für Verlagerungen geschickt genutzt wurden, dann aber beim Ausspielen der Verlagerung bzw. der Wechselpässe zu linear waren. Vorteilhaft waren allerdings die Flügel beim Konter, wo der ballferne Flügelstürmer etwas höher blieb, während Van Basten leicht zum Ball schob und Konter nicht nur über Balleroberungen, sondern auch Menzos Abwürfe beginnen konnten.

Menzo war einer der weiteren Schlüsselspieler, da er als einer der ersten wirklichen Antizipationstorhüter galt; sein Torwarttrainer war sogar Frans Hoek, der seine Vorstellungen des Torwarttrainings zuerst bei Cruijff ausleben durfte. Hoek fokussierte sich auf die Beteiligung des Tormanns am Spiel, seine technische-taktische Ausbildung und einen enormen Fokus auf verbale wie non-verbale Kommandos.

1988 gegen Marseille

1988 gegen Marseille

Nicht nur Hoek coachte so explizit, auch Cruijff tat es. Die Mannschaft wirkte, als ob es sehr viele individuelle Vorgaben gab, diese aber sehr gut umgesetzt wurden. Das Pass- und Kombinationsspiel war dadurch etwas unstrategisch, was sich aber mit der Einwechslung Bergkamps (als Flügelstürmer) und einem klareren 4-3-3 etwas verbesserte.

Das war auch in anderen Partien. Gegen Marseille in der Folgesaison war es ähnlich, aber es gab in der Ballzirkulation einen stärkeren Fokus auf Läufe des dritten Spielers in Kombinationen und auf Pässe in den Lauf und eine noch druckvollere Vertikalzirkulation durch vermehrte Positionen in der gegnerischen Formation.

Viele weite Läufe im Mittelfeld und flexible Positionswechsel gaben der Mannschaft weiterhin diesen „Cruijff-Touch“, doch etwas zu viele Fünferreihen gegen den Ball und sehr flache Staffelungen machte sie gegen den Ball etwas anfällig. Nach vorne war man wegen der Abgänge Rijkaards und Cruijffs nicht mehr so durchschlagskräftig. Mittelstürmer Bosman (oder auch Meijer) spielte keineswegs wie eine falsche Neun, obgleich auch er sich für damalige Verhältnisse viel bewegen musste.

Letztlich zeigte sich der Substanzverlust als zu groß. Die Mannschaft konnte Cruijffs Vorstellung nicht mehr umsetzen und teilweise wollte sie es auch nicht mehr; so soll Rijkaard im Streit abgewandert sein.

„Ein Spitzenverein braucht einen Spieler, zu dem andere Spieler aufsehen. Aber der Rijkaard ließ, warum auch immer, selbst den Kopf hängen, und dann lassen alle Spieler den Kopf hängen. Das wollte ich bei Frank ändern.“

Dazu überwarf sich Cruijff mit dem Vorstand, welcher gegenüber dem Verein die Interessen der Spieler vertritt und dadurch den Funktionären bitter aufstößt. Darum suchte der Kultheld nun nach anderen Aufgaben und größeren Möglichkeiten.

Die Anfänge und ersten Erfolge in Katalonien

Josep Lluis Nunez, Barcelonas Präsident, buhlte um Cruijff. Cruijff als Spieler hatte ihm zehn Jahre zuvor, also 1978, zur Präsidentschaft verholfen. Nunez‘ Opposition verspricht unter Zustimmung der Fans den Trainer Cruijff – Nunez kommt ihm zuvor und schnappt sich Cruijff, um seinen eigenen Platz zu sichern.

„Mein Team wird dem Angriffsfußball verpflichtet sein. Ich betrachte das nicht als Risiko. Im Gegenteil. Ich glaube, dass die Mannschaft, die den mutigsten Fußball spielt, am Ende auch die meisten Trophäen gewinnen wird. Wenn der Gegner vier Tore schießt, müssen wir halt fünf erzielten.“

Cruijffs Verpflichtung ist ein Goldgriff. Im Laufe seiner Jahre macht er Barcelona nicht nur zu einem erfolgreichen Team und entreißt Reals damalige Vormachtstellung, sondern hat einen nachhaltigen Einfluss. Trotz aller Kritik – u.a. von Nationaltrainer Javier Clemente, der später auch den verächtlichen Begriff des Tiqui Taca prägen sollte – setzte Cruijff seine Ideen im Verein durch.

“I don’t care about criticism. Not about a single article. It doesn’t concern me. They’re going after Cruyff. And somewhere, that’s someone different.“

Unter Cruijff wurde das Bauernhaus der „La Masia“, welches dem Verein gehörte, zu einer ganzheitlichen Fußballakademie erweitert. Die Jugendarbeit wurde reformiert. In Dietrich Schulze-Marmelings (sehr empfehlenswerten) Buch „Der König und sein Spiel“ findet sich auch folgendes Zitat:

Dauerläufe werden ebenso abgeschafft wie Krafttraining. Bis zum 16. Lebensjahr sehen die Barça-Schüler keinen Kraftraum, absolvieren keinen Dauerlauf, kein Zirkeltraining. (…) In Cruyffs La Masia wird fast ausschließlich mit dem Ball trainiert. Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit – das alles verbessern die Nachwuchskicker spielerisch. Ohne dies bewusst zu registrieren, denn ihr gesamtes Denken ist auf den Ball ausgerichtet. Trainingspartien werden auf kleinen Feldern ausgetragen, denn Enge und Bedrängnis fördern die Technik und die Handlungsschnelligkeit. Ganz im Cruyff’schen Sinne wird das Hirn statt der Muskeln geschult. Es geht um Ideenreichtum, Beweglichkeit, Überblick, Entscheidungsfreude und schnell ausgeführte Entschlüsse. Das verwirrende Kurzpassspiel, das unter diesen Bedingungen entsteht und zum Kennzeichen des Barça-Fußballs wird, firmiert in Spanien noch heute als el cruyffismo.

Cruijff war im Verbund mit dem späteren Jugendkoordinator Albert Benaiges (von 1991 bis 2010 tätig) und dem legendären Fitnesstrainer Francisco Seirul·lo Vargas federführend in dieser Innovation, welche heutige moderne Erkenntnisse aus der Trainings- und Sportwissenschaft vorwegnahm. Übungen wie das „El Caos“, welches sich auch im Buch Marco Henselings und mir findet und sich an ähnlichen grundsätzlichen Prinzipien orientiert, werden in La Masia zum Standard.

Auffallend viele Spieler in La Masia sind außerdem sehr klein. Die Idee dahinter ist einfach. Diese Spieler sind unterschätzt und werden bei später hinzukommender Physis die besseren Fußballer. Und durch ihre körperliche Unterlegenheit lernen sie, wie man agil und vorausschauend agiert, vertrauen mehr auf ihre Intelligenz und ihre Technik, als auf ihre Physis. Implizites Lernen in jeder Situation sozusagen.

“Jeder Nachteil hat seinen Vorteil”

Aus dieser Denkschule sollten später Spieler wie Iniesta und Xavi herauskommen.

Cruijff verändert nicht nur die Jugendarbeit, sondern auch andere Strukturen. In Appell an den katalanischen Geist fokussiert er die Bedeutung Barcelonas und entwirft eine Siegermentalität, die schon in La Masia eingeimpft wird. Der FC Barcelona gilt als die größte Waffe des FC Barcelona; paradox und doch einleuchtend.

Mit seinen Assistenten Tommie Bruins, der für ihn Videoanalyse und Verschriftlichung übernimmt, und Carles Rexach arbeitet Cruijff auch am Umbau der ersten Mannschaft. Wichtig: Routinierte Spanier und Katalanen, von Cruijff als bissig deklarierte Basken (Bakero, Goikotxea, Begiristain) und Superstars aus dem Ausland sollen mit den Emporkömmlingen aus La Masia eine unschlagbare Mannschaft bilden. Auch, dank des Positionsspiels und der Trainingsmethodik natürlich.

„Wenn du laufen willst, mach Leichtathletik. Aber wenn du Fußball spielen willst, brauchst du den Ball.“

13 Spieler verlassen 1988/89 die Mannschaft, elf werden geholt. In La Liga wird man hinter Real Madrid nur Zweiter, doch im Pokal der Pokalsieger wird Sampdoria Genua bezwungen. In dieser Partie zeigte sich, dass es zwar noch an der Qualität späterer Jahre mangelte, doch die Strukturen des Systems bereits etabliert waren.

Abermals war es ein 3-1-2-1-3; Cruiffs favorisierte Formation jener Jahre, u.a. wegen der Möglichkeiten in der Raumaufteilung. Die Halbverteidiger rücken flexibel gegen den Ball nach vorne hervor, der Sechser in der Mitte lässt sich zurückfallen. Die Formation gegen den Ball variiert zwischen 3-1-2-1-3, 3-3-1-3/4-2-1-3 und leichte 3-4-Ansätze in der ersten Linie. Gegen Sampdoria agieren bisweilen alle drei vorderen Spieler als zockende Akteure gegen den Ball; sie warten auf Konter.

1989 gegen Sampdoria

1989 gegen Sampdoria

In eigenem Ballbesitz sind die Strukturen des Positionsspiels zu erkennen, doch der Flügelfokus ist noch relativ groß. Der Gegner kann Barcelona oft dabei isolieren, die hohe Besetzung der zentralen Räume endet in gefährlichen Kontern und vielen Flanken. Der Zwischenlinienraum wird nur teilweise wirklich kombinativ und dabei effektiv genutzt.

Das System wird durch Lineker, einen eigentlichen Mittelstürmer, auf dem rechten Flügel etwas asymmetrisch ausgelegt. Passenderweise ist es eine Flanke über links, wo Roberto in der Mitte auf Salinas ablegt. Sampdoria dient es an Durchschlagskraft, das Mittelfeldpressing zerstört die Konstruktivität der Italiener.

Gegen eine bessere italienische Mannschaft – ein halbes Jahr später im Supercup gegen Sacchis Milan – verliert die Cruijff-Elf.  Sie spielen jetzt 3-2-4-1-artiger im Pressing, auch, weil der Gegner eine größere Gefahr darstellt. Im Aufbau ist die Raute nach wie vor zu sehen, die Halbspieler bewegen sich allerdings etwas geschickter zwischen den Linien.

Milan verteidigt dies aber gut und die Seitenwechsel gegen die herausrückenden Flügelstürmer sind gefährlich, einige Male schaffen es die Mailänder zu Kontern. Cruijff reagiert bereits nach zehn Minuten, indem er Soler für Roura bringt und die Formation verändert.

1990 gegen Milan inkl. Umstellung

1990 gegen Milan inkl. Umstellung

Das System wird zu einem asymmetrischen 3-1-2-3-1/4-1-2-3; Salinas geht etwas auf die Seite Roberto übernimmt öfters das Sturmzentrum und Soler spielt auf der linken Seite etwas tiefer. Begiristain wechselt nach rechts und das Ziel ist es, die Flügelangriffe Milans besser abzusichern. Einzelne 5-3-2-Staffelungen sind die Reaktion auf den doppelt besetzten Flügel Milans, welche das Spiel aber für sich entscheiden.

Auf dem Weg zur europäischen Spitze

Nach dieser Niederlage arbeitete Cruijff verstärkt an seiner Mannschaft. Ziel: Internationale Topstars. Einer davon war ein alter Bekannter. 1986 verließ Koeman, schon damals ein wichtiger Spieler für die Ajax-Spielweise, den Verein gen Eindhoven. Bei PSV war er Mitgrund, wieso Cruijff national scheiterte. Bei Barcelona sollte er in Guardiolas System den Libero geben, der nach vorne stößt und ein Wechselspiel mit dem Sechser anregt.

Ein weiterer Spieler war Hristo Stoichkov. Der Enfant Terrible aus Bulgarien war ein antrittsstarker, sehr abschlussfähiger Dribbler, der auf allen vorderen Positionen agieren konnte. Der dritte im Bunde hieß Michael Laudrup; ein Spieler, dessen schiere individuelle Qualität Cruijff auf mehreren Positionen herausragende Qualität bescheren sollte. Vielfach als linker Flügelstürmer oder auf einer der drei vorderen Positionen der Mittelfeldraute, später aber immer öfter als Mittelstürmer bzw. sogenannte falsche Neun.

When you’re playing against a team that has two great central defenders, the best option is to play without a striker.

Im 1991er-Spiel gegen Juventus zeigte sich schon, wohin der Weg gehen sollte. Die individuelle Qualität wurde besser, die Strukturen waren etablierter. Nach wie vor gab es viele Freiheiten für die Einzelspieler, aber eben auch Verantwortung in bestimmten Situationen, u.a. Absicherungsbewegungen.

1991 gegen Juventus

1991 gegen Juventus

Zahlreiche der Spieler agierten auch sehr weiträumig, um die individuellen Bewegungen zu ergänzen. Besonders auffällig waren die flexiblen Positionswechsel von Koeman und Nando sowie Salinas und Stoichkov. Laudrup auf der Zehn organisierte das Spiel in vorderen Zonen und man suchte ihn für seine Pässe. Auf rechts schob der Halbverteidiger vor und es gab intelligente Bewegungen von Beguiristain auf links, der geschickt einrückte und sich anbot.

Auch gegen Fergusons Manchester United war dies 1991 ähnlich zu sehen. Man hatte zwar wieder Probleme gegen die defensive Stabilität einer besseren Mannschaft, insbesondere dem Konterspiel und wegen der doppelten Flügelbesetzung, was Cruijff dazu bewog mit tieferen Mittelstürmern und herausrückenden Mittelfeldspielern zu agieren. Einige Male war ein 4-1-4-1 sichtbar, doch es gab Probleme beim Übergang ins letzte Drittel.

1991 gegen Manchester United

1991 gegen Manchester United

Das Jahr 1991 war aber ein wichtiger Wegbereiter, denn es ermöglichte Cruijff langsam diese etablierten Strukturen anzupassen und zu optimieren. Im CL-Finale gegen Sampdoria im Jahre 1992 war es nicht mehr Salinas, der zentral vorne agierte, sondern Laudrup als falsche Neun. Laudrup war die erste Linie gegen den Ball im Pressing, dahinter spielten Salinas als rechter Flügelstürmer (in einer Rolle ähnlich zu jener Linekers), Bakero als vorstoßender Zehner und Stoichkov als linker Flügelstürmer.

1992 gegen Sampdoria

1992 gegen Sampdoria

Die Rollenverteilung war interessant. Salinas spielte relativ breit und ging nur bei Flanken wirklich konstant in die Mitte, während Stoichkov und Bakero immer wieder das Sturmzentrum besetzten, wenn sich Laudrup zurückfallen ließ. Laudrup besetzte häufiger den linken Halbraum und kurbelte das Aufbauspiel an, was wiederum zu der genauen Staffelung der Mittelfeldraute passte.

Diese war nämlich leicht asymmetrisch. Juan Carlos verfolgte Lombardo relativ weit und spielte als linker Halbspieler im Mittelfeld deutlich breiter als sein Gegenüber. Vermutlich wollte Cruijff dadurch Lombardo manndecken und die Flügelverteidigung verstärkten, obgleich auch Eusebio situativ den gegnerischen Flügelstürmer übernehmen konnte. Sampdoria spielte in einem 4-4-2, war aber häufiger in einem asymmetrischen 4-4-1-1 unterwegs und insgesamt nicht ansatzweise so aktiv wie Sacchis Milan mit und ohne Ball.

Einige Male liefen Stoichkov und Salinas die Innenverteidiger an, besonders Salinas spielte zentraler. Die linke Seite Sampdorias war dadurch etwas offener und man leitete sie dorthin, bevor Eusebio und Co. Zugriff erzeugen konnten. Bakero und Laudrup verhinderten Pässe durch das Mittelfeldzentrum.

Beide Mannschaften neutralisierten sich allerdings. Sampdoria hatte kaum Präsenz in vorderen Zonen und war offensiv harmlos. Barcelona wiederum zog immer wieder Sampdoria auf den Flügel heraus, bevor sie mit diagonalen Pässen die Halbräume anspielten. Dabei gab es einen Fokus auf Laudrup im linken Halbraum. Guardiola und Koeman bauten das Spiel in der Mitte auf und die Halbverteidiger standen ziemlich breit, auch wenn sich einige Male Ferrer wegen Juan Carlos enger positionierte.

Koemans Vorstöße gegen das passive 4-4-2/4-4-1-1 Sampdorias sollten zwar den Ball ins zweite Drittle bringen, aber die Unterstützung inkonstant in höheren Zonen war inkonstant. Sampdorias Mannorientierungen und die Kompaktheit in den ersten zwei Linien deckten die tiefen Räume ab und es war letztlich Koemans Freistoß in der Verlängerung, der Barcelona den ersten CL-Titel bescherte.

Den Weltpokal im gleichen Jahr konnte man allerdings nicht holen. Die hervorragenden Innenverteidiger Sao Paulos und das freie Spiel nach vorne sowie die relativ gute Besetzung der Mitte in der Arbeit gegen den Ball neutralisierte Barcelona im Dezember 1992.

1992 gegen Sao Paulo

1992 gegen Sao Paulo

“Sao Paulo were infinitely superior, with Rai, Muller and other fantastic players. We couldn’t even compete with them, let alone win.“

Dabei war diese Partie eine der besten in der Geschichte des Weltpokals. Eigentlich zeigte Barcelona einige starke Passmuster mit viele geschickten Halbraum- und Flügelverlagerungen sowie dem zuverlässigen Finden von Guardiola in der Mitte in der Schnittstelle, besonders durch Koeman.

Sao Paulo war allerdings wie erwähnt leicht überlegen, obwohl Cruijff die „Cruijffigste“ aller Aufstellungen auspackte. Laudrup und Bakero variierten enorm, Amor schob ebenfalls weit nach vorne und die Halbverteidigerpositionen wurden sehr offensiv interpretiert. Eusebio besetzte immer wieder die rechte Außenbahn, um einrückende Bewegungen Stoichkovs zu balancieren. Dieser tauschte sogar einige Male mit Laudrup die Position, was Letzterem ermöglichte in nahezu allen Zonen aufzutauchen.

Insgesamt gab es immer wieder viele freie Positionswechsel, eine sehr gute Besetzung in der Vertikalen und durch Beguiristain und Eusebio gegen den Ball wie Flügelverteidiger eine Art 3-5-2-Formation. Es gereicht  Sao Paulo zur Ehre, dass sie gegen diese Mannschaft und einen hervorragenden Guardiola so stark waren.

Ein Video aus diesen Jahren zu Cruijffs Positionsspiel gibt es hier.

Zwischen Genie und Wahnsinn

In den nächsten beiden Jahren hielt Barcelona die nationale Dominanz aufrecht. Titel drei und vier in Folge wurden 1993 und 1994 standesgemäß eingefahren. In der Champions League scheiterte man aber an der Mission Titelverteidigung sehr früh gegen ZSKA Moskau. Dies brachte Cruijff dazu, den Kader noch stärker zu machen. Das Ziel: Vier ausländische Topstars, wovon jeweils drei je nach Gegner auflaufen sollten. Die Ausländerregelung jener Jahre verbot nämlich mehr als drei ausländische Spieler gleichzeitig auf dem Feld.

Die Katalanen verpflichteten Romario, den Torschützenkönig der CL 1993 (7 von 15 Toren PSV Eindhovens erzielt sowie ein paar weitere Torbeteiligungen), und hatten somit fünf absolute Weltklassespieler in ihren Reihen.

Koeman spielte weiterhin als Libero, wobei immer häufiger Viererketten genutzt wurden und Koeman einer der beiden zentralen Verteidiger war – auch, wenn Cruijff selbst sie nicht als vier, sondern als zwei Verteidiger bezeichnete. Außerdem konnte Koeman in einzelnen Partien als Sechser agieren.

Guardiola war nach wie vor einer der Schlüsselspieler und der einzige, der nicht von einem anderen Verein verpflichtet wurde. Er baute das Spiel auf der Sechs auf, sowohl in den 4-1-2-3 als auch 3-1-2-1-3-Systemen. In ein paar Partien gegen sehr schwache Mannschaften besetzte er sogar mit Koeman die Innenverteidigung, um möglichst viel Offensivdruck zu erlauben.

Laudrup wurde langsam zum Bankspieler degradiert, auch wenn er in einigen Spielen seine Einsätze bekam und weiterhin starke Leistungen zeigte. In gewisser Weise war er Cruijffs Allzweckwaffe; der beste Allround-Einwechselspieler in der Fußballgeschichte. Mal kam er als linker Außenstürmer rein, mal als Zehner oder Achter und gelegentlich sogar als Mittelstürmer.

Stoichkov wiederum konnte die beiden Flügelpositionen besetzen, wobei er mit Romario häufig eine Art verschobenen Zweiersturm kreierte. Der zweite Flügelstürmer – häufig Beguiristain, dessen Arbeit nach hinten und seine balancegebende Natur oft unterschätzt werden – balancierte dies und Stoichkov konnte zocken, um das Konterspiel zu verbessern und Romario zu unterstützen.

Ein Beispiel ist die Partie gegen Osasuna im Herbst 1993. Ohne Koeman agierte man im 3-1-2-1-3. Laudrup und Stoichkov liefen gemeinsam in der Mittelfeldraute auf. Stoichkov spielte hierbei als Zehner, der immer wieder nach vorne stieß oder mit Beguiristain die Positionen tauschte.

1993 gegen Osasuna

1993 gegen Osasuna

Laudrup war der Achter, der das Spiel – gemeinsam mit Guardiola – aufbauen sollte. Estebaranz wurde auf der rechten Seite als isolierter Breitengeber und Dribbler genutzt, Romario wiederum war sehr fokussiert auf Ablagen und sein Weltklasse-Bewegungsspiel.

Dieses System funktionierte zum Beispiel sehr gut. Auch ohne Koeman war man defensiv sehr stabil und spielte mit Ball überaus druckvoll. Dies war auch in 4-3-3-Systemen der Fall, wenn Koeman fehlte. Im Spiel gegen Valencia im Frühling 1994 war Laudrup der linke Achter und Guardiola gab den rechten Innenverteidiger.

1994 gegen Valencia

1994 gegen Valencia

Tatsächlich spielten die Außenverteidiger durchaus sehr hoch; mit und ohne Ball im Pressing, Goikotxea, der häufig als Mittelfeldspieler agiert hatte, besetzte mit Ferrer die seitlichen Positionen. Interessant ist, dass Bakero – früher ein sehr vertikaler Zehner im 3-1-2-1-3 – immer tiefer spielte.

In dieser Saison übernahm er öfters Sechser- und Achterpositionen, wie eben in dieser Partie. Stoichkov und Begiristain besetzten die Flügelpositionen, allerdings anders als üblich; dieses Mal war Begiristain auf rechts und Stoichkov auf links. Ivans Rolle unterstützte Begiristain häufig auf rechts, während Laudrup und Goikotxea vielfach den linken Flügel übernehmen konnten. Gegen den Ball spielte man in einem 4-1-4-1.

In jener Phase im Frühjahr 1994 wirkte Barcelona herausragend. Sie spielten viele starke Pässe in die Halbräume und auf die Flügelstürmer, was gegnerische Pressingbewegungen zerstörte. Die Positionswechsel waren gut organisiert, das Pressing sehr stabil und durch den Kader war man nicht nur herausragend besetzt, sondern konnte auch sehr flexibel agieren.

Die Zirkulation war sehr druckvoll, insbesondere Glanzleistungen Koemans und Guardiolas sowie das immer besser werdende Positionsspiel waren dafür hauptverantwortlich. Eine weitere Systemalternative zeigte Cruijff auch gegen Sevilla.

1994 gegen Sevilla

1994 gegen Sevilla

Hier spielte Laudrup eine Mischung aus falscher Neun und Zehn; die Formation war ein 4-3-1-2/4-1-2-3. Stoichkov und Amor besetzten die rechten Flügel- und Halbräume sehr gut, welche von Eusebio – einem eigentlichen Mittelfeldspieler – gut bespielt und unterstützt wurden.

Auf links spielte mit dem jungen Sergi ein gelernter Flügelstürmer, welcher die linke Seite besetzte. Das ermöglichte Romario Positionierungen im linken Halbraum und in der Sturmmitte, ebenso wie Laudrup. Situativ übernahm Bakero diese Aufgabe, wenn Sergi es nicht mit passendem Timing schaffen konnte.

Die weiten Vorstöße Sergis wurden ansonsten durch die flexiblere Rolle Eusebios und die zwei zentralen Spieler in der ersten Linie kompensiert, ebenso wie Guardiolas Bewegungen. Amor, der insgesamt linearer und vertikaler als Bakero spielte, übernahm wiederum Aufgaben Eusebios vorne und Bakero sicherte die Mittelfeldzonen neben Guardiola. Dieser bewegte sich teilweise auch ohne Ball nach hinten und verbesserte die Breitenstaffelung.

Diese Anpassungen zeigen, wie flexibel Cruijff war und wie sehr sich seine Möglichkeiten dank Romarios Verpflichtung verändert hatten. Im Spiel gegen Osasuna ging es primär um das Erzeugen von Durchschlagskraft im letzten Drittel, gegen Valencia wollte man stabil und druckvoll im Aufbau spielen, gegen Sevilla lag der Fokus wiederum auf hoher Pressingresistenz und Stabilität mit und ohne Ball.

Ein besonders wichtiges Spiel war natürlich das 5:0 gegen Real 1994, welches endgültig die Vormachtstellung Barcelonas in Spanien und Europa zementieren sollte – so zumindest die damalige Meinung. Dieses Mal entschied sich Cruijff gegen Laudrup.

1994 gegen Real Madrid

1994 gegen Real Madrid

Ursache dafür war die Suche nach defensiver Stabilität. Sergi besetzte den linken Flügel und arbeitete viel nach hinten, während Goikotxea als breiter Halbverteidiger Vorstöße auf der Seite suchte. Nadal, ein eigentlicher Innenverteidiger, agierte als linker Achter und füllte gemeinsam mit Guardiola als etwas nach rechts versetztem Sechser immer wieder die Dreierkette auf.

Dadurch entstanden einige Vierer- und sogar Fünferreihen in der ersten Linie, obgleich die grundlegende Formation eben das 3-1-2-1-3 war. Bakero war dieses Mal wieder der vorstoßende Zehner und erinnerte in gewisser Weise an Arturo Vidal in seiner Rolle bei Juventus Turin.

Real zeigte sich im 4-1-4-1 merkwürdig passiv und hatte unsaubere Staffelung in höheren Zonen, auch sehr wenig Präsenz, wodurch Barcelona sowohl im Pressing als auch in tieferen Zonen sehr stabil war. Das gute Bewegungsspiel Barcelonas und die klare Überzahl in der Mitte sorgten für die Dominanz.

Vermutlich wählte Cruijff in dieser Partie die 3-Raute-3-Formation exakt wegen dieser Überzahl in der Mitte und den Vorstößen der Halbverteidiger, welche von keinem der Real-Spieler aufgefangen wurden. Die Außenstürmer Reals waren quasi nicht im Spiel und die Passmuster Barcelonas überspielten die ersten zwei Linien der Madrilenen spielerisch.

Die offensiven Halbverteidiger und die gute Absicherung machten die meisten Probleme. Auch die Passmuster Barcelonas passten; viele längere Pässe mit Ablagen und Verlagerungen oder Vertikalpässen sorgten für einfachen Raumgewinn und einige Querpässe mit Vertikalpässe banden die Überzahl im Mittelfeld hervorragend ein.

Die Partie gegen Manchester United, welche Constantin Eckner hier analysierte, war ebenfalls ein Highlight dieser Phase. Und just in diese Phase der Dominanz kam anstatt eines Titels ein Rückschlag, von dem sich Cruijffs Barcelona nicht mehr erholen sollte.

Das CL-Finale 1994

Nach den zahlreichen starken Leistungen der letzten Wochen und Monate sowie den vielen Starspielern im Kader war der FC Barcelona Favorit. Sie hatten 1992 gewonnen und Cruijff selbst begründete den Favoritenstatus damit, dass man prinzipiell wie 1992 war, nur noch kompletter, erfahrener und wettbewerbsstärker. Cruijff provozierte vor dem Spiel sogar: „Sie basieren ihr Spiel auf Verteidigung, wir auf Angriff. Was wir für Romario ausgaben, der in 33 Spielen 30 Tore erzielte, haben sie für Desailly gegeben. Das ist bezeichnend.“

Barcelonas Vorbereitung für das Finale war mangelhaft. Cruijff motivierte seine Spieler 1992 noch mit „Geht raus und genießt es“; dieses Mal war es „ihr seid besser, ihr werdet gewinnen“. Doch Cruijff machte nicht nur einen psychologischen Fehler, sondern auch einen taktischen. Im CL-Finale entschied sich Johan Cruijff abermals dafür, Laudrup auf der Bank zu lassen und mit Koeman, Romario und Stoichkov als den erlaubten ausländischen Akteuren zu starten.

Der gegnerische Trainer Fabio Capello freute sich darüber mehr, als sich Laudrup ärgerte: „Als ich sah, dass Laudrup nicht spielte, war ich entspannt. Laudrup  war jener Spieler, den ich fürchtete, aber Cruijff ließ ihn draußen und das war sein Fehler.“

Cruijff: Ohne Laudrup und mit Viererabwehr

Barcelona startete nicht nur ohne Laudrup, sondern auch ohne die 3-Raute-3-Formation, welche man unter Cruijff jahrelang oft und erfolgreich praktiziert hatte. Stattdessen gab es eine Abwehrreihe mit Nadal, der gegen Real im Clásico noch auf der tieferen Achterposition auflief, neben Koeman als Innenverteidigerduo.

1994 Milan vs Barcelona

1994 Milan vs Barcelona

Die Umstellung war auf dem Papier durchaus nachvollziehbar. Gegen Real im legendären 5:0-Clásico funktionierte das System deswegen so gut, weil die Halbverteidiger in ihren Vorstößen offen waren. Sie konnten weite Wege machen, Gegenspieler herausziehen und in hohen Zonen simple Pässe in gefährliche Räume spielen. Die zahlreichen Mannorientierungen Reals halfen dabei. Außerdem gab es eine klare Überzahl in der Mitte und ein starkes Bewegungsspiel; gegen Milan fehlte dieses.

Das 4-3-3 Barcelonas sollte vermutlich die schnellen Konterangriffe und die doppelte Flügelbesetzung der Italiener negieren. Doch anstatt eines Vorteils für Barcelona, entstand einer für die Rossoneri. Sie konnten nämlich Barcelonas wichtigstes Instrument neutralisieren.

Positionsspiel ohne Bindung, Ballzirkulation ohne Zugriff

In den meisten Spielen hatte Barcelona leichtes Spiel in puncto Raum- und Balldominanz. Nur wenige Teams attackierten sie überhaupt in den vorderen Zonen, kaum eine Mannschaft tat es in damaliger Zeit konstant und mit passenden Strukturen. Koeman, Guardiola und die Halbverteidiger waren fast immer frei, wodurch sie den Ball problemlos laufen lassen konnten.

Gegner wurden dadurch Stück für Stück aufgemacht, bis die vorderen Staffelungen passten, um punktuelle Durchschlagskraft zu erzeugen – ob mit adäquaten Verbindungen für Kombinationen oder mithilfe der individuellen Qualität von Romario, Laudrup und Stoichkov.

Milan machte ihnen das Aufbauspiel natürlich deutlich unangenehmer. Zwar presste die Elf Fabio Capellos keineswegs durchgehend oder schon in den höchsten Zonen, dafür aber intelligent und mit guten Abläufen. Prinzipiell war es natürlich das übliche 4-4-2, doch es gab einige interessante Mechanismen, um die Spielweise Barcelonas zu beschädigen.

Einerseits stellte man aus dem 4-4-2 viele Staffelungen mit einem oder keinem Stürmer her; 4-4-1-1, 4-3-2-1 und 4-4-2-0 waren nicht unüblich. Massaro und Savicevic konnten die Passwege auf Guardiola versperren oder ihn einzeln abdecken, während der jeweils andere presste.

In einigen Situationen gab es natürlich auch das typische 4-4-2 oder eine Variante mit herausrückendem Albertini. Meistens war es aber durch die Mannorientierungen ein 4-4-1-1: Massaro ging eher auf Guardiola, Savicevic eher auf Koeman. Dadurch musste Nadal ohne wirkliche Anspieloptionen das Aufbauspiel übernehmen.

Dieser schob nämlich zusätzlich zu den beiden Stürmern oder eben bei höherer Stellung dieser beiden auf Guardiola heraus. Dadurch wollte man verhindern, dass sich Guardiola drehen und den Ball in höhere Zonen verteilen konnte. Albertinis Vorstöße wurden von Desailly abgesichert, der hierfür mit seiner Weiträumigkeit und physischen Präsenz besser geeignet war.

Interessanterweise spielten sie dieses Schema in Ballbesitz umgekehrt; Desailly rückte nach vorne, um zweite Bälle pressen oder lange Bälle per Kopf verlängern zu können. Dadurch entstanden 4-3-1-2-Staffelungen mit engen Flügelstürmern, tiefem Albertini und etwas breiteren Mittelstürmern, was für viele gewonnene zweite Bälle mit Schnellangriffen oder ruhiger Zirkulation zu Folge hatte.

Cruijffs Barcelona fielen dadurch einige Ballbesitz- und Pressingmöglichkeiten weg, die sie ansonsten für ihre eigenen Angriffe nutzten. Die eigenen, organisierten Spielaufbausituationen waren wie erwähnt eingeschränkt. Besonders problematisch war, dass die ohnehin unsaubere Besetzung der vorderen Zonen nun aufgezeigt wurde.

Koemans tiefe Positionierung und der Mangel an Räumen für seine Vorstöße, Guardiolas geringe Möglichkeiten im Spielaufbau und das gute Versperren der Außenverteidiger hatte zur Folge, dass Beguiristain, Stoichkov und Romario kaum Bälle erhielten. Insbesondere letztere beiden sind in puncto Unterstützung in tieferen Aufbausituationen nicht besonders aktiv und warten eher auf Pässe ins zweite Drittel, bevor sie ihre Bewegungen starten.

Bakero und Amor konnten diese jedoch nicht konstant bringen. Bakeros enorme Weiträumigkeit und Dribbelstärke früherer Tage ließ  mit 31 Jahren langsam nach, außerdem war er eher ein Spieler, der nur punktuell mit kreativen Aktionen wie Dribblings präsent wird und sich sonst über seine Bewegungen ohne Ball hervortat. Ohne die Präsenz in höheren Zonen konnte er sie nicht einbringen  und da er die Fähigkeit in höhere Zonen zu kommen nicht besaß, litt sowohl er als auch das Team darunter.

Amor und Bakero positionierten sich entweder zu tief, wodurch sie von vorne isoliert waren oder Pässe nach vorne von Milans schnellem Zusammenziehen abgefangen wurden, oder aber sie agierten zu hoch und konnten von den vier Abwehrspielern nicht angespielt werden. Dies war wohl auch der Grund, wieso Capello sich einzig vor Laudrup fürchtete.

Das Gegenmittel für Koeman und Guardiola war gefunden; und damit auch für Stoichkov und Romario. Mit Laudrup hätte Barcelona aber einen Spieler gehabt, der das Aufbauspiel unterstützt und sowohl die Raumdeckung als auch die Mannorientierungen Milans aufgebrochen hätte. Seine Pässe, seine Bewegung und seine Dribbelfähigkeiten waren eben deswegen die große Gefahr für Milan – die Cruijff nicht nutzte.

Sacchi-Lite gewinnt

Verletzungsbedingt kein Barest und kein Costacurta sowie keiner der drei großen Niederländer (Van Basten, Rijkaard, Gullit) mehr im Kader, doch Capello schaffte dennoch einen so souveränen Sieg gegen den großen FC Barcelona jener Jahre. Dabei war entscheidend, dass beide Mannschaften zu jener Zeit strategisch ihren Gegnern überlegen waren; Milan war zwar nicht mehr so spektakulär und intensiv wie unter Arrigo Sacchi, doch weiterhin hochklassig.

Speziell in Relation zum damaligen taktischen Kontext zeigten sie sehr hohe Kompaktheit und ein gutes Gegenpressing. Besonders die horizontale Kompaktheit in der Mittelfeldreihe war stark. Pässe in die Halbräume wurden gut attackiert, die Flügelstürmer unterstützten die zentralen Akteure dabei sehr gut und die Viererkette agierte in tiefen Zonen eng an ihnen, wodurch viele Pässe des Gegners in das letzte Drittel plötzlich zu Konterangriffen für Milan wurden.

Das oft genutzte 4-4-1-1 mit engerer Mittelfeldkette erinnert insofern an eine nicht ganz so intensive und kompakte Version von Diego Simeones Atlético Madrid der Saison 2013/14. Der Gegner hatte in der Mitte kaum Räume und musste auf die Seite spielen, wohin dann kollektiv verschoben wurde. Die hängende Spitze – öfters Massaro als Savicevic – sperrte die nächste Rückpassoption ins Mittelfeld zu (gegen Barcelona eben Guardiola) und zwang die Außenspieler des Gegners zu einer Entscheidung zwischen verhältnismäßig schlechten Optionen: Weit nach hinten, riskant nach vorne oder riskant in die Mitte?

Dank der Raumdeckung und einzelnen Mannorientierungen funktionierte diese Systematik sehr gut. Savicevic und Massaro als Ballhalter unterstützten das Konterspiel, bis nachstoßende Läufe kamen oder man auffächern und sicher aufbauen konnte.

Das 1:0 – und wegen der Strategien sowie taktischen Wechselwirkungen der beiden Mannschaften die Vorentscheidung – fiel passenderweise nach einem langen Ball, wo der zweite Ball nach einem Kopfball Sergis von Boban auf Savicevic weitergeleitet wurde. Sein tolles Dribbling führte zur Großchance Massaros.

Umstellungen ohne Erfolg

Cruijff schien Kleinigkeiten anzupassen (z.B. Positionswechsel Begiristain und Stoichkov oder weiträumigere Bewegungen Guardiolas im Aufbauspiel), bevor er kurz nach der Halbzeit umstellte. Aber diese Umstellung kam schon zu spät; Milan hatte Sekunden vor dem Halbzeitpfiff das 2:0 erzielt und zwei Minuten nach Wiederanpfiff das Spiel mit dem 3:0 entschieden.

Beim 2:0 kam es nach einer kaum gepressten Zirkulation Milans nahe am Strafraum zu einem Durchbruch Donadonis über den Flügel und einem Pass von der Grundlinie nahe am Fünfmeterraum in den Rückraum, welcher Massaro eine simple Einschussmöglichkeit gewährte. Beim 3:0 war es abermals eine Balleroberung auf der Seite, dieses Mal von Savicevic bei Nadal, sorgte für ein Traumtor – einen Volleylupfer über 25 Meter ins lange Eck.

Mit der Einwechslung Eusebios für Begiristain entstand eine Art 3-5-2; Sergi und Eusebio besetzten die Seiten, Ferrer und Nadal die Halbverteidigerpositionen neben Koeman. Das geringe Auffächern der drei zentralen Verteidiger zeigte einerseits eine unsaubere, unvorbereitete Umsetzung und andererseits die Angst vor den Angriffen Milans.

Diese blieben bei ihrem 4-4-1-1/4-4-2, wurden aber nun etwas häufiger überspielt. Stoichkov und Romario waren nun frei sich vorne zu bewegen, die Probleme in der Einbindung blieben. Das Tor Desaillys zum 4:0 – abgefangener Ball im Mittelfeld von ihm selbst, dann Konter eingeleitet und Durchbruch – entschied die Partie.

Anfang vom Ende

Mit dem verlorenen CL-Finale 1994 begann der Untergang von Cruijffs Barcelona. Laudrup wandte sich ab und ging zum Erzrivalen aus Madrid; Romario kam weder fit noch motiviert von der Weltmeisterschaft 1994 zurück und Stoichkov begann seine Streitereien mit Trainer Cruijff, der wiederum von Präsident Nunez Druck bekam. 1995 sollten auch diese zwei Starspieler nicht mehr im Verein sein, ebenso wenig wie Ronald Koeman.

Brazil won the World Cup after 24 years and that has made Romario crazy. A real number one will always perform, has strong legs that can carry glory and succes. Romario was no longer coachable. I don’t regret buying him, but I knew something like this would happen.

Cruijff sollte im nächsten Jahr kein goldenes Händchen mehr mit seinen Transfers haben. 1994/95 kamen Igor Kerneev, Gheorghe Hagi und Sohn Jordi Cruijff  als ausländische Spieler; einen besonders großen Einfluss sollte keiner haben. Auch Innenverteidiger Abelardo war kein Star, obgleich er jahrelang gute Leistungen zeigte.

Am ehesten hätte die Transferphase 1995/96 für eine Rückkehr des „Dream Team“ sorgen können. Mit Gheorghe Popescu und Luis Figo kamen zwei hervorragende Akteure. Ersterer sollte die Lücke Koemans füllen, Zweiterer jene Stoichkovs. Die zwei anderen ausländischen Transfers waren jedoch nicht so effektiv. Robert Prosinecki wurde zum bestbezahlten Fußballer der Welt gemacht, doch seine Leistungen waren inkonstant, er kämpfte mit Verletzungsproblemen und passte nicht ganz zum System Cruijffs, während Meho Kodro für viele bis heute als riesiger Flop gilt – mit 5,5 Mio. € war er auch der teuerste Transfer dieser Jahre.

Dabei muss man natürlich auch sagen, dass in jenen Jahren von Scouting kaum eine Spur vorhanden war. Zusammenschnitte von Spielern waren Mangelware, Statistiken gab es nicht. Auch viele andere infrastrukturelle Vorteile sind damals noch nicht nutzbar gewesen, weswegen bei vielen Transfers – insbesondere wenig bekannter Stars aus dem Ausland – immer ein großes Risiko dabei war.

Die individuelle Qualität wurde somit zum Problem. Cruijff konnte Spieler und Mannschaften zwar besser machen, doch für das höchste Niveau benötigte er eine Grundbasis an technisch-taktischen Fähigkeiten. Dementsprechend gab es die Dominanz letzter Jahre nicht mehr zu sehen. Den Tiefpunkt der Cruijff-Ära erreichte man wohl 1995 gegen Real Madrid.

1995 gegen Real Madrid

1995 gegen Real Madrid

Laudrups Rache kam über Cruijff und Barcelona, als der Erzrivale mit dem ehemaligen Superstar der Katalanen mit 5:0 gewinnen konnte. Real war dabei herausragend besetzt. Mit Raul, Luis Enrique, Zamorano, Hierro, Sanchis, Milla, Amavisca und natürlich einem Laudrup in Form besaß man herausragende Qualität.

Dank Laudrup konnte man diese Spieler auch passend einbinden und besonders im Konterspiel war man durch die zockenden Flügelstürmer effektiv. Ein weiterer Aspekt war natürlich der glückliche Start. Ein frühes Tor aus eigentlich schwieriger Position führte zu einer tollen Ausgangslage, dazu ließ Trainer Jorge Valdano mit einem deutlich aktiveren Pressing agieren.

Ohnehin schien es, als hätte Capellos Milan im CL-Finale 1994 vielen Mannschaften einen gewissen Plan vorgegeben, wie man Cruijffs Barcelona begegnen konnte. Das Cruijff’sche Positionsspiel wurde eigentlich als Maßnahme gegen Manndeckungen und unkollektives Pressing geschaffen; im Laufe der Jahre wurde dies seltener und seltener.

Real spielte zum Beispiel mit einem 4-3-1-2haften Pressing, welches insbesondere die Kreise Guardiolas einschränken sollte. Viele herausrückende Bewegungen verhinderten den typischen Einfluss Guardiolas auf das Spielgeschehen und somit fiel der womöglich wichtigste Akteur dieser Mannschaft effektiv aus. Stoichkov mangelte es an Explosivität früherer Tage, Hagi als falsche Neun war eher kontraproduktiv, da ihm das strategische Geschick Laudrups sowie die Unterstützung der Mitspieler wie in dessen früheren Jahren fehlte. Durchschlagskraft gab es kaum und das 3-5-2 mit tiefem Eskurza und höherem, engerem Stoichkov ließ die rechte Seite offen, welche Luis Enrique und Laudrup gnadenlos ausnutzten.

Cruijff versuchte in der folgenden Saison das Ruder umzureißen, doch trotz einzelner starker Spiele sollte es nicht mehr reichen. Im Clásico 1996 baute der niederländische Startrainer 4-2-2-2-System, welches im Mittelfeld allerdings verschoben war. Roger und Sergi wechselten sich beim Bedecken der linken Außenposition ab, Bakero konnte in hohen Zonen ebenfalls in diesen Raum ausweichen. Gegen den Ball ließ man die Seite oft erstmals unbesetzt oder Roger übernahm sie.

1996 gegen Real Madrid

1996 gegen Real Madrid

Kodro und Figo spielten sehr beweglich, es gab zahlreiche Positionswechsel und über längere Phasen spielte Figo wie eine falsche Neun, Kodro suchte zwischenzeitlich vom rechten Flügel immer wieder diagonale Läufe in die Spitze – à la Lineker und Salinas in früheren Saisons.

Das System sollte wohl Real von der starken Seite mit Laudrup und Redondo auf halblinks weg leiten, De La Pena spielte als Zehner und Popescu sicherte mit Guardiola die tiefen Zonen sowie die Einzugsgebiete Laudrups und Redondos. Das führte zu einem 3:0-Sieg, doch für einen Titel sollten Cruijffs Spielereien letztlich nicht reichen. In Europa und in Spanien konnte man sich nicht durchsetzen. Zwar gab es eine sehr interessante Partie im 3-1-2-1-3 gegen die Bayern, u.a. mit Guardiola als Libero und der Flügelzange Hagi-Figo, aber diese taktischen Highlights blieben oft die einzigen über Wochen. Der Bruch mit dem Vorstand und gesundheitliche Probleme führten zur Entlassung im Sommer 1996.

The board here are at Barcelona nothing. I have zero respect for these people. One puts on the music, the rest dances along. I’ll never drink a beer or a coffee with [President] Nuñez.

Der Verlauf des mannschaftlichen GoalImpacts. Danke an @GoalImpact, der die Grafik zur Verfügung gestellt hat. Der individuelle Verlust bzw. die Spitze von 1990 bis 1994 ist unverkennbar.

Der Verlauf des mannschaftlichen GoalImpacts. Danke an @GoalImpact, der die Grafik zur Verfügung gestellt hat. Der individuelle Verlust bzw. die Spitze von 1990 bis 1993 ist unverkennbar.

Nationaltrainer, Berater und Philosoph

Nach 1996 sollte Cruijff keine Trainerstelle annehmen. Er betätigte sich als Botschafter und äußerte sich oft in den Medien zu unterschiedlichsten Belangen im Fußball (wie in diesem interessanten Interview). Gelegentlich philosophierte er mit seiner Kolumne auch im El Periodico. Besondere Aufmerksamkeit erregten seine Kommentare zur Weltmeisterschaft 2010, wo er sich als gebürtiger Niederländer und Wahlkatalane zur spanischen Nationalmannschaft bekannte. Die Niederlande passe nämlich nicht zu seiner Spielphilosophie:

On Thursday they asked me from Holland ‘Can we play like Inter? Can we stop Spain in the same way Mourinho eliminated Barça?’ I said no, no way at all. I said no, not because I hate this style – I said no because I thought that my country wouldn’t dare to and would never renounce their style. I said no because, although without having great players like those of the past, the team has its own style.

I was wrong. Of course I’m not hanging all 11 of them by the same rope, but almost. They didn’t want the ball. And regrettably, sadly, they played very dirty. So much so that they should have been down to nine immediately. They made two such ugly and hard tackles that even I felt the damage.

It hurts me that I was wrong in my disagreement that instead Holland chose an ugly path to aim for the title. This ugly, vulgar, hard, hermetic, hardly eye-catching, hardly football style – yes it did serve the Dutch to unsettle Spain. And if with this they got satisfaction, fine, but they ended up losing. They were playing anti-football.

Immer wieder äußerte sich Cruijff zu einzelnen Punkten im Fußball auf diese Art und Weise; entweder durch Erklärungen seiner eigenen Ideen oder eben der (oft gleichzeitigen) Kritik an bestimmten Vereinen oder Trainern (besonders José Mourinho).

Selbst aktiv wurde er kaum noch. Der niederländische Verband hatte in den frühen 90ern seine Chancen verspielt, als man ihm nicht die Stelle als Bondscoach anbot. Er wollte zu viel Geld für die WM-Teilnahme, auch wenn er sich später natürlich äußerte, dass man mit ihm die WM 1994 gewonnen hätte.

Cruijff als Trainer Kataloniens

Seine letzte Trainerstelle war als Betreuer der katalanischen Nationalmannschaft, welche er entsprechend der Spielphilosophie in La Masia und somit seiner eigenen aufstellte. Mit einem 4-3-3 (Piqué, Busquets und Xavi im Mittelfeld) feierte man bspw. einen bejubelten 4:2-Sieg gegen Argentinien und insgesamt blieb Cruijff vier Jahre.

Später sollte Cruijff noch als technischer Berater bei Ajax Amsterdam und bei Chivas de Guadalajara arbeiten, doch bei beiden verstrickte er sich in Streitereien und die Cruijff’sche Revolution bei Ajax und in deren Jugendarbeiten gilt als gescheitert.

Am stärksten hatte Cruijff nach seiner Karriere Einfluss beim Barcelona, wo er Joan Laporta zum Präsidenten verhalf und neben Rijkaard auch für Guardiolas Positionierung auf dem Trainerstuhl verantwortlich war. In Anbetracht seiner Errungenschaften als Spieler und Trainer verlieh ihm Joan Laporta im März 2010 den Titel des Ehrenpräsidenten, welchen ihm Sandro Rosell, der neue Präsident, vier Monate später wieder entzog.

Trotz viel Kritik und ein paar Kontroversen nach seiner Karriere als Trainer, ist Cruijffs Erbe unglaublich groß. Er ist wohl die einflussreichste Person in der Geschichte des Fußballs. Besonders ein Konzept ist enorm wichtig.

Das Positionsspiel

In diesem Video werden einzelne Aspekte des Positionsspiels veranschaulicht, ebenso wie in diesem Artikel von unserem Adin Osmanbasic. Auch wenn die Ursprünge auf unterschiedliche Trainer zurückzuführen sind, so war es Johan Cruijff, der es – basierend auf seinen Ansätzen mit Rinus Michels bei Ajax – in heutiger Art und Weise konzeptualisierte.

Im Gespräch mit Martí Perarnau, Guardiolas Biographen, bezeichnete dieser Juanma Lillo und Johan Cruijff als die zwei großen Mentoren Guardiolas und den Niederländer auch als Erfinder des Positionsspiels in seiner heutigen Form, trotz vieler unterschiedlicher Anwendungsmöglichkeiten.

Das beginnt bereits in der holistischen Herangehensweise an den Fußball. Angreifer müssen verteidigen; Verteidiger müssen angreifen. Die Wichtigkeit des Ballbesitzes wurde ebenso betont wie die Einnahme bestimmter Positionen in Relation zur Ballposition.

When you play a match, it is statistically proven that players actually have the ball 3 minutes on average. The best players – the Zidane’s, Ronaldinho’s, Gerrard’s – will have the ball maybe 4 minutes. Lesser players – defenders – probably 2 minutes. So, the most important thing is: what do you do during those 87 minutes when you do not have the ball. That is what determines wether you’re a good player or not. (…) The best man in football is the one who’s positioned best. Without the ball.

Das Ziel: Mithilfe der richtigen Abstände möglichst viele Passoptionen schaffen und die eigenen Mitspieler zu unterstützen, ohne ihnen Aktionsmöglichkeiten wie z.B. das Dribbling zu rauben.

Playing simply is the hardest thing there is. The art is to play the ball so that the receiver has the overview of the pitch and can go to action effectively. The speed with which that happens is the difference between a good and a bad player.(…) The foundation is controlling the ball as quickly as possible, so you have more time to look around you.

Cruijffs Mannschaften zeichneten sich allerdings durch eine deutlich freiere Art und Weise des Positionsspiels aus, als Guardiolas Teams heutzutage. Es gab sehr viele Positionswechsel, die es bei Guardiola z.B. nur gelegentlich gibt. Außerdem liegt der Fokus Cruijffs auf dem Individuum. Die Positionen schienen nicht unbedingt kollektiv definiert, sondern durch eine Verkettung vieler individueller Vorgaben – oft auch individualtaktischer und technischer Natur – zu entstehen.

Für Cruijff war besonders das Spiel in den Lauf und das korrekte Anspielen wichtig.

Technique is not being able to juggle a ball 1000 times. Anyone can do that by practicing. Then you can work in the circus. Technique is passing the ball with one touch, with the right speed, at the right foot of your team mate. (…) A player who can play one touch football must have a fabulous technique. Strange how you have to be able to do everything with a ball before you can play it directly.

Deswegen konnte man bei Cruijff häufiger als bei Guardiola Pässe in den Raum anstatt in den Fuß sehen, welche das Ziel hatten einen Läufer aus dem Mittelfeld einzubinden und Spielzüge mit Spielern mit Sichtfeld nach vorne zu ermöglichen. Auf diese Aktionen folgten wiederum viele Hinterlaufbewegungen, welche in weiterer Folge nach den Ablagen und linienüberwindenden Pässen geschaffen wurden.

A team that passes the ball around in its own defense is doomed. You must pass the ball to midfield, as soon as possible because that’s where your best players are, and then the whole defense will be behind the ball.

Leseraufgabe: Was sagt Cruijff hier zu den Spielern? Bitte möglichst absurde technisch-taktische Erklärungen.

Passive Raumdeckungen konnten von Cruijffs Team fast ebenso gut bespielt werden wie Manndeckungen, welche insbesondere über das Schaffen von Überzahl in Ballnähe, die Vorstöße einzelner Spieler, Einzelaktionen und natürlich die Positionswechsel erzeugt wurden. Recht klare Passmuster, viele anlockende Aktionen und sehr viele Kombinationen mit nur einer oder zwei Ballberührungen sowie Zonenwechsel in der Ballzirkulation halfen dabei natürlich auch.

If you play on possession, you don’t have to defend, because there is only one ball. (…) Offside is not a defensive but an offensive weapon. (…) One thing is forbidden in football. The horizontal pass. If it goes wrong you lose two players. (…) A pass is only useful if you beat an opponent with it.

Auch der Torwart spielte bei Cruijff eine Rolle, auch wenn er nie so extrem wie Neuer unter Guardiola agierte. Besonders in Ballbesitz wurde er eigentlich nur im Notfall, für Konter oder bei Wechselpässen genutzt. Für jene Zeit war dies allerdings fortschrittlich, ebenso wie die sehr gute Raumaufteilung das konstante Geben von Breite und Tiefe.

Playing the ball back to the goalie doesn’t count as ball possession.

Seine eigene Erklärung zur Raute ist ein erhellender Hingucker eines großen Fußballdenkers. Folgende Prinzipien hat auch Pieter Zwart von Catenaccio.nl in diesem Artikel erwähnt und sogar präzise ausgeführt:

  • Keeping the field small
  • Direct pressure after losing possession
  • Defending spaces rather than opponents
  • Depth over width
  • Build-up play through the centre
  • Third man and triangles
  • Creating one-on-ones
  • Interchanging of positions
  • Profit from weaknesses

Neben dem Positionsspiel war Cruijff natürlich auch ein auf Pressing fokussierter Trainer und hatte zu damaliger Zeit auch dort einen Vorteil gegenüber allen Mannschaften Europas, außer einzelnen Erscheinungen wie Sacchis Milan. Besonders das flexibles Herstellen von Engstellen in strafraumnahen Situationen war sehenswert, das Gegenpressing und Pressing aus einer zonalen Grundstruktur mit vielen Mannorientierungen waren ebenfalls hochwertig.

Neben diesen strategischen Ideen und vielen tollen individualtaktischen Leitfäden war Cruijff auch in puncto Trainingsmethodik fortschrittlich.

„Der Ball wird nicht müde.“

Unbewusster Vorreiter im Training

How many more years do you want to continue being a coach?

Cruyff: “No idea. But in the first place, as long as I enjoy it. I love playing football. I love taking part in training sessions.”

Will you retire as a coach the moment you cant play anymore?

Cruyff: “That’s certainly possible. Playing makes this job tolerable.”

Are you still better than the players?

Cruyff: “Depends in what. The pitch is large. But as you’ve seen this morning, I make it smaller to suit me.”

To suit you?

Cruyff: “Of course, if it’s too big I can’t play. I have to change the rules so I can play. If we train 5 times a week, it’s twice for the players and three times for me.”

Dieses Zitat aus einem Interview Mitte der 90er zeigt, wie Cruijff trainieren ließ: Zwei Mal die Woche gab es größere Felder für die Spielformen und drei Mal die Woche kleinere Spielformen, sogenannte „small sided games“ und viele Rondos. Lieblingsübung: 4 gegen 4 mit zwei Neutralen in einem halbierten Strafraum.

Cruijff selbst wollte nämlich mitspielen, weswegen diese Spielformen genutzt wurden. Das Interessante daran: Cruijff konnte durch seine Beteiligung das Spiel innerhalb der Spielformen beeinflussen, seine Spieler direkt im Spiel kommandieren und ihnen Vorgaben geben sowie als Beispiel fungieren, wie man zu spielen hat. Diese Aspekte hatten einen positiven Effekt auf die Spieler und halfen Cruijff bei der Umsetzung seiner Ideen.

Gleichzeitig zeigen moderne sport- und trainingswissenschaftliche Studien, dass solche Spielformen für die technisch-taktische und physisch-mentale Entwicklung günstiger sind. Cruijff schaffte es damals, seine Spieler überdurchschnittlich gut zu trainieren und ihnen auch noch überaus kompetente Ratschläge zu geben. Im Verbund mit der individuellen Qualität erklärt sich der enorme Erfolg jener Jahre.

Desweiteren verband Cruijff im Fußball alles miteinander, auch wenn es teilweise an den Haaren herbeigezogen war (schien?):

What you see on the pitch often reflects what happens outside it. For example, in Barcelona we play aggressive and offensive. That’s because everyone around the team has an aggressive and offensive mentality. In everything we do. You’ll notice that when we train fast, the players also eat their lunch faster. Maybe the doctor will say that’s bad, but it’s about the mentality that reigns here.

Dieser Einfluss äußerte sich nicht nur in der ersten Mannschaft, sondern auch in der Jugend. Jüngst kritisierte Cruijff den FC Barcelona dafür, dass sie Messi kein Englisch in der Akademie beibrachten – und er wollte bewusst kleine Spieler in der Akademie haben, weil sie sich besser entwickeln.

Cruijff auf der Bank des Camp Nou

Desweiteren stand die Entwicklung im Fokus; Guardiola spielte vor seinem Debüt in der A-Mannschaft nicht als Stammspieler für die B-Elf, sondern im dritten Juniorenteam, oft auch als Rechtsaußen. Grund? Er spielte nicht, weil körperlich zu schwach. Cruijffs Antwort? NA UND?! Er musste spielen und entwickelt warden; Cruijff forderte auch, dass viele Angreifer mit Schwächen gegen den Ball in ihren Mannschaften als Abwehrspieler aufgestellt wurden, um sich dort zu entwickeln. Unter Cruijff schienen körperlich schwache Spieler gar eher bevorteilt als benachteilt zu werden:

Pep was not so big, so that was his disadvantage, but also his advantage. He was intelligent and he had vision. If you are not going to win physical battles you must learn to stay out of them. He could see and understand every position from the field. Pep was not going to be good if he had to defend 20 meters, but if he had to defend 5 or 10 meters, he could do it. So, he needed to make sure he had two players in the right position to help him and close down the space. When I saw his intelligence and his vision, that was the first indication he was going to be a good player and could become a great coach and go on to develop people. (..) The most important aspect of a coach are his eyes. Pep’s eyes are perfect, he sees every detail.

Diese Denkweise veränderte den FC Barcelona. Die Jugendtrainer und alle Verantwortlichen im Jugendbereich wurden mit diesem Mindset ausgestattet, was La Masia zur wohl besten Jugendakademie der Welt machte. Ein wichtiger Name: Francisco Seirul·lo Vargas, der den wissenschaftlichen Hintergrund für La Masia lieferte, gleichzeitig aber selbst den Fußball mit einer sozialen und eben kognitiven Komponente verband.

“We have destroyed only thinking in terms of defence, midfield and attack and have built a new game. In the last five years we have experienced a phenomenon if playing football in other conditions. If we do not evolve, we end up doing the same thing as everyone else. So we have to take a step forward. When we play the practise games in training he is the best defender on the team, much better than any of our defenders, because not only can he recover the ball but he also starts the move to create something.”

Seit langem ist Seirul·lo eine Koryphäe. Viele seiner Arbeiten sind auch heute noch Standard. Recherchiert man auf seiner Seite entrenamientodeportivo.org, so finden sich zahlreiche Artikel zu dynamischen Systemen, kognitiven Strukturen des Athleten im Sport und so weiter. U.a. teilte Seirul·lo das Training in eine kognitive Struktur (Vermittlung von Informationen in der Spielform), eine sozial-affektive Struktur (die Interaktionen der Einzelspieler innerhalb) und eine emotional-volitive Struktur (die Motivation zur Umsetzung), welche im Training zu berücksichtigen sind.

Dies zeigt übrigens auch eine Seite von Cruijff, die oft vergessen wird. Obwohl er so arrogant und selbstsicher wirkte, für sich unfehlbar und mit einer Meinung zu allem und jedem, so überließ Cruijff kompetenten Leuten – ob Spielern oder Leuten in seinem Trainerstab – durchaus wichtige Aufgaben. Eine wahre Führungspersönlichkeit also.

Fazit

Sometimes something’s gotta happen before something is gonna happen.

Coincidence is logical.

Every disadvantage has its advantage.

I’m an optimist. I’ve never seen the point of being a pessimist. When I close my eyes at night I see beautiful things.

Before I make a mistake, I don’t make that mistake. (…) Actually I never make a mistake, because it takes a huge effort for me to be wrong.

Zitate wie diese definieren Cruijff. Martin Rafelt und ich hatten uns sogar scherzhaft überlegt, einen Podcast zu machen, wo wir einfach über Cruijff reden und seine Zitate diskutieren. Sie spiegeln kurz und kompakt den Trainer und den Menschen Cruijff wieder.

Teilweise gilt er deswegen als arroganter Unsympath, für andere erhält er Kultstatus – und viele finden kleine Weisheiten in diesen anfänglich unpassend wirkenden Zitaten, welche ich bewusst über den Text verstreut eingebaut habe. Sie sollen ein authentisches Bild von Cruijff zeichnen, wie er sich gab und gibt.

In der Geschichte des Fußballs gab es zahlreiche bunte Persönlichkeiten (aka schräge Typen), Genies, tolle Trainer und herausragende Spieler, welche den Fußball für immer verändern sollten. Cruijff ist aber womöglich der einzige, der all diese Kategorien in sich kombiniert und wohl für jede einzelne davon als Prototyp gelten könnte. Seine Ideen haben sich beim FC Barcelona verselbstständigt und verwirklicht, mit phänomenalen Erfolgen in den letzten Jahren.

Heute kämpft Johan Cruijff mit dem Lungenkrebs, mutmaßlich eine Folge seines jahrelangen Kettenrauchens, welchem er als Spieler und Trainer frönte; sein vielleicht einziger „Mistake“, den er selbst zugeben würde. In den 90ern hörte Cruijff bereits wegen gesundheitlicher Beschwerden damit auf und widmete sich dem Kampf gegen das Rauchen. Fortan war er in Werbespots als erklärter Gegner des Tabaks zu sehen, auf der Bank hatte er häufig einen Chupa-Chups-Lutscher anstatt einer Zigarette bei sich.

Es ist sein Vermächtnis im Fußball, als Spieler, Trainer und Persönlichkeit, welche zu den vielen Genesungswünschen der letzten Wochen führten. Und auf diesem Wege wünschen wir einem Helden des Fußballs gute Besserung und viel Erfolg in seinem Kampf gegen die Krankheit.

Cruijff. Geborener Sieger. Quelle: Cruijff.

Dietrich Schulze-Marmelings (sehr empfehlenswertes) Buch „Der König und sein Spiel“, woraus ich zahlreiche Informationen und Zitate in diesem Artikel bezog, die Eigenrecherche von über fünfzig Partien und die tolle Seite 4dfoot.com halfen bei diesem Artikel ebenso wie die Seite Footballia.com / ihr Seiteninhaber, unser Leser Lukas Tank von footballarguments.wordpress.com und die Jungs von Catenaccio.nl.

 

Rafael Benitez und das vermeidbare Unvermeidliche

$
0
0

Benitez muss Real Madrid verlassen. Eine Entlassung, die wie nur wenige so viel Zustimmung und Verwunderung gleichzeitig erntet.

Für Trainer ist Real Madrid bekanntlich ein schwieriges Pflaster. Kleinste Misserfolge – beziehungsweise eher der Mangel an großen Erfolgen – werden rigoros bestraft. Bei Rafael Benitez schien eine frühzeitige Entlassung bereits vorprogrammiert.

In unserer Ballnah vor zwei Jahren schrieb ich ein langes Trainerporträt über Benitez. Quintessenz: Eigentlich ein guter Trainer, doch mit ein paar markanten Schwachstellen und zwischenmenschlichen Problemen. Im Laufe der letzten Jahre wurden ein paar seiner Stärken auch noch zum Standard, was zu einer Verringerung seines Status – der von 2003 bis 2009 relativ hoch war – führte.

Bei Inter und Chelsea scheiterte er. Zu jenem Zeitpunkt argumentierte ich, dass seine nächste Entwicklung und noch viel mehr seine nächste Trainerstation darüber Aufschluss geben würden, ob er noch eine Chance auf allerhöchstem Niveau erhalten oder sich mit seinem bisher Erreichten abfinden müssen würde. Bei Napoli war man zwar nicht spektakulär, doch zeigte ansprechende Leistungen und prompt erhielt Benitez – nach Gerüchten um einen Wechsel in die mittleren Tabellenregionen der Premier League – den Job bei Real Madrid.

Sein Status schien aber insbesondere in England bereits zu beschädigt; und Benitez für Real unpassend. Sogar José Mourinho hatte enorme zwischenmenschliche Probleme mit einigen der Spieler und den Medien, Carlo Ancelotti zog sich zwar erfolgreich und anständig aus der Affäre, doch konnte in seiner zweiten Saison nicht konstant Leistungen abrufen (lassen).

Für Benitez also eine unangenehme Situation: Starke Charaktere, enormer Erfolgsdruck von Anfang an, Fokus auf offensiven Fußball mit ästhetischem Mehrwert, der große Gegner aus Katalonien, viele Individualisten – eigentlich konträr zu jenen Kontexten, in denen Benitez ansonsten eher aufblüht.

Dennoch schrien bei der Entlassung einige auf. In den letzten neun Spielen (seit dem Clásico) kam Benitez‘ Real auf 36:11 Tore, 7 Siege, 1 Unentschieden, 1 Niederlage; als einer von sehr wenigen Trainern wurde er nicht nach einer Niederlagenserie, sondern nach einem Unentschieden entlassen. Eigentlich undenkbar – oder? Doch einige enorme strategische und taktische Mängel erklären diesen drastischen Schritt Reals.

Verbindungsprobleme in Ballbesitz

Nach dem Clásico kursierten zahlreiche Bilder, welche Reals nahezu katastrophale Staffelung in eigenem Ballbesitz zeigten und karikierten. Sogar für Laien war eindeutig zu erkennen, dass Real in Ballbesitz kaum eigene Angriffe aufbauen konnte, weil die Verbindungen zu schwach waren.

Vielfach formierten sich die Spieler der ersten und zweiten Linie Reals außerhalb der Formation Barcelonas. Sie zirkulierten den Ball in ihren Reihen vollkommen gefahrlos, während Barcelona ohne nennenswerten Aufwand verschieben und Räume verschließen konnte. Neben der Zirkulationsgeschwindigkeit war aber insbesondere die Verbindung nach vorne problematisch.

Mehrere Spieler stehen im Abseits, dahinter klaffen große Löcher. Wenige Sekunden später trifft Neymar.

Mehrere Spieler stehen im Abseits, dahinter klaffen große Löcher. Wenige Sekunden später trifft Neymar.

Kaum ein Spieler befand sich in den Zwischenlinienräumen. Weder die Zonen vor noch hinter Busquets und Co. wurden konstant von Real-Spielern besetzt. Dies führte dazu, dass die ohnehin langsame Ballzirkulation in den ersten zwei Linien kaum nach vorne übergehen konnte. Man wartete und wartete, doch es boten sich nur selten Passmöglichkeiten.

Leichtes Spiel für Barcelona ohne Ball also. Die Abstände zwischen den Linien waren in der Vertikale zu groß, in der Horizontale waren sie jedoch zu eng. Teilweise spielten sowohl Modric als auch Kroos eng vor den Innenverteidigern, die Außenverteidiger spielten entweder ebenfalls tief oder waren in vorderen Zonen kaum anspielbar, weil die Abstände in der Innenverteidigung und die Besetzung der zentralen Zonen im Mittelfeld nicht vorhanden war.

Wenn dann Pässe nach vorne kamen, hatte Barcelona in Ballnähe Überzahl und konnte Benzema und Co. einfach attackieren. Ballverluste waren die Folge, die Staffelung wiederum erlaubte kein erfolgreiches Gegenpressing.

Desweiteren waren die Bewegungen in vorderen Zonen viel auf Zufall und auf die Bewegung selbst ausgerichtet; anstatt auf den Kontext und die Synergien von mehreren Bewegungen. Mourinho und Ancelotti hatten es zum Beispiel geschafft, die Stärken Cristiano Ronaldos in puncto Durchschlagskraft sehr gut einzubinden und dabei seine Bewegungen für andere Spieler zu nutzen sowie das System und die Spieler um Cristiano so gebaut, dass die Schwächen Cristianos kompensiert wurden.

Quasi eine 6-0-4-Staffelung, in der Bale ein isoliertes Dribbing suchen muss.

Quasi eine 6-0-4-Staffelung, in der Bale ein isoliertes Dribbing suchen muss.

Besonders unter Ancelotti war dies überaus stimmig und für das Kollektiv passend. Unter Benitez fehlt diese Ergänzung der Spieler zueinander im letzten Drittel; teilweise überladen sie eine Zone gemeinsam, ohne sich dabei wirklich zu finden (ergo kaum Kombinationen) und haben keine Unterstützung in den Folgezonen, was dann in Einzelaktionen, Distanzschüssen oder Ballverlusten mündet. Schnelle Verlagerungen oder Folgeaktionen sind Mangelware.

Problematisch ist dies natürlich speziell gegen stärkere Mannschaften, welche kompakter verteidigen. Bei weniger Kompaktheit des Gegners und individueller Unterlegenheit konnte sich Benitez‘ Real eben trotzdem durchsetzen, aber gegen Barcelona, Villarreal und Co. fehlte es an dieser Fähigkeit. Auch gegen PSG hatte man Probleme mit der Durchschlagskraft.

Von Positionsspiel keine Spur. Die Raumaufteilung ist schwach.

Von Positionsspiel keine Spur. Die Raumaufteilung ist schwach; die Abstände sind unpassend, es fehlt an strategisch günstigen Optionen.

Neben dem Spiel mit Ball, gibt es auch Probleme im Spiel ohne den Ball.

Konstanz, Kompaktheit, Kollektivität: Dysharmonie und Dysbalance

Die gegen den Ball stärksten Mannschaften agieren meist mit hoher Intensität, fast durchgehendem Pressing und hoher Kompaktheit – und/oder haben Sergio Busquets auf der Sechs. Es ist eine alte Cruijff’sche Weisheit, dass man grundsätzlich besser verteidigt, wenn man individuell weniger Raum abzudecken hat. Natürlich gibt es auch Ausnahmen oder einzelne Situationen, wo eine Abkehr davon günstig sein kann.

Im Normalfall sind geringe Abstände zwischen den Mannschaftsteilen, gleichmäßige Bewegung, ballorientiertes Verschieben und eine Beteiligung der meisten Spieler in der Arbeit gegen den Ball jedoch unabdinglich. Real hat hier Probleme.

Cristiano Ronaldo erhält z.B. oft eine Freirolle. Unter Mourinho wurde diese durch die enorm guten Abläufe im Spiel nach vorne und einzelne taktische Balancebewegungen der hinteren Linie balanciert, bei Ancelotti war es zuerst Di Maria als linker Achter und später ein klares 4-4-2, die Cristianos geringe Beteiligung auffingen.

Cristiano beteiligt sich nicht an der Arbeit nach hinten. Ein einfacher Pass in die Mitte führt zu einem simplen Anspiel des freien Mannes im rechten Halbraum.

Cristiano beteiligt sich nicht an der Arbeit nach hinten. Ein einfacher Pass in die Mitte führt zu einem simplen Anspiel des freien Mannes im rechten Halbraum.

Unter Benitez ist Cristiano wieder zum Problem geworden. Er spielte in einigen Spielen als linker Flügelstürmer – unter anderem gegen den FC Barcelona – und betätigte sich öfters in tiefen Positionen an der Defensivarbeit, doch konstant wurde es nicht praktiziert. Vor Marcelo taten sich deswegen häufig weite Räume auf, wo Barcelona in Alves, Rakitic oder Sergi Roberto den freien Mann fand.

Cristiano ist aber nur ein Faktor im System. Häufig sind die Abstände auch bei den anderen Spielern nicht passend. Ein wichtiger Aspekt ist der geringe Druck auf Rückpassoptionen in höheren Zonen. Befindet sich der Gegner in einer schwierigen Situation in Reals Spielhälfte, kann er relativ problemlos den Ball in sichere Zonen zirkulieren lassen, die aber nicht weit weg von Reals Tor sind. Dadurch entstehen gefährliche Verlagerungen und Schnittstellenpässe, die schnelle Durchbrüche erzeugen können.

Ursache dafür sind zwei Sachen. Einerseits ist die Formation und die Bewegung darin unsauber. Was wir oft fast schon esoterisch als „Harmonie“ bezeichnen, ist im Grunde nur die Synchronizität der Spieler in ihren Bewegungen. Bei Real rücken häufig Spieler aus den vorderen Linien heraus, ohne dass es durch einen Kettenmechanismus von den Spielern aus der gleichen Linie abgesichert wird oder die Spieler aus der Linie dahinter nachschieben.

In der Bewegung ohne Ball fehlt es an Abstimmung und Gemeinsamkeit.

In der Bewegung ohne Ball fehlt es an Abstimmung und Gemeinsamkeit. Die Kompaktheit leidet darunter.

Geschickte Ballzirkulation kann darum für enorme Probleme bei Real sorgen. Diese Schwäche ist jedoch an eine andere gekoppelt. Unter Benitez war man schlichtweg nicht konstant in puncto Kompaktheit und Zonenbesetzung. Die Abstände waren bereits in statischen Situationen mitunter zu groß, weil die geplante Flexibilität ins Gegenteil schlug.

Benitez probierte häufiger – ob im 4-1-2-3 (mit sehr tiefem Casemiro), im 4-1-4-1 (mit dem inaktiven Cristiano auf rechts) oder einem 4-4-2 – dem Spiel gegen den Ball Stabilität zu verleihen, indem sich Bale und Co. relativ frei bewegen konnten, aber nach Ballverlusten die nächstgelegene Position einnehmen sollten. Das war aber nicht nur zu langsam, sondern häufig unsauber.

Sie konnten die offene Position (wie etwa den linken Flügel) nicht erreichen, weswegen sie dann u.a. anderem in den Zehnerraum trabten. Aus diesen Positionen bewegten sie sich aber nicht passend zur restlichen Mannschaft, wodurch diese eigentlich gute Idee verpuffte. Die entstehenden Staffelungen wurden improvisiert und nicht ordentlich ausgespielt, was dem Gegner Chancen für Raumgewinn ermöglichte.

Der Gegner lässt den Ball laufen, Real ist nicht intensiv genug im ballorientierten Verschieben. Eine schnelle Verlagerung sorgt für einfachen Raumgewinn.

Der Gegner lässt den Ball laufen, Real ist nicht intensiv genug im ballorientierten Verschieben. Eine schnelle Verlagerung von links nach rechts sorgt für einfachen Raumgewinn.

Inkonstantes Spiel im Umschaltmoment

Die Phasen bedingen bekanntlich einander; die soeben erwähnten Probleme Reals im Spiel ohne Ball und im Spiel mit Ball interagierten mit dem Umschaltmoment bzw. den Umschaltmomenten. Relevant: Die flache und unverbundene Staffelung in eigenem Ballbesitz. Hier konnte der Gegner nicht nur die Aufbauversuche simpel leiten, sondern war nach Balleroberungen häufig nicht unter Druck. Man konnte dann Konter gut ausspielen und Raum gewinnen, weil es Real an Zugriff im Gegenpressing und an Präsenz in den tieferen Zonen mangelte.

Hier folgt beim schwierigen Verlagerungsversuch ein Fehlpass in der Mitte. Zugriffsmöglichkeiten im Gegenpressing gehen gen Null.

Hier folgt beim schwierigen Verlagerungsversuch ein Fehlpass in der Mitte. Zugriffsmöglichkeiten im Gegenpressing gehen gen Null.

Der Fokus auf die Rückkehr auf bestimmte Positionen bzw. die Positionswechsel sorgten wiederum dafür, dass der Umschaltmoment länger dauerte und unsauber war. Auch wenn der Gegner nicht unbedingt konterte, so konnte er die offenen Räume nutzen, um sich neu zu organisieren.

Die Probleme beim Umschaltmoment gab es auch in die andere Richtung. Reals traditionell starke Konter waren zwar nach wie vor vorhanden, aber gingen vielfach auch ins Leere. Cristiano Ronaldos Freirolle und die höheren Positionen von insbesondere Bale und Benzema beschleunigten Pässe bei Konteraktionen zwar, aber die mäßige Unterstützung aus tieferen Zonen sowie ein enormer Fokus auf das Kommen hinter die Abwehr – ohne Bindung an die Situation dahinter – sorgten für viele verschwendete Möglichkeiten.

Umschaltspiel als Problemstelle.

Umschaltspiel als Problemstelle. Hier sollte Real eigentlich nach hinten laufen; die drei Stürmer stehen jedoch im Abseits und die Zonen dahinter sind unpassend besetzt. Valencia benötigt nur einen Pass, um fünf Spieler Reals zu überwinden. Die weiten Distanzen der Stürmer stammen aus der Positionierung zuvor und sind eines der größten Probleme.

Anderweitige Probleme …

… möchte ich außen vorlassen. In der heutigen Medienlandschaft ist es schwierig, Fakt von Fiktion  zu trennen. Besser gesagt: Bis auf ein paar wenige Ausnahmen ist es nahezu unmöglich. Real Madrid ist hierbei eine andere Welt in einer anderen Welt. An einem Tag äußert sich der Starspieler positiv über den Trainer, im nächsten Spiel reagiert er allergisch und plötzlich tauchen zig Medienberichte auf, die detailliert Probleme zwischen diesen beschreiben.

Insofern ist es natürlich möglich – vielleicht sogar wahrscheinlich –, dass Benitez mit einigen seiner Spieler nicht klar kam (und vice versa). Den Einfluss dieser Probleme auf taktisch-strategische Aspekte zu analysieren bleibt trotzdem schwierig; auch das Umgekehrte (aus dem sichtbaren Geschehen auf dem Feld Rückschlüsse zu ziehen) ist nicht viel einfacher und oftmals sehr subjektiv bzw. situationsabhängig.

Deswegen legen wir den Fokus in unseren Analysen nicht auf diese Aspekte, auch wenn sie uns bewusst sind, wir vielleicht sogar eine klare und dedizierte Meinung haben und die Relevanz davon erkennen. Ein Aspekt, den ich aber erwähnen möchte: Womöglich ist Benitez gescheitert, weil er Real gerecht werden wollte – und nicht sich selbst. Die oben genannten Probleme sind nicht gerade typisch für Benitez; aber aus dem Grund, dass diese Spielweise für Benitez untypisch ist. Bei der Suche nach mehr Offensive verlor Benitez seine Stärken und – letztlich – auch seinen Posten.

Fazit

Benitez‘ Entlassung war durchaus vorhersehbar. Seine Art spielen zu lassen und zu coachen, passt nicht unbedingt zu Real Madrid. Ein gutes Beispiel war die Partie gegen Rayo Vallecano: Sogar beim Stand von 10:2 in der 91. Minute begannen die Fans zu buhen, als Reals Spieler die Partei gegen zweifach dezimierte Vallecas einfach zu Ende spielen wollten. Diese enorme Gier nach maximalen Erfolg – in jedem Spiel und in jeder Saison – teilt Benitez zwar, doch im Prozess unterscheidet er sich von den Denkstrukturen der Fans, des Vereins und womöglich auch der Spieler massiv. Die dazu kommenden Mängel in Taktik und Strategie sorgten letztlich für seinen Abgang.

Vollgasfußball – Die Fußballphilosophie des Jürgen Klopp

$
0
0

MR hat ein Buch über Jürgen Klopp geschrieben. Die Entwicklung des „Vollgasfußballs“ wird auf 176 Seiten beleuchtet. Alle Informationen über den Inhalt, den Preis und den Verkauf.


VollgasfußballSpielverlagerung-Autor Martin Rafelt (MR) schreibt seit rund fünf Jahren über Fußballtaktik und beschäftigt sich dabei primär mit dem Spiel Borussia Dortmunds. Seine Begeisterung für das Thema Taktik wurde wesentlich von der Arbeit Jürgen Klopps hervorgerufen und geprägt seit dieser 2008 das Traineramt in Dortmund antrat. Nun wurden die Gedanken und Erkenntnisse der letzten Jahre in Buchform gebracht, um das Phänomen Klopp aus sportlicher Sicht zu beleuchten.

Dabei versucht das Buch jedoch nicht, eine bestimmte, fest definierte Spielweise in trockener Theorie zu erklären. Vielmehr geht es darum, die Evolution einer Idee nachzuvollziehen. Denn Klopps Vollgasfußball, das wird auf den 176 Seiten deutlich, hat sich stets weiterentwickelt. Es geht nicht um ein ideales System, sondern darum, wie elf Spieler sich auf dem Fußballfeld so organisieren, dass sie „mit Vollgas“ Fußball spielen können.

So besteht das Buch zu großen Teilen aus Analysen und Erklärungen zu Klopps Mannschaften seit 2008. Es wird erklärt, wie Klopp seinen Pressingfußball nach und nach etablierte, wie der BVB damit zwei deutsche Meisterschaften erringen und sogar bis ins Finale der Champions League vorstoßen konnte. Es werden die Ideen, Umstände und Synergien dieses Weges erläutert, ebenso wie die Widrigkeiten und Fehler, die letztlich zu Klopps Abschied aus Dortmund führten – und zu seinem Engagement beim Liverpool FC.

Neben der chronologischen Aufarbeitung von Klopps Arbeit gibt es Spieleranalysen zu Schlüsseakteuren, die den Vollgasfußball in ihrer Spielweise verkörperten. Zudem ist das Buch mit allgemeinen taktischen Erläuterungen angereichert, welche in Form von Exkursen an entsprechenden Stellen eingestreut sind. Das alles wird mit vielen Diagrammen und Bildern abgerundet. Hier gibt es eine Leseprobe inklusive Inhaltsverzeichnis:

Das Buch gibt es bei uns im Shop sowie in allen gutsortierten Buchhandlungen zum Preis von 19,90€. Die zehn Kapitel erstrecken sich auf 176 Seiten im Format 23,6cm x 16,8cm. Eine Veröffentlichung als e-Book ist in Planung.

 

Zum Shop

Auf Amazon bestellen

 

„Vollgasfußball“ ist das dritte gedruckte Werk von Spielverlagerung. Unser Trainerhandbuch „Fußball durch Fußball“ von Marco Henseling und René Marić lässt sich ebenso in unserem Shop ordern wie Tobias Eschers „Vom Libero zur Doppelsechs“. Mit jedem gekauften Buch unterstützt ihr Spielverlagerung und unsere Autoren.

Wie Sampaoli und „La U“ einst Südamerika aufmischten

$
0
0

Die knappe Niederlage gegen Real Madrid im Finale um den europäischen Supercup deutete etwas an, das sich bereits auf dem südamerikanischen Kontinent eindrucksvoll zeigte: Der „Professor“ kann auch und gerade bei Vereinsmannschaften glänzen.

Die chilenische Nationalmannschaft, welche spätestens nach dem Sieg über Spanien bei der WM 2014 sowie dem Gewinn der Copa América 2015 im eigenen Lande in aller Munde war, sollte Jorge Sampaoli weltweite Bekanntheit einbringen und ihn zu einem der gefragtesten Trainer überhaupt machen. Doch schon zuvor dominierte er mit Universidad de Chile nicht nur die nationale Meisterschaft, sondern gewann auch die Copa Sudamericana (lateinamerikanisches Pendant zur Europa League) und gelangte anschließend ins Halbfinale der Copa Libertadores. Spieler dieser Mannschaft finden sich bis heute im Kern der „goldenen“ Generation Chiles wieder.

Kader

In den nachfolgend beispielhaften beschriebenen Partien aus der Saison 2011/12 war einer von ihnen schon gar nicht mehr dabei: Eduardo Vargas hatte es bereits nach Europa verschlagen. Ein sehr junger, sogar etwas umtriebiger als heute agierender Charles Aranguiz befand sich hingegen noch als eine Stütze der Mannschaft in den Reihen von „La U“. Seine weiträumige, vorstoßende und gleichzeitig doch auch auf enge Situationen und Gegenpressing ausgelegte Art spiegelte das gesamte Team in entscheidenden Aspekten wieder. Für den umsichtigen, ruhigeren und mannschaftsverbindenden Part stand ergänzend kein geringerer als Marcelo Diaz, der dem ganzen einen strategischen Unterbau verschaffte.

Darüber hinaus gab es in Eugenio Mena einen linken Flügelläufer par exellence, der die gesamte linke Seite in unterschiedlichen Rollen bearbeiten konnte. Sein Gegenüber auf rechts, Matias Rodriguez, ging darin noch einen Schritt weiter und vereinte oftmals Elemente eines Flügelstürmers, Außenverteidigers und Achters in sich. Nicht selten besetzte er gar situativ das Sturmzentrum. Dabei konnte er bisweilen eine enorme Durchschlagskraft entwickeln und immer wieder Treffer per Kopfball oder Distanzschuss beitragen.

In Kapitän Jose Rojas fand sich ein als linker Innen- oder Halbverteidiger gerne im Halbraum vorstoßender Akteur zwischen den beiden. Neben ihm spielte mit Acevedo ein eher langsamer Mann vom Typus Libero oder alternativ der stabile und demgegenüber etwas offensivfreudigere Marcos Gonzalez. In einer Dreierkette konnte zudem Paulo Magalhäes als gelernter Rechtsverteidiger einen offensiv vorstoßenden und zur Seitenlinie ausweichenden Part übernehmen.

Mit Johnny Herrera gab es einen fußballerisch unsicheren, aber mitunter sehr reflexstarken Torhüter hinter der Abwehr. Davor konnte neben Diaz und Aranguiz vor allem der heute immer noch junge und immer noch bei Universidad de Chile spielende Sebastian Martinez auflaufen. Für sein Alter wirkte er überaus komplett und abgeklärt, gerade in der Ballzirkulation stark und auch als zentraler Mann in einer Dreierkette zu gebrauchen. Zusätzlich stand noch Guillermo Martinez, ein unterstützender, mannschaftsdienlicher Achter zur Verfügung.

Ebenfalls durchaus in der Achterrolle kam Gustavo Lorenzetti aus Argentinien zum Einsatz. Lieber agierte er allerdings als falsche Neun oder verkappt aus dem Zehnerraum heraus – dort alleine aufgrund der überaus ähnlichen Statur als etwas an Diaz erinnernder höherer Spielmacher mit gutem Gefühl für offene Räume und mögliche weitere Angriffsverläufe, die er sowohl mit Pässen als auch mit Dribblings einleiten konnte. Ebenfalls zurückfallend, aber grundsätzlich um den linken Flügel und Halbraum kreisend, konnte sich Emilio Hernandez in Szene setzen.

Zudem gab es mit dem später zwischenzeitlich in Leverkusen spielenden Junior Fernandes einen vor allem in 1 gegen 1-Situationen stärkeren, explosiven Spieler mit dem ein oder anderen guten Ansatz im Dribbling. Heute spielt er gemeinsam mit dem damals erst 18-jährigen Angelo Henriquez bei Dinamo Zagreb. Dieser war ein ablagenstarker, gerne auch mal etwas im Zwischenlinienraum oder zu den Seiten ausweichender Stürmer mit der Physiologie für eine eher etwas stationäre Rolle. Diese Station wechselte er dann eben von Zeit zu Zeit und schuf Raum für die dynamischeren oder dribbelstärkeren Nebenleute.

Ein ganz besonderer und spektakulärer Vertreter dessen fand sich in Raul Ruidiaz. Der passenderweise mit sehr kurzen Stutzen und klassisch schwarzen Schuhen auflaufende Peruaner liebte es, mit etwas Raum und Gegenspielern im Umkreis, seine Moves zu zeigen, indem er den Ball verschiedenartig mit der Sohle hin- und herzog und auf den richtigen Moment auf einen Tunnler oder Außenristpass wartete. Ein bisschen etwas vom Glanz der klassischen „Zehner“ schien durch Santiago.

RM wollte zu diesem Thema eigentlich schon mal was schreiben. Die Grafiken waren sogar schon teilweise fertig.

RM wollte zu diesem Thema eigentlich schon mal was schreiben. Die Grafiken waren sogar schon teilweise fertig.

Totale Liga-Dominanz

Grundformation in der ersten Halbzeit gegen Audax Italiano am 10.03.2012

Grundformation in der ersten Halbzeit gegen Audax Italiano am 10.03.2012

Die durchaus vorhandene Flexibilität der einzelnen Spielertypen sowie des Kaders in seiner Gesamtheit fand sich dementsprechend auch in den genutzten Formationen und Abläufen wieder. Hierbei setzte Sampaoli während der chilenischen Apertura vermehrt auf Anordnungen mit Dreierkette. Diese waren im Einzelfall nicht klar voneinander zu unterscheiden, sondern gingen vielmehr fließend ineinander über oder wurden während des Spiels gewechselt. Auch asymmetrische Mischungen aus Dreier- und Viererkette konnten alleine durch unterschiedliche Rollen von Mena, Rodriguez und den einzelnen Halbverteidigern entstehen.

Aus dem nominellen 3-4-3 wurde so beispielsweise in der ersten Halbzeit beim 6:0 gegen Audax Italiano alleine durch die zurückfallende Rolle von Lorenzetti häufiger ein 3-4-1-2, bei gleichzeitigem Vorstoßen von Aranguiz ein 3-3-2-2/3-1-4-2. Je nach Verhalten von Mena und Rodriguez gab es zusätzlich gar 3-2-5-hafte Phasen oder verschobene Anordnungen in der Raute zu sehen.

Zudem verhielten sich die Halbverteidiger unterschiedlich. Rojas ging häufig auf eine Höhe mit Diaz, der sich nach halbrechts absetzte. Aus der so entstehenden 2-2-Aufbaustaffelung ließ sich zentrumsfokussiert gegen abwartende Gegner aufbauen. Nach Balleroberungen konnte der Kapitän sogar von seiner Halbverteidiger-Position aus Mitspieler im Halbraum hinterlaufen und bis in den Strafraum nach vorne drängen.

Ein Beispiel dafür, wie „La U“ konsequent auf freie Räume reagierte: Gerade Lorenzetti konnte man oft dabei beobachten, wie er mit Schulterblicken nach ihnen Ausschau hielt, anschließend zusätzlich die Positionierungen der Mitspieler überprüfte und dann zur jeweiligen Aktion überging, bei der die ballnahe Unterstützung Vorrang hatte. Gleichzeitig war die Mannschaft darum bemüht, die Verbindungen in etwas ballfernere Zonen nicht abreißen zu lassen und durch entsprechende Besetzung der letzten Linie den Gegner nach hinten zu drängen. Hier brachten sie dann verschiedene Bewegungen zum Freiziehen von Anspieloptionen auf teils sehr engem Raum an, die ihre Stärken vor allem in der Abstimmung untereinander hatten.

Grundformation in der zweiten Halbzeit gegen Audax Italiano am 10.03.2012

Grundformation in der zweiten Halbzeit gegen Audax Italiano am 10.03.2012

Oft waren die Ausgangsstaffelungen eigentlich zu flach, doch sobald sich ein Spieler vorne löste und den Ball erhielt, kam die Maschinerie in Gang. Ballnah gab es sowohl Unterstützung für kurze Kombinationen als auch für Tiefenläufe, während ballfern gleichzeitig abgesichert wurde oder Angebote für (Verlagerungs-)Flanken erfolgten. Die hinteren Linien schoben dabei weit mit hoch, Universidad de Chile stand eng beisammen und konnte so auch bei direkt etwas weniger abgesicherten Ballverlusten verhältnismäßig schnell Zugriff erlangen oder sich zumindest kollektiv schnell zurückziehen. Auf das Herstellen passender Abstände musste dabei erst gar nicht geachtet werden, wodurch das Augenmerk auch bei eher gefährlichen Kontern schnell auf das Erlangen von Zugriff und das Abdrängen des Gegners gelenkt werden konnte.

Dieses Element war insgesamt auch im geordneten Pressing prägend, wo Flügelläufer und (Halb-)Stürmer außen aggressiv anliefen und den Gegner alleine an der Seitenlinie festmachen konnten. Das Nachschieben in den ballnahen Halbraum erfolgte dabei zunächst zögerlich, war jedoch an die Situation gekoppelt: Sobald dies etwa durch das Angebot eines Spielers nötig wurde, schob der etwas ballentfernte Teil der Mannschaft kontinuierlich mit herüber. In der Endphase des Verschiebens konnte dann zusätzlich der ballferne Flügelläufer, vor allem Rodriguez, mit in den Sechserraum hineinschieben und für Ballgewinne sorgen. Das Spiel mit offenen Räumen, die gar nicht offen sind.

Dabei griff das Team immer wieder auf Mannorientierungen zurück, die jedoch nicht durchgehend stabil und in diese Mechanismen eingebettet waren. Insbesondere die erste Verteidigungslinie ließ sich gerne tief fallen, auch zu fünft auf eine Linie. Ein offener Raum zwischen den Linien wurde dabei ebenso billigend in Kauf genommen wie das teilweise Fehlen eines eingespielten Kettenverhaltens. Dies blieb auch der Fall, als zur Halbzeit Magalhaes für Acevedo in die Partie kam und sich phasenweise eine klarere Viererkette zeigte.

Anpassungen auf internationalem Parkett

Grundformation in der ersten Halbzeit gegen Atletico Nacional am 20.04.2012

Grundformation in der ersten Halbzeit gegen Atletico Nacional am 20.04.2012

Eine solche wurde zumindest in Spielen der Copa Libertadores häufiger einmal innerhalb der Ausgangsformation genutzt, etwa gegen den kolumbianischen Spitzenverein Atletico Nacional. Die Außenverteidiger agierten zumindest mit Ball grundsätzlich wie Wingbacks und auch gegen den Ball nahmen sie eher Positionen neben dem Sechser im 4-1-4-1 als auf Höhe der Innenverteidiger ein. Stattdessen rückte beispielsweise bei Abstößen eher der defensive Mittelfeldspieler zwischen sie, was Staffelungen im 3-2(breit)-2(eng)-2(halb)-1 zur Folge hatte.

Unabhängig von der genauen Anordnung, die sich wiederum überaus flexibel zeigte, stellten Stürmer Henriquez oft gemeinsam mit den Flügelspielern den Weg ins Zentrum zu. Der dann folgende Pass auf den Außenverteidiger wurde aggressiv von seinem „La U“-Pendant angelaufen. Der Rest der Mannschaft staffelte sich vom Zentrum aus diagonal. Vereinzelt wurde dies in passenden Momenten mit bewussten Lücken im Sechserraum kombiniert, die als Pressingfallen dienten und den Gegner vor Entscheidungsschwierigkeiten stellten.Dessen Spieler konnten phasenweise kaum mehr unterscheiden, wo es eine Drucksituation gab, in die man nicht hineinspielen sollte und welcher Raum tatsächlich geöffnet war.

Überall schienen die Mannen von Sampaoli Zugriff erzeugen zu können. Dies gelang auch, indem Angriffe durch unterschiedliche Höhen der Flügelspieler und entsprechendes Verhalten des Stürmers lose auf eine Seite geleitet wurden. Schwierigkeiten ergaben sich erst, wenn doch mal ein Pass seinen Weg durch die Ausgangsstaffelung fand und die vertikalen Abstände nicht passten. Da der jeweilige Sechser eher die beiden Innenverteidiger unterstützte, blieb Raum im Zentrum frei. Auch aus der häufiger in 2 gegen 2-Situationen stattfindenden Restverteidigung konnte es zu derlei Problemen kommen. Die Pressingbeteiligung der vorderen Spieler in tiefen Zonen zeigte sich dabei wechselhaft und oft zu sehr auf Zocken ausgerichtet.

Grundformation Atletico 2HZ

Grundformation in der zweiten Halbzeit gegen Atletico Nacional am 20.04.2012

Mit Ball fielen sie demgegenüber vor allem bei klaren und teils extremen Überladungen auf, die entweder von Aranguiz oder Fernandes ballnah einrückend unterstützt und von Hernandez durch das ständige Ausweichen von seiner Position initiiert werden konnten. Dabei war ein Fokus auf die rechte Seite zu erkennen: Über Diaz oder Martinez konnte der Ball per Wechselpass nach halblinks auf den vorstoßenden Rojas weitergeleitet und insbesondere der ballferne Halbraum anvisiert werden. Gleichzeitig lag wiederum ein hoher Fokus auf der vielseitigen Besetzung der letzten Linie. Henriquez ließ sich vermehrt zwischen die Linien fallen, Aranguiz stieß in die Spitze vor, während die Spieler weiter außen ihre jeweilige Höhe daraufhin anpassten.

Strafraumbesetzung durch den linken Achter und den rechten Außenverteidiger waren dadurch keine Seltenheit. So gab es Situationen, in denen Hernandez sich im Achterraum bewegte und Mena links hoch blieb, während Rodriguez rechts ins bereits von Aranguiz mitbesetzte Sturmzentrum ging und Fernandes sich am Flügel etwas tiefer bewegte. Aus dieser Halbfeld-Position konnte man beispielsweise seitlich in den Strafraum vordringen, wenn der vertikale Weg in den Strafraum nicht gelang.

Im weiteren Verlauf zeigte sich einmal mehr die Flexibilität in der Ausrichtung, als Martinez sich zunächst konsequenter zwischen den Innenverteidigern aufhielt und die beiden Außenverteidiger vermehrt auf Achterpositionen gingen, während Aranguiz die Position des Zehners einnahm. Breite wurde aus diesem 3-Raute-3 nun vor allem abhängig vom Verhalten der gegnerischen Flügelspieler, die gemeinsam mit deren Teamkollegen vor Orientierungsschwierigkeiten gestellt werden sollten, erzeugt: Ging der Außenverteidiger doch wieder raus? Was macht der vorherige Breitengeber? Wie verhält sich Aranguiz?

Gegen den Ball ergab sich eine Fünferkette mit Diaz und Aranguiz als Sechsern davor – wechselnd zwischen 5-2-3, 5-2-1-2 und 5-4-1 angeordnet. Die zuvor bisweilen angedeutete Abseitsfalle kam dabei aufgrund des zusätzlichen Spielers kaum zum Greifen und man ging eher zum tieferen Verteidigen über, bei dem der Gegner durch enge Positionierungen im Zentrum in die jeweiligen Zugriffsbereiche der Fünferkette geleitet werden sollte. Dies sollte schließlich für einen 2:1-Heimsieg reichen.

Aus RMs Archiv: Das tiefe Pressing und welche räume die einzelnen Spieler abdecken (aus dem Spiel gegen die Boca Juniors am 22.06.2012.

Aus RMs Archiv: Das tiefe Pressing und welche räume die einzelnen Spieler abdecken (aus dem Spiel gegen die Boca Juniors am 22.06.2012.

Pragmatischer Wahnsinn als Vorbote für Peps Bayern

Doch nicht jedes Spiel gegen andere Gegner vom Kontinent sollte vergleichsweise reibungslos ablaufen. Gerade die riskante Absicherung konnte auch mal zu hohen Niederlagen beitragen. Das Achtelfinalhinspiel bei Deportivo Quito wurde mit 4:1 verloren. Das Aus schien kaum abwendbar. Da gewann „La U“ eben einfach mal 6:0 vor heimischem Publikum.
Was das Publikum dort zu sehen bekam, war nicht unähnlich zu dem, was Guardiola Jahre später mit seinem 2-3-5-haften System vor allem gegen Atletico Madrid spielen lassen sollte.

Durch eine enorme Präsenz um die letzte Linie herum wurde der Gegner aus Ecuador so weit zurückgedrängt, dass er sich kaum mehr befreien konnte. Das Gegenpressing ermöglichte etwaige Fehlpässe, ohne dass diese direkt in einem gefährlichen Gegenzug mündeten. Teilweise gelangte der Ball für mehrere Momente kaum weiter als 10 Meter vom gegnerischen Strafraum weg. Niemals wurden die flachen Staffelungen auf der letzten Linie tatsächlich statisch, auch wenn sich in Zahlen ausgedrückt schon fast ein 2-1-7 oder ein 1-2-2-5 herausbildete.

Alles zuvor Angedeutete wurde angesichts der Situation einfach in ein noch größeres Extrem überführt. Aus dem 2 gegen 2 in der Restverteidigung wurde häufig ein 1 gegen 1 (in Extremfällen fast ein 1 gegen 2), an einer Ecke des Strafraums ballten sich 4 statt 2 Spieler, Lorenzetti wirbelte noch konsequenter zwischen den Linien und balancierte vielfach ballfern. Quitos Sechserkette konnte auf verschiedene Weisen ausmanövriert werden.

Mögliche Ausgangsposition: Durch entsprechende Umformungen stehen beide Halbräume offen, 5 Spieler besetzen situativ die letzte Linie. Verteidiger und Mittelfeldspieler des Gegners wissen kaum, was in ihrem Aufgabengebiet liegt, wen sie „decken“ sollen.

Mögliche Ausgangsposition: Durch entsprechende Umformungen stehen beide Halbräume offen, 5 Spieler besetzen situativ die letzte Linie. Verteidiger und Mittelfeldspieler des Gegners wissen kaum, was in ihrem Aufgabengebiet liegt, wen sie „decken“ sollen.

Pass auf zentral zurückfallenden Spieler, sofern sich der Raum im Zentrum leicht öffnen lässt – dies war häufiger einmal tatsächlich der Fall. Die gestrichelten Pfeile stellen dann Anschlussbewegungen dar. Je nach Situation für ein Spiel durch die Schnittstellen oder für kleinräumige ballnahe Kombinationen.

Pass auf zentral zurückfallenden Spieler, sofern sich der Raum im Zentrum leicht öffnen lässt – dies war häufiger einmal tatsächlich der Fall. Die gestrichelten Pfeile stellen dann Anschlussbewegungen dar. Je nach Situation für ein Spiel durch die Schnittstellen oder für kleinräumige ballnahe Kombinationen.

Diaz treibt aus dem rechten Halbraum das Spiel an. Rodriguez rückt ein, Rojas auf: Verlagerung in den ballfernen Raum, wo durch eine der Schnittstellen steil gespielt werden kann oder wiederum ein Pass in den geöffneten Raum vor der Abwehr möglich ist.

Diaz treibt aus dem rechten Halbraum das Spiel an. Rodriguez rückt ein, Rojas auf: Verlagerung in den ballfernen Raum, wo durch eine der Schnittstellen steil gespielt werden kann oder wiederum ein Pass in den geöffneten Raum vor der Abwehr möglich ist.

Alternativ eröffnet sich die Möglichekit des direkten Vertikalspiels auf einen der Spieler mit zwei Pfeilen. Der andere bewegt sich beispielsweise als Rückpassoption und zur Absicherung entgegengesetzt. Die entsprechende Zielzone kann auch mit noch mehr Spielern besetzt werden

Alternativ eröffnet sich die Möglichekit des direkten Vertikalspiels auf einen der Spieler mit zwei Pfeilen. Der andere bewegt sich beispielsweise als Rückpassoption und zur Absicherung entgegengesetzt. Die entsprechende Zielzone kann auch mit noch mehr Spielern besetzt werden

Abschließende Worte

Hinter dieser Art des Fußballs muss sich eine unkonventionelle Denkweise verbergen. Es scheint die Fähigkeit hindurch, den Fußball durchaus in Mustern zu sehen, die aber mehr situative Abbilder einer Spielidee als klar festgelegte, abspulbare Schemata sind. Das macht eine Analyse oft ausschweifend, unvollständig, aber auch etwas kreativer als üblich. Am unvollständigen Ende steht dieser Text. Den ausschweifenden Part habe ich bereits mit einer Analyse der aktuellen Vorbereitung beim FC Sevilla übernommen, die sich hier findet.

Louis van Gaal: Der Missverstandene

$
0
0

Kein anderer Trainer war in der letzten Zeit Thema ähnlich heftiger Debatten wie der Niederländer Louis van Gaal.

Wie in anderen Ländern war auch sein Aufenthalt in Deutschland ein kleines Spektakel und selbst für Bayern-Verhältnisse die Amtszeit des Holländers turbulent.

Auf den Fast-Rausschmiss im Herbst 2009 folgten Traumfußball und das Fast-Triple sowie eine chaotische Folgesaison. Ganz unabhängig davon, wie man zu Louis van Gaal steht: Er ist ein besonderer und polarisierender Trainer. Doch wie wurde van Gaal zu dem, was er heute ist? Und wie ist er überhaupt? Oder: Wer ist er überhaupt?

Der Weg zum Trainer

Der Weg zum Trainer begann für van Gaal, geboren am 8. August 1951 in Amsterdam, bereits im Kindesalter, als er sich nicht auf Autogrammjagd begab, sondern lieber auf die Arbeit des Trainers achtete. 1971 wechselte van Gaal  in die zweite Mannschaft von Ajax Amsterdam, wo er es allerdings nicht weiter brachte als auf die Ersatzbank des A-Teams, was am damals überragenden Johan Cruyff lag.

Genau das ist aber auch das Besondere an van Gaal. Auch wenn er einen Profihintergrund vorweisen kann, so ist sein Werdegang doch nicht der eines typischen Trainers. Er ist nicht der, der sich als Aktiver Lorbeeren verdiente, nicht der Branchenfremde, der aus einer anderen Sportart kommt, nicht der langjährige Co-Trainer, der sich irgendwann emanzipierte, aber auch nicht der, der sich kontinuierlich steigerte, nachdem er entweder im Jugendbereich oder in unteren Klassen begonnen hatte. Van Gaals Weg ist eine Mischung aus all diesen Facetten.

Während seinen weiteren Profistationen bei Royal Antwerpen, Telstar, Sparta Rotterdam und AZ Alkmaar hatte van Gaal einen Nebenjob. Er arbeitete als Sportlehrer an der Don-Bosco-Berufsschule als Teilzeitkraft, wo er es mit Kindern aus verschiedensten Schichten zu tun hatte. Hier konnte er für seine Trainerlaufbahn Erfahrungen sammeln – und genau hier liegt wohl auch der Grund, warum van Gaal später am liebsten mit jungen Spielern arbeiten wollte und konnte.

Doch bereits der Spieler van Gaal dachte wie ein Trainer. Nachdem sich erste Engagements als Co-Trainer zerschlugen, hörte er den Ruf seines ersten Profiklubs, Ajax, wo er Trainer der A-Jugend sowie der zweiten Mannschaft wurde. Erst jetzt – als er eine Vollanstellung erhielt – gab er seine Stelle an der Don-Bosco-Schule nach elf Jahren auf.

In den folgenden Jahren von 1988 bis 1991 wurde er zum Assistenten Spitz Kohns, mit dem er laut eigener Aussage „phantastisch“ zusammenarbeitete, pausierte ein Jahr für das Erlangen des Trainerscheins und wurde danach Co-Trainer vom neuen Ajax-Coach Leo Beenhakker. Mittlerweile hatte er aber höhere Ziele: Einen Posten als Cheftrainer. Er bewarb sich bei anderen Vereinen, wurde jedoch vom Ajax-Vorstand zum Warten auf das Erbe Beenhakkers überzeugt. In der folgenden Spielzeit – 1991/92 – wechselte dieser dann nach wenigen Wochen zu Real Madrid – und der Weg für van Gaal war frei.

Tulpen aus Amsterdam

Er arbeitete an allen Fronten des Vereins in organisatorischen wie strukturellen Angelegenheiten, leitete Veränderungen in der Aufstellung und Taktik ein und bastelte ebenfalls an der Kaderzusammenstellung. Das ist die wohl wichtigste Eigenheit des Louis van Gaal: Kontrolle. Und damit hatte auch der Großteil seiner Konflikte mit Vorständen zu tun.

Dieses Verlangen nach absoluter Kontrolle kann als Stärke und Schwäche gesehen werden. Von Vorständen Vorständen, aber auch von Medien wird es häufig als Ignoranz, Sturheit, Arroganz oder – wie es Uli Hoeneß nannte – „Beratungsresistenz“ gedeutet. Dabei steht van Gaal doch mit seinem Trainer- und Betreuer-Stab in enger Kommunikation, fordert nach eigener Aussage sogar Ratschläge. Kommunikation bezeichnet er desweiteren als den zentralen Baustein sowohl des Fußballspiels an sich als auch seiner (Trainer-)Philosophie.

Allerdings bezieht sich das Kommunizieren nur auf seinen Stab und die Spieler, vom Vorstand lässt er sich höchst ungern in seine Arbeit reinreden. Allerdings sucht er in diesem Kontext generell das Gespräch eher selten – sicherlich ein weiterer Schwachpunkt van Gaals.

Zwar kommuniziert er mit den Spielern häufig, doch die Spieler suchen von sich aus das Gespräch mit dem Trainer selten. Ob dies an der Einstellung und dem Rollenverständnis seitens der Spieler liegt oder an van Gaal, sei dahingestellt. Es zeigt aber, dass van Gaal fast ausschließlich mit seinem Kader, unter seinen Bedingungen, unter seiner großen Kontrolle und mit von ihm „anerkannten“ Spielern funktioniert.

Dann funktioniert es allerdings richtig gut. Bereits in seiner ersten Saison bei Ajax – 91/92 – gewann van Gaal mit dem Team den Supercup. Nach und nach trug die Mannschaft immer mehr seine Handschrift und es stellten sich Erfolge ein. In sechs Jahren bei Ajax holte man außerdem noch dreimal die Meisterschaft, einmal den Pokal, dreimal den niederländischen Supercup, einmal den UEFA-Supercup.

Ajax: Prototyp des van Gaal-Fußballs

Die Krönung erfuhr die große Ajax-Mannschaft der 90er, als man 1995 die Champions League und den Weltpokal holen konnte. Es war die Wiedergeburt des Ajax-Mythos der 70er mit einem Fußball, wie er selten schöner gespielt wurde und einer Taktik, die Europa komplett dominierte.

Taktik und Stil kann man als ballbesitz-orientierten und dominanten, offensiven Fußball charakterisieren. Dies sieht für van Gaal selbst so aus:

„Dominant zu spielen bedeutet mehr Torchancen zu kreieren als die gegnerische Mannschaft. (…) Ich verbinde den Begriff  ´dominant´ mit offensivem Fußball und Pressing in der Hälfte des Gegners.“

Diese Dominanz erfüllten van Gaals Jungstars in ihrer besten Zeit perfekt. Man spielte ein flexibles 3-3-1-3-System. Doch nicht nur das System war beeindruckend, sondern auch die Art, in der es gespielt wurde. In ein auf Dominanz und Ballbesitz ausgelegtes Spiel mit festen Positionen wurden Rochaden und Spielerverschiebungen eingewebt, es wimmelte von Kurzpass-Stafetten, Doppelpässen, „Kaatsers“ (klatschengelassene Bälle) und Spielverlagerungen.

Essentiell dafür waren die flexiblen Mittelfeldspieler. Dazu gehörte Frank Rijkaard – ein Hybrid aus Innenverteidiger und Sechser, Antreiber, spielmachender Libero vor der Abwehr und Staubsauger in einem, der im Offensivspiel in Libero-Manier nach vorn stieß und dort häufig für den finalen Pass zuständig war. Ebenfalls sehr polyvalent war der große Torjäger – die vertikal sehr bewegliche Schattenspitze Jari Litmanen, die ebenso defensivstark war wie die zentralen Mittelfeldspieler Davids und Seedorf. Ihre Ballverteilung und das Initiieren der Ballzirkulation sowie Läufe aus der Tiefe in die Schnittstellen der gegnerischen Abwehr machten sie zu den zentralen Akteuren des Spiels mit den wohl meisten Aufgaben.

Ein weiterer Eckpfeiler für den Erfolg der extrem jungen Mannschaft (nur 2 Spieler aus der Start-11 des CL-Endspiels waren älter als 25 Jahre) war die besondere Beziehung zu van Gaal. Es waren von ihm selbst geformte Spieler, die ihm bedingungslos folgten, lernbereit waren sowie individuell auf Topniveau agierten.

In dieser Zeit finden sich auch viele Beispiele dafür, dass van Gaal nicht nur den Fußballer sieht, sondern auch den gesamten Menschen und seine Persönlichkeit, weshalb er beispielsweise alle Geburtstage der Spielerfrauen kennt. In den Niederlanden gilt er noch heute als einer der Verfechter des „Prinzips des ganzheitlichen Menschen bzw. Fußballers“. So unterstützte van Gaal – den auch der Tod seiner ersten Frau Fernanda enger mit dem Team zusammengeschweißt hatte – Patrick Kluivert, der einen Autounfall mit Todesfolge verursacht hatte, indem er ihn regelmäßig besuchte und an ihm festhielt.

Ebenso handhabte er es bei Finidi George, nachdem dessen Bruder in Nigeria ermordet worden war. Und als Torwart Edwin van der Sar wegen seines Spielstils – heute durch moderne Antizipationskeeper wie Manuel Neuer oder Victor Valdes vertreten – von den Medien verspottet wurde, stärkte van Gaal ihm öffentlich den Rücken und konterte die Kritik.

Misserfolg und Renovation als Verbandsfunktionär

Die folgenden drei Jahre nach Ajax, welche van Gaal beim FC Barcelona verbrachte, waren nicht unbedingt die erfolgreichsten, obwohl man zweimal die Meisterschaft, einmal den Pokal und den UEFA-Supercup gewann. Seine Spielidee war zwar durch die achtjährige Amtszeit von Johan Cruyff bereits zu großen Teilen im Verein implementiert, aber van Gaal kam mit seiner Direktheit nicht mit dem spanischen Lebensgefühl zurecht.

Folglich fand van Gaal nicht den richtigen Zugang zu seinem Team. Kritikern zufolge verliert van Gaal bisweilen das komplette Team aus den Augen, da er sich zu sehr mit den einzelnen Spielern befasse. In der Tat kümmert sich van Gaal um einen individuellen Zugang zu jedem, lässt von Experten Spielerprofile erstellen, arbeitet nach einem Menschenbild-Schema von Leo van der Burg und führt mit potentiellen Neuzugängen Gespräche in deren vertrauter Umgebung. Hierin liegt die Gefahr, dass die Gleichheit der Spieler leidet. Einige Spieler fühlen sich dann in erhöhtem Ausmaße vernachlässigt.

Sein Vertrauen in junge Spieler zeigte sich auch in Barcelona, als er aus der Jugend heutige Top-Spieler wie Xavi, Iniesta, Victor Valdes und Puyol ins Team integrierte. Doch nach dem Ende seiner Amtszeit folgten für den Verein wie für van Gaal schlechtere Zeiten. Sowohl bei der niederländischen Nationalmannschaft als auch bei seiner zweiten Amtszeit in Katalonien sowie seiner Tätigkeit als Technischer Direktor bei Ajax lief vieles schief und der Erfolg blieb komplett aus.

Dafür konnte er beim KNVB einiges bewegen, als er mit dem Masterplan „die systematische, ineinander greifende Arbeit aller Altersklassen im niederländischen Fußball“ einführte, die allen Kindern eine Basisförderung und in einem zweiten Schritt eine Ausbildung zum Profi ermöglichen sollte.

Dazu gehören auch weitere Aspekte wie die Einführung bestimmter Projekte, die Erstellung von Richtlinien für Jugendtrainer (Spaß vor Sieg, Straßenfußball), die Installation neuer Leistungszentren und Stützpunkte und die Erweiterung und Modernisierung des Hauptmomente-Modells, welches die Phasen des Spiels beschreibt, sowie des TIC-Modells (Technik, Spielintelligenz, Kommunikation), welches die Elemente des Spiel beschreibt:

AZ: „Den Totaalvoetbal in die Moderne übertragen“

Nach einjähriger Schaffenspause setzte bei van Gaal dann der Aufwärtstrend ein, als er zu AZ Alkmaar zurückkehrte. Auf die Vorarbeit von Co Adriaanse aufbauend, schaffte es van Gaal auch eine übernommene Gruppe zu führen, von seinen Vorstellungen zu überzeugen und mit seiner Arbeit zu beeindrucken.

Noch heute schwärmt sowohl der Niederländer von seiner damaligen Truppe, von der Offenheit und den Festen und  Mannschaftsabenden, die man zusammen verbrachte, als auch seine Spieler von seiner Arbeitsweise, seiner menschlichen Nähe und den genauen Erklärungen, die er bezüglich Vorbereitung, Aufstellung, Trainingsmethoden und Perspektiven gab.

Nachdem man in den ersten beiden Jahren jeweils knapp den Meistertitel und im zweiten Jahr den Pokal verpasst hatte, geriet die dritte Spielzeit zur absoluten Enttäuschung. Führungsspieler waren verletzt, die Mannschaft nicht eingespielt. Dazu kam das unprofessionelle Verhalten einiger Spieler sowie Pech und Unvermögen beim Torabschluss. Man rutschte auf den elften Platz ab – und van Gaal trat zurück, da er glaubte, sein Team nicht mehr erreichen zu können.

Nur dank eines Aufstandes seitens der Spieler ließ er sich umstimmen – das war der Wendepunkt für seine Mannschaft. 2007/2008 war nicht mehr zu retten, aber in der folgenden Saison erklomm van Gaal mit seiner Mannschaft den Gipfel – ein historischer und dabei doch höchst-souveräner Meistertitel für AZ.

Nominell war es im Meisterjahr ein 4-4-1-1-System, welches aber vor allem von seiner Flexibilität lebte. Nahm man bei gegnerischem Ballbesitz eine breite 4-4-2-Rautenformation ein, mit der man den Gegner diagonal auf die Außen lenken wollte, so war doch das System im Angriffsspiel deutlich fluider und nur extrem schwer in eine Zahlenkombination zu fassen: Es lag zwischen einem 4-4-1-1, einem 4-3-3, einem schiefen 4-3-3 und einem 4-3-1-2.

Das Spiel lebte von Flexibilität und war vor allem in der Offensive schwer in eine Zahlenkombination zu fassen. Zwar war der Ballbesitz-Stil von van Gaal noch klar erkennbar, aber es wurde nun auch mehr Wert auf Umschalt-Aktionen bei Ballgewinn gelegt.

Zentrales Organ des Spiels war auch bei AZ das Mittelfeld um den eher absichernden und aufbauenden Kapitän Schaars, den vertikal spielenden Spielmacher de Zeeuw, der mit dem nach innen ziehenden David Mendes da Silva und dem in einer sehr freien Rolle als hängende Spitze operierenden El-Hamdaoui kombinierte sowie Positionen tauschte, und dem intelligenten und polyvalenten Martens. Weil so viel Bewegung und Fluss im Spiel war, jubelte der Guardian, van Gaal habe den Totaalvoetbal in die Moderne übertragen.

FC Bayern: Achterbahnfahrt der Gefühle

Mit so viel Lob ging es dann weiter zu einem Spitzenklub – dem FC Bayern. Bereits die Pressekonferenz anlässlich des ersten Arbeitstages wurde legendär: „Mia san mia, wir sind wir – und ich bin ich“. „Ich bin ich“ oder das enorm wichtige „Der Geist ist stärker als der Körper“ als Leitsätze seiner Philosophie. Passend dazu seine Selbstcharakterisierung: „Selbstbewusst, arrogant, dominant, ehrlich, arbeitsam, innovativ, aber auch warm und familiär.“ Das Innovative stellte van Gaal auch sogleich unter Beweis.

Er setzte auf einen EDV-Guru, Kameras und digitale Vermessungen an den Trainingsplätzen mit Analyse-Tools (wie etwa dem beim Konditionstraining assistierenden LPM-System), auf einen Psychologen und das regelmäßige Ausfüllen von Fragebögen durch die Spieler.

Diesen konnte er durch seine systematische Trainingsarbeit imponieren. Neben (Endlos)-Passformen enthält das Repertoire seiner Trainingspraktiken vor allem immer wieder leicht variierende Übungen nach dem Muster „Piggy in the Middle“ und Trainingsspiele mit provokativen Regeln. So werden die Zielsetzungen in die Übungen eingewebt, die dann allesamt mit Ball durchgeführt werden können.

In dieser Rückrunde spielte die Mannschaft begeisternden Fußball und konnte dank erfolgreicher Aufholjagd noch die Meisterschaft feiern. Der ballbesitzorientierte, flüssige, aber exakt auf die Spieler abgestimmte und systematische Stil erwies sich für die Bundesliga als zu gut. Auch in der Champions League war man zum ersten Mal seit Jahren wieder erfolgreich. Mit etwas Glück und einigen starken Spielen wurde das Finale erreicht, aber aufgrund der Niederlage das historische Triple verpasst.

Durch den Erfolg wurde ein „Feierbiest“ geboren und mit ihm eine legendäre Rede auf dem Münchner Rathausbalkon. Der Erfolg machte aus van Gaal einen Medienliebling und aus seinen Bayern ein Gesprächsthema und sogar einen Sympathieträger. Doch der Erfolg blendete  – große Veränderungen gab es zur neuen Saison nicht.

Es kam, wie es kommen musste. Eine schlechte Vorbereitung sowie Formkrisen durch die WM, eine riesige Verletzungsmisere, ein schlechter Saisonstart und extremer psychologischer Druck waren schließlich die Gründe für eine letztlich enttäuschende Spielzeit. Dazu kamen die stetigen Querelen zwischen van Gaal und Präsident Hoeneß. Dies gipfelte letztlich in van Gaals Entlassung.

Schon während jener schwachen zweiten Saison wurde vor allem die fehlende Flexibilität van Gaals kritisiert, da er sich zu sehr auf Ballbesitz festlege und ausrechenbar spielen lasse. Allerdings ist dieser Ballbesitz dem FC Bayern oftmals aufgezwungen, da die meisten Gegner – vor allem in der Allianz-Arena – sich auf das Verteidigen konzentrieren und auf ein Remis spielen. Desweiteren nahm van Gaal sehr wohl gewisse Änderungen vor – immer kleine, aber immer wichtige.

Sportliche Philosophie

Im Zusammenhang mit dieser Kritik geriet auch die Vokabel Positionsspiel unter medialen Beschuss. Bevor  man das Positionsspiel kritisiert, sollte man diesen zentralen Bestandteil der Fußballphilosophie van Gaals jedoch genauer erkunden:

So definiert van Gaal Positionsspiel:

„Im Spiel kommt es darauf an, dass wir durch unser Positionsspiel den Aufbau von hinten her sicherstellen, das Mittelfeld überbrücken und uns viele hochkarätige Torchancen erarbeiten. (…). Dabei ist (…) entscheidend, dass die Räume optimal genutzt werden und dass die Pässe und Annahmen technisch sauber ausgeführt werden“

Positionsspiel bezeichnet also die optimale Ausnutzung des Raumes durch die ständige Besetzung der Positionen – wobei nur wichtig ist, dass die Position besetzt ist, aber nicht, wer sie besetzt –, aus welchen die Spieler kombinieren, um eine formierte Defensive knacken zu können. Dafür teilt van Gaal das Spielfeld in 18 Rechtecke ein, in denen die Spieler operieren.

Im Positionsspiel soll der vertikale Pass normalerweise nur erfolgen, wenn eine hohe Erfolgsrate besteht, ansonsten wird der Ball horizontal gespielt. Man versucht dabei, immer weiter aufzurücken. Um dieses Ziel zu erreichen, den Gegner nach hinten zu drücken und den eigenen Spielschwerpunkt nach vorn zu verlagern, haben die Außenverteidiger eine wichtige Rolle. Deren Bedeutung bei van Gaal  hat sich durch die Änderungen im modernen Fußball im Laufe der Zeit vom rein defensiven „Killer“ zum offensiv wertvollen Schlüsselspieler am radikalsten geändert. Mit einem Wechselpass können sie freigespielt werden, um dann nach vorne zu stoßen, womit der Spielschwerpunkt automatisch nach vorne geschoben wird.

Dann verlagert man weiter, bis sich Lücken oder Räume öffnen, in welche der risikoreiche Pass gespielt werden kann. Entweder einzelne Spieler reißen diese Lücken (Spiel breit halten, Gegenspieler auf sich ziehen, Gegenspieler wegziehen) oder durch die schnelle Ballzirkulation kommt der Ball an einen Ort, wo die Gegner eine Unterzahl haben und damit keine Präsenz. Mental und physisch ist dieses Spiel recht kraftschonend, während der Gegner, der gegen die Zirkulation immer wieder verschieben muss, in beiden Bereichen ermüdet. So kann er sein Spiel nicht über 90 Minuten durchhalten, was nach einiger Zeit zu einer höheren Erfolgsrate der Verlagerungen führt. Dieses geduldige Zermürbungsspiel bedeutet für van Gaal, den Gegner „kaputt zu spielen“.

Darauf zielt der zweite große Kritikpunkt an der Philosophie ab – ein zu starres Positionshalten:

„Positionswechsel sind nicht die Lösung, um eine kompakte Verteidigung auszuspielen. (…) Ich finde, dass ein Spieler von einer bestimmten Position aus operieren muss. Diese Position ist nicht an bestimmte Linien gebunden. In dieser Position geht es um einen Raum, den ein Spieler bespielen muss und kann. (…) Er muss aus dieser Position Raum schaffen für die Mitspieler, aber im richtigen Moment den Raum auch wieder zumachen.“

Wichtig ist es, den Raum auf dem Feld zu kontrollieren und über ihn zu herrschen, ihn zu kreieren, zu füllen, zu schließen, zu lenken und zu verschieben, worauf die abgestimmten Bewegungen und Abläufe innerhalb des Teams herauslaufen. Das ganze System ist hochkomplex, ausgeklügelt, aber auch sensibel und daher störanfällig. Dennoch ist es effektiv,  aber bedarf eben einer guten Vorbereitung sowie Verständnisses und Fitness – vor allem in geistiger Hinsicht.

Es geht immer darum, dass der Spieler Raum schafft. Er darf aber seine Position verlassen, um eine Überzahl zu kreieren, den eigenen Raum zu öffnen oder Gegner abzuziehen. Dies sind aber Spielerverschiebungen, die zur Rolle und Funktion der Spieler ebenso dazugehören wie zur gesamttaktischen Strategie.

Wirkliche Positionswechsel sind dann effektiver, wenn Raum geschaffen werden kann, wofür aber zunächst die gegnerische Verteidigung durch das Positionsspiel aufgebrochen werden muss, um den Positionswechseln die gewünschte Effektivität zu verleihen. Gegen einen ungeordneten Gegner ist dies viel effektiver als gegen einen kompakten Gegner.

Missverstandenes Genie

Doch der Misserfolg war nicht der einzige Grund für van Gaals Scheitern in München: Die Schwächen Louis van Gaals wurden ausgerechnet beim FCB, zu dem er und seine Philosophie ansonsten gut passten, besonders aufgedeckt. Ein Trainer, der vollste Kontrolle anstrebt, der wenig mit seinen Vorgesetzen spricht, der unter seinen Bedingungen arbeiten will und der mit ganz bestimmten Regeln, Normen und Werten eine gewisse Eigenwilligkeit besitzt, wird es an der Säbener Straße schwer haben.

Am 10. April 2011 war das Kapitel Louis van Gaal beim FC Bayern endgültig Geschichte – weniger als ein Jahr zuvor war er noch der Heilsbringer und König von Bayern gewesen, und damit drängt sich ein Vergleich ganz besonders auf – mit König Ludwig II. von Bayern.

Jener Märchenkönig, Monarch von 1864 bis 1886, war wie van Gaal ein eigenwilliger Charakter mit sehr speziellen (Wert-)Vorstellungen und einigen diskutablen Entscheidungen, der auch wenig mit seinen unmittelbaren Vorgesetzten kommunizierte. Beide wollten unfehlbar sein, aber beide waren es nicht, beide strebten vollste Kontrolle für sich an, was ihnen letztlich zum Verhängnis wurde, beide waren vorher zu Heilsbringern verklärt worden.

Diese Verklärung ist heute bezüglich Ludwig II. wieder zu beobachten, der als Märchenkönig gefeiert wird. In der Tat besitzen seine visionären Bauprojekte in vielerlei Hinsicht einen extremen Stellenwert. Wie Ludwig imposante Schlösser bauen ließ, die nie komplett fertiggestellt wurden, wollte van Gaal beim FC Bayern eine Mannschaft im Geiste des totalen Fußballes aufbauen. Wie Ludwig die Idee des Mittelalters mithilfe modernster Technik ins 19. Jahrhundert übertragen wollte, versuchte van Gaal, mit ähnlichen Mitteln, jenen Geist, der die Ajax-Teams der 70er- und 90er-Jahre prägte, an den modernen Fußball anzupassen.

Ludwig II. und Louis van Gaal hatten ein politisches bzw. ein sportliches Konzept, ein sehr gutes Konzept, das aber auf viele – vor allem zum Ende ihrer Amtszeit – nicht so wirkte. Doch für die entsprechende Situation und die Umstände (angespannte und verzwickte politische Lage bzw. von vielen komplizierten Störfaktoren beeinflusste Saison 2010/11) konnten beide noch einiges herausholen. So  entfaltete das Konzept des bayerischen Monarchen erst Jahre später seine volle Wirkung – die sich als nachhaltig herausstellenden Bauten zog Ludwig dem Tagesgeschäft der damaligen Wirklichkeit vor, während van Gaal scheinbar mehr an Grundlagenarbeit und langfristigem Erfolg interessiert war als an kurzfristigem – und so hofft wohl jeder Bayern-Fan, dass die Arbeit von van Gaal in nächster Zeit noch seine nachhaltige Wirkung zeigen wird.

Sicherlich gibt es auch Unterschiede zwischen Ludwig II. und Louis van Gaal, doch die Gemeinsamkeiten sind erstaunlich. Beide waren sie bayerischer König einer mal langen, mal kurzen Epoche, van Gaal reiht sich praktisch in eine Reihe ein: König Ludwig IV. von Bayern – ein missverstandenes, aber nicht unfehlbares Genie.

Felix Magath: Vom Zauberer zum Quäler

$
0
0

Von „Super-Felix“ zu „Quälix“: Kein Trainer ist ähnlich umstritten wie Felix Magath. Wie wurde aus dem schludrigen Talent einer der disziplinfanatischten Trainer der Bundesliga und wie sieht seine Spielphilosphie aus? Ein Porträt des aktuellen Coach des VfL Wolfsburg.

„Fantastico gol, forza Magath!“, tönt es aus den Kehlen der Laziofans. Auch 30 Jahre nach seinem Husarenstück wird er von allen Italienern, die nicht Fan der alten Dame sind, gefeiert. Nicht nur in Italien ist er bis heute ein Held, ebenso beim HSV und Fußballdeutschland. Es war der 25. Mai 1983, als er sich unsterblich machte.

Jener Magath, der zerbrechlich wirkte, ein sensibler Zauberer mit schwerer Vergangenheit und lockeren Füßen, sein linker Fuß sogar Gold wert. Eben jener linker Fuß, mit dem er sich in der 8. Minute in den Olymp schoss, als er im Olympiastadion in Athen den großen Dino Zoff und seine alte Dame abschoss.

Am Tag zuvor stand er noch in Trainingshose bei der Platzbesichtigung, während Michel Platini im Anzug siegessicher herumstolzierte, am Abend davor musste er noch den Zimmerservice bitten, seine Bettwäsche aufgrund des Angstschweißes zu wechseln.

Wider Erwarten war der Goliath aus Italien gefallen und Magath in einem berauschenden Fest von Medien, Kollegen und Fans zu einem griechischen Gott erhoben. Gut möglich, dass er sich auch heute noch auf diesem Thron wähnt.

Wie ein Träumer sich auf dem Fußballfeld verwirklichte

Wolfgang Magath, geboren im Jahr 1953, ein Sommerkind Ende Juni, war von Beginn an der Sohn von Unerwünschten. Seine Mutter eine ausgewanderte Ostpreußin, aufgrund ihres Dialektes in der Nachbarschaft bekannt, hatte ihn unehelich mit einem US-amerikanischen Soldaten gezeugt, der bald darauf das Land verlassen musste. Klein-Wolfgang blieb ohne Vaterfigur und hatte auch keinen Kontakt zu seinem Vater bis er 15 Jahre alt war. Für Magath bis heute der Grund, wieso er „in den Fußball abdriftete“. Seine Mutter arbeitete schwer und hatte kaum Zeit für ihn, Magath schwänzte die Schule, war unterwegs in Wäldern, aber auch Bolzplätzen und dem grünen Rasen, schulte lieber seine Beine als sein Gehirn. Obwohl Magath bis heute seine Nachlässigkeit bedauert, gab ihm erst dieses Fehlen einer Vaterfigur seine Karriere, seine Erfolge und Wohlstand.

Beim Heimweg von seiner katholischen Schule träumte Magath vor sich her. Der Quäler von heute war in seinen jungen Jahren ein sensibler Knabe, der auf dem Weg zum Bus gerne von Olympiasiegen in Leichtathletik träumte und statt der Goldmedaille öfters dem Schulbus hinterher sprinten musste.

Im Alter von sieben kam er zum VfR Nilkheim, dessen größter Erfolg bis heute ist, dass sie Magath vier Jahre halten konnten, ehe seine Mutter Helene ihn beim TV 1860 Aschaffenburg anmeldete.

Der Jugendtrainer Alexander Petschner erkannte sein Talent früh und förderte ihn, der junge Magath sah in ihm eine Vaterfigur, die er bis dato nie hatte.

Richtig zu tun bekam er es mit Petschner aber erst 1965, als er mit den älteren Spielern mit nach Frankreich auf ein Turnier wollte, was seine Mutter dazu brachte, bei Petschner anzuklingeln und ihn um Erlaubnis zu fragen.

Petschner ließ sich nicht zweimal bitten und nahm nicht nur damals den jungen Wolfgang unter seine Fittiche, auch auf Petschners Betreiben nahm Magath Briefkontakt mit seinem Vater in Puerto Rico auf.

Nach mehreren vergeblichen Probetrainings beim FSV Frankfurt, bei der Eintracht und bei den Kickers aus Offenbach wechselte Magath zum größeren Stadtrivalen Viktoria Aschaffenburg, doch Petschner glaubte weiterhin an eine große Karriere „seines“ Felix, doch forcierte ebenfalls dessen schulische Ausbildung, die jener zur Überraschung seiner Mutter mit dem Abitur beendete.

1974 war es dann fußballerisch soweit: Beraten von seinem ehemaligen Jugendtrainer unterschrieb Wolfgang, der sich nun in Anlehnung an seinen leiblichen Vater Felix nannte, einen Vertrag in der zweiten Liga beim 1. FC Saarbrücken – aus dem kleinen Maggi, einem „Aschaffenburger Lausbub“, wurde nun doch noch ein Profifußballer. 

Rascher Aufstieg und Titel

Sofort wurde Felix Magath Stammspieler und bereits in der Folgesaison stieg er mit dem 1. FC Saarbrücken auf. Mit 17 Saisontoren und zahlreichen Vorlagen war dies hauptsächlich sein Verdienst.

Obwohl der junge Magath, ganz im Gegensatz zu heute, sich nur schwer von alten Bekannten verabschieden konnte, wechselte er zum HSV und verließ den Verein, der ihm den Einstieg ins Profigeschäft ermöglicht hatte.

Trotz harter Kritik Ernst Happels an seiner Person („ein Klosterschüler, zu weich für dieses Geschäft“) wechselte Magath an die Alster und die Entscheidung sollte sich als goldrichtig erweisen – zehn Jahre Vereinstreue, europäische wie nationale Titel und Heldenstatus sollten der Lohn für Magaths Mut werden.

Doch nicht nur der sportliche Bereich sollte für Magath prägend werden, auch die Funktionäre und Verantwortlichen des HSV sollten Magaths Welt- und Selbstbild bis heute prägen.

Dr. Peter Krohn, Präsident und später Generalmanager, war ebenso wie der spätere Manager Günther Netzer ein Visionär in den wirtschaftlichen Bereichen eines Fußballvereines. Für die damalige Zeit gab es eine noch nie dagewesene Welle an Einsparungen, modifizierten Verträgen, Gehaltsobergrenzen und ähnlichem, was auch dem Teammanager Magath sehr wichtig sein würde.

Aber viel stärker beeinflussten seine Trainer ihn. Zuerst hatte er mit Kuno Klötzer einen knorrigen Schleifer der alten Schule als Trainer. Auf ihn folgte der ehemalige HSV-Torhüter Arkoc Özcan, welcher von Branko Zebec und später von der österreichischen Trainerlegende Ernst Happel beerbt wurde. Erfolg hatte nur einer von ihnen nicht, das war Arkoc Özcan – er war zu weich, zu nett, ihm fehlte die Autorität, die Zebec und Happel mitbringen sollten.

Schnell begriff der sensible Magath die Mechanismen der Profiwelt und kapselte sich privat immer mehr ab, doch dem Einfluss dieser Personalentscheidungen kann er sich bis heute nicht entziehen.

Als junger Spieler konfrontiert mit der Entlassung eines ehemaligen verdienten Spielers, orientierte er sich als Trainer deutlich an Zebec und Happel. Nach Vorbild dieser beiden sollte er einer werden, der die physischen und psychischen Grenzen seiner Spieler auslotet, sie beleidigt, Lob selten ausspricht und Strafrunden für kleine Fehler  verhängt; allerdings ohne die feinen Öffnungen der Menschlichkeit, wie es die beiden und insbesondere Happel taten, außerdem war er trotz seiner Erfolge nie ein taktischer Vorreiter, wie es seine beiden Vorbilder waren. Und auch als Spieler war seine Karriere von Rückschlägen begleitet.

Neben den großen Titeln (Europameister, zweifacher Vizeweltmeister, dreimaliger deutscher Meister und zweimaliger Europapokalsieger) musste Felix Magath auch schwere Verletzungen hinnehmen.

Im Alter von 25 Jahren erkrankte Magath an Hepatitis und war längere Zeit bettlägerig. In seinem Frust war seine einzige Ablenkung die Schachweltmeisterschaft zwischen Viktor Kortschnoi und Anatoliy Karpov, welche ihn für längere Zeit in den Bann zog. Auch nach Auskurieren seiner Krankheit verfolgte er internationale Schachspiele, zog erste Schlüsse für fußballtaktische Theorien daraus und ließ sich trotz Zeitmangels in der Schachabteilung des HSV einschreiben.

Die Hepatitis sorgte für eine kurzzeitige Abschwächung der Farbpigmente Magaths, ein Jahr lang sah er sich selbst nicht mehr wirklich ähnlich.

Ein weiterer schwerer Schicksalsschlag traf ihn 1986. Als er einen Mitspieler beim Training treten wollte, zog er sich einen Knorpelschaden im Knie zu und nach der Fußball-WM 1986 beendete er seine großartige Karriere.

Vom Rasenschach übers Management ins Trainergeschäft

Kurz danach bekam Felix Magath das Angebot des HSV den Posten des Managers zu übernehmen, welches er umgehend annahm. Trotz eines DFB-Pokal-Sieges im Jahr 1987 konnte er sich nicht lange halten und Kritiker bemerkten zynisch, dass Magaths größte Errungenschaften beim HSV die hochmodernen Atari-Computer für die Schachabteilung waren. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass der HSV seitdem keinen Titel mehr gewann, Magath schon.

Im Jahr 1988 übernahm er dann 1. FC Saarbrücken, abermals einen seiner ehemaligen Vereine, ging jedoch nach Differenzen mit der Vereinsführung im folgenden Jahr zum KFC Uerdingen, wo er nach eineinhalb Jahren entlassen wurde.

Magath bemerkte, dass er in diesem Geschäft nicht erfolgreich werden würde, aber von seinem geliebten Fußball konnte er sich nicht lösen. Völlig überraschend nahm er eine Karriere als Spielertrainer beim FC Bremerhaven in der Verbandsliga an, daneben arbeitete er in einem bürgerlichen Beruf.

Auf Anhieb wurde er Meister, doch seine Spieler jammerten über seine Trainingsmethoden („50 Runden im Powertempo, Diagonalläufe Eckfahne-Eckfahne. Nicht selten kam der Krankenwagen“) und 1993 wanderte er zum HSV als Betreuer der zweiten Mannschaft ab, Benno Möhlmann beförderte ihn kurz darauf zu seinem Assistenztrainer.

1995/96 wurde Felix Magath nun Trainer des HSV und feierte den Einzug ins UEFA-Cup-Achtelfinale in der Folgesaison, doch ungeachtet dieses Erfolges wurde er aufgrund zahlreicher Konflikte innerhalb der Mannschaft im Mai 1997 entlassen.

Seine fehlende Kommunikation mit den Spielern sollte ihm danach noch oft im Weg stehen, doch seine harten Trainingsmethoden sorgten dafür, dass viele abstiegsbedrohte Vereine seine Dienste in Anspruch nahmen.

Oft zitiert ist der Ausspruch des Norwegers Fjørtoft: „Ob Felix Magath die Titanic gerettet hätte, weiß ich nicht. Aber die Überlebenden wären topfit gewesen.“

Bis ins neue Jahrtausend zeigte sich ein deutliches Muster in der Trainerkarriere Magaths: kam er zu einem großen Verein, ging aufgrund der Medien und den Spielern alles in die Brüche, kam er zu einem kleinen Verein, so würde sich dieser aus dem Abstiegssumpf erheben (oder aufsteigen, wie es der 1. FC Nürnberg tat), nur um sich im Folgejahr dort wiederzufinden.

Als Feuerwehrmann der Liga gebrandmarkt, ging Felix Magath 2001 zum VfB Stuttgart, die in akuter Abstiegsnot waren. Der Klassenerhalt wurde gesichert und Felix Magath ging in die kritische zweite Saison, die er dank der herausragenden Jugendarbeit des VfB erfolgreich bestreiten konnte und in der folgenden Saison übernahm er zusätzlich noch die Aufgaben des Managers von Rolf Rüssmann.

Einige Transfers später wurde Magath zu einem Helden, als seine Mannschaft sich 2003 die Vizemeisterschaft hinter dem großen FC Bayern sichern konnte und die „jungen Wilden“ mit Offensivfußball in die Champions League einzogen.

Im Jahr 2004 konnte man Magaths Handschrift deutlich sehen: Spieler wie Kuranyi, Heldt, Hleb, Soldo, Lahm, Hildebrand und Hinkel waren eindeutig Magath zuzuschreiben, der sie geholt und gefördert hatte.

Trotz großspuriger Ankündigungen wie „Ich gehe erst, wenn ich den FC Bayern vom Thron gestoßen habe“ verließ Felix Magath seine jungen Wilden und wechselte zum Branchenprimus aus München.

Bereits im ersten Jahr wurde Magath Doublesieger mit dem „besten FCB-Kader aller Zeiten“, wie Uli Hoeneß und Franz Beckenbauer vor der Saison verkündet hatten.

Mit Frings und Robert Kovac verließen zwei Stammspieler den Verein, Sebastian Deisler hatte mit psychischen Problemen zu kämpfen und Mehmet Scholls Karriere neigte sich immer mehr dem Ende zu, doch der FC Bayern schaffte auch nächstes Jahr souverän das Double.

Felix Magath ließ dafür ein ähnliches System wie in Stuttgart spielen. Der Raum wurde oft mit weiten Bällen überbrückt, die Sagnol auf Makaay und Ballack schlug. Ein Erfolgsrezept in der Liga, doch trotz des Starensembles konnte Magath auf diese Art und Weise international keine Erfolge verbuchen. Die Kritik an seiner Person wuchs und nach dem Abgang Ballacks und weiteren Personalproblemen im Folgejahr wurde Magath entlassen.

Viele der Profis ließen kein gutes Haar an Magath, insbesondere Mark Van Bommel schimpfte über den Trainer („Taktik? Welche Taktik?“), doch auch der sonst so introvertierte Sebastian Deisler echauffierte sich über „Quälix“: „ Er misstraute den Spielern. Er schürte Angst, damit sie sich den Arsch aufrissen.

Für einen Trainer, der in Zeiträumen von ein bis zwei Jahren denkt, ist das, was Magath gemacht hat, vollkommen richtig. Ein Spieler, der fünf oder zehn Jahre dabei sein will, kann darunter leiden.“

Mit einem verletzten Stolz verließ der erste Doubleverteidiger der Bundesliga den FC Bayern und heuerte völlig unerwartet bei der grauen Maus VfL Wolfsburg an.

Mit Geld vom VW-Konzern führte er den VfL bereits im ersten Jahr zu einer UEFA-Cupteilnahme und in der folgenden Saison gab es seine persönliche Rache am FC Bayern.

Der Wundersturm Grafite und Dzeko besiegte ersatzgeschwächte Bayern mit 5:1 und kurz vor Ende wechselte Magath noch seinen Ersatztorhüter ein, um ihm „Spielpraxis zu verschaffen“. Vor dem letzten Spieltag gab Magath sein Meisterinterview – auf dem Münchener Rathausbalkon.

Die Wolfsburgmannschaft, die in diesem Jahr Meister wurde, war wie keine Mannschaft davor oder danach von Magath geprägt worden.

Acht der elf nominellen Stammspieler wurden unter seiner Ägide geholt, auch die anderen drei wurden maßgeblich von ihm gefördert. 55 Millionen Euro gab er aus, über 30 neue Spieler kamen in die Golfstadt.

Das Spiel war ein hochdynamisches Spiel, welches auf Umschaltmomenten basierte und in welchem das Zentrum, ähnlich wie im Schach, eine wichtige Rolle spielte. Das System war das von Magath bevorzugte 4-4-2 mit Raute, denn Magath war und ist einer der großen Verfechter eines zentral-offensiven Spielmachers.

Doch nicht nur auf dem Platz zeigte sich Magaths Würgegriff, der Trainer, Sportdirektor und Nachwuchskoordinator in Personalunion war, auch daneben wurden die Spieler von ihm maßgeblich beeinflusst.

Die hohe Spielerzahl im Kader sorgte für viel Konkurrenz und Probleme im zwischenmenschlichen Bereich. Ein Beispiel hierfür ist die Schlägerei zwischen der exzentrischen Diva Zvijezdan Misimovic und dem Ersatzspieler Rodrigo Alvim. Eine weitere Anekdote ist der Kollaps des Starstürmers Grafite im Trainingslager in Thun an einem heißen Julitag 2008.

Magath versprach einen trainingsfreien Tag, doch am Nachmittag mussten die Spieler des VfL den Berg Niesen hochlaufen – und Grafite kollabierte nach zweieinhalb Stunden Dauerlauf.

Solche Geschichten und Trainingsmethoden sind es, die eine Aufholjagd in der Rückrunde von Platz 9 auf Platz 1 ermöglichten, doch es verwundert nicht, dass nur wenige Spieler dem Meistertrainer nachweinten.

Auch ist es nicht überraschend, dass sich der VW-Konzern weigerte, das Gehaltsangebot des hochverschuldeten FC Schalke 04 zu überbieten und aufgrund dessen übernahm Felix Magath den FC Schalke 04.

In Augen des Schalke-Präsidenten Tönnies war Magath die einzige Möglichkeit für Schalke, sich wirtschaftlich zu konsolidieren ohne an sportlicher Stärke zu verlieren. Felix Magath bekam neben seinem Trainermanager-Job auch einen Posten im Vorstand und konnte deswegen Transfers ohne Bewilligung des Vorstandes durchführen.

Zahlreiche Spieler kamen und gingen, die meisten für kleines Geld und bald maß Schalkes Kader eine stattliche Zahl.

Kritiker äußerten bereits damals ihre Bedenken an Magaths Führungsstil, aber trotz Konflikten mit den Fans und einzelnen Spielern (wie etwa Albert Streit, den er suspendierte und der noch nach der Ära Magaths auf der Gehaltsliste Schalkes stand) konnte der sportliche Erfolg Magaths seine Gegner verstummen lassen.

Der FC Schalke wurde überraschend Vizemeister, obwohl man das gesamte Jahr über mit einer sehr tiefstehenden Abwehr spielte. Das Spiel nach vorne bestand großteils aus individuellen Aktionen und hohen Bällen, welche von Kuranyi und Co. verwertet wurden.

Der größte Erfolg Magaths in diesem Jahr war jedoch nicht der zweite Platz, sondern das Hochziehen junger unbekannter Spieler, wie Moritz, Schmitz und in der zweiten Saisonhälfte Matip.

Überraschend, aber in gewisser Weise doch zu erwarten war die folgende zwei Transferperioden Magaths: mit Rafinha, Bordon, Kuranyi, Westermann und Rakitic (im Winter 2010) verließen fünf Stammspieler den Verein und dazu gesellten sich mit Zambrano und Sanchez wichtige Ergänzungsspieler.

Gekauft wurde eine hohe Zahl an Spielern, von denen manche erfolgreich (Raúl, Papadopoulos, Kluge), einige weder Fisch noch Fleisch (Jurado, Uchida, Huntelaar, Metzelder, Sarpei, Escudero, Annan) und der Großteil absolute Flopps waren(Deac, Plestan, Hoogland, Avelar, Pliatsikas, Hao, Baumjohann, Charisteas, Karimi).

Diese schwache Transferphase und das destruktive Spiel Schalkes zeigten sich perfekt in ihrer Saison – in der Liga, wo man selbst agieren musste, konnte man kaum punkten und schwebte akut in Abstiegsgefahr, im DFB-Pokal und in der Champions League jedoch konnte man bis ins Finale respektive Halbfinale kommen. Letzteres jedoch ohne Felix Magath.

Magath hatte die Fans gegen sich gebracht durch die Transfers von Karimi und Charisteas, welche in Anbetracht des großen Kaders und der Verbindichkeiten fast wie Hohn wirkten.

Der Versuch sich über die soziale Plattform Facebook den Fans anzunähern, schien Erfolg zu haben, doch nach einer öffentlichen Schlammschlacht mit Clemens Tönnies wurde Magath entlassen und durch Ralf Rangnick ersetzt.

Magath pochte auf eine hohe Abfindung bei Entlassung, aber diese 15 Millionen konnte und wollte der FC Schalke nicht zahlen. Gerüchte, die Magath Veruntreuung bei Transfers unterstellten, kamen gelegen, doch völlig überraschend zog Magath seine Ansprüche zurück.

Tags darauf veröffentlichte der VfL Wolfsburg eine Pressemitteilung, wonach Magath wieder zu den Wölfen zurückkehrte – wie könnte es anders sein, denn als Feuerwehrmann. Und wie könnte es anders sein, als dass Felix Magath den drohenden Abstieg noch abwenden konnte.

Ob sich das alte zwei-Jahres-Schema seiner Karriere wieder bewahrheiten wird?

Magaths Fußballphilosophie, Schach und hartes Training

Eine zentrale Theorie erfolgreichen Schachspielens ist, dass man das Zentrum beherrschen muss, um das Spiel zu gewinnen. Im Zentrum hat man bis zuletzt mehr Alternativen um anzugreifen. Je nach Situation kann man auf die Außen ausweichen und man hat bis zum entscheidenden Zug den König geschützt.

Felix Magath, der aufgrund einer Niederlage gegen den fünfjährigen Sohn seines Schachtrainers Gisbert Jacoby zeitweise mit dem Spielen aufhörte, predigt dies auch im Fußball.

Seiner Meinung nach bestehen beide Spiele aus ähnlichen Grundkomponenten, nämlich Kraft, Raum und Zeit, wobei im Schach das Fehlerpotenzial aufgrund menschlicher Schwächen von elf auf eins reduziert wird.

Ähnlich wie im Schach sollen Fußballer zwei bis drei Züge vorausdenken und sich selbst um Taktik kümmern. Jeder Spieler sollte selbst sehen, welcher nächste Zug der beste ist.

Ganz nach Vorbild sowjetischer Eishockeytrainer empfiehlt deshalb Magath seinen Spielern das aktive Schachspielen. Was Magath jedoch nicht wusste: Gisbert Jacobys Sohn, der ihn besiegte, galt als großes Fußballtalent und schaffte es sogar in die zweite Bundesliga. Dies soll jedoch keine Entschuldigung für Magaths Leistungen im Schach sein, er unterlag bspw. René Gralla, einem Schachmeister, sehr bald aufgrund eines Anfängerfehlers – es scheint, Van Bommel hatte mit seiner Kritik „Was für eine Taktik?“ recht …

… Doch hier stellt sich die Frage, ob Magath überhaupt an fußballspezifischer Taktik interessiert ist. Trotz seiner Äußerungen zur Systematik des Schaches, versucht er den Fußball möglichst einfach zu machen und stellt Hierarchie, Motivation und Trainingsarbeit über die Taktik.

Beim FC Schalke gab es für Superstar Raúl keine taktischen Vorgaben, da er „dies selbst am besten wisse“ und die Mannschaftshierarchie seine Freirolle aufgrund seiner Karriere akzeptieren würde. Dies war auch bei Horst Heldt und Krassimir Balakov beim VfB Stuttgart der Fall – die Hierarchie bestimmt die Taktik, nicht umgekehrt.

Im Bereich Motivation und Trainingsarbeit, welche zusammen mit der Pressearbeit unter den Aspekt der „Personalführung“ fallen, vertritt Magath sehr autoritäre Thesen, welche an Branko Zebec und Ernst Happel orientiert sind.

Die Medien sind in seinen Augen der Gegenpol zum Trainer, welcher die Mannschaft zu einer kompakten Einheit machen will. Sie pushen das Ego der Spieler und sabotieren die Arbeit des Trainers durch inkompetente Kritik und Eigeninteresse. Magaths Ziel ist dem entgegenzuwirken, einerseits durch starke Kritik an den Spielern und Bestrafen der Medien bei – in seinen Augen – Fehlverhalten.

Magaths Höchststrafe ist das Schweigen. Journalisten und Reporter, die keine Antworten bekommen, sind ebenso hilflos wie Fußballer, die kein Feedback und keine Hilfestellung bekommen. Letztlich sind beide von Magath abhängig und auf ihn angewiesen, exakt diesen Umstand nutzt er, um seine Autorität aufzubauen.

Die Grundvoraussetzung für ein solches Verhalten den Spielern gegenüber ist eine hohe Anzahl an Spielern im Kader, insbesondere an jungen Spielern, die hungrig sind und ihr Ego eher dem Erfolg unterordnen. Ein Kader mit einer hohen Zahl an jungen Spielern und verschiedenen Persönlichkeiten besitzt viel mehr Heterogenität und die Leitwölfe können Rebellionen gegen den Trainer nur schwer organisieren, was Magath nach seiner Zeit bei Eintracht Frankfurt und Werder Bremen lernte.

Als Endkonsequenz seiner Fußballphilosophie und seiner Anschauungsweise des modernen Profis („sie suchen die Schuld immer bei anderen, sie sind überbezahlt und leben ihren Traum, dafür haben sie sich auch 24 Stunden am Tag in den Dienst des Vereines zu stellen“)  steht das Training.

Das Lieblingszitat von „Saddam“, wie er auch benannt wurde, ist: „Qualität kommt von Qual.“

Harte Konditionseinheiten mit Medizinbällen und der „Hügel der Leiden“, eine Erfindung Magaths, sollen nicht nur den körperlichen Stahl für die Roharbeit seiner Fußballer geben, sie sollen auch psychologische Barrieren knacken.

Kritik dafür bekam er unter anderem von den medizinischen Abteilungen der Vereine, auf die er fast schon prinzipiell keine Rücksicht nimmt. Spieler, die nicht gänzlich fit sind, werden unter Schmerzmitteln zum Spielen gezwungen.

In Anbetracht dessen könnte man sagen, was Christoph Daum mit Glasscherben und feurigen Kohlen Beginn der 90er bewirkte, erreicht Felix Magath mit permanentem Überschreiten der Schmerzgrenze,  permanenter Druck als Motivation für ein effektives Training.

Die Motivation für Erfolge ist jedoch neben Titeln jedoch eine andere, nämlich das Feindbild, welches Magath selbst für seine Spieler darstellt. Die Härte, welche Magath als Jugendlicher und Spieler abging, verlangt er von seinen Spielern.

Aussagen wie „ich bin der liebste Mensch, den es gibt“ und „ich bin immer nur Diener des Vereins“ wirken in Anbetracht dessen wie blanker Hohn.

Obwohl er menschlich und im Schachspiel noch auf dem Niveau der 80er festsitzt, so kann man ihm neben seiner Erfolge eines zu Gute halten: Seine Ausbildung hat er nachgemacht, Magath studierte nebenbei einige Semester Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, wobei aufgrund seiner Vita die Frage gestellt werden muss, ob er nicht manche Kurse schleifen ließ.

Peter Hyballa – Der Vorzeigeschüler

$
0
0

Ein Porträt des jüngsten Profitrainers Deutschlands, der als riesiges Trainertalent gilt und der es geschafft hat, sich schon in jungen Jahren in der Fachwelt einen Namen zu machen.

Peter Hyballa hatte sich nach der Saison 2009/10 schon auf den Gang aufs Arbeitsamt eingestellt. Doch drei Tage, nachdem sein geplantes Engagement bei RW Essen wegen der Insolvenz des Traditionsvereins gescheitert war, gab es den ersten SMS-Kontakt mit Alemannia Aachens Sportchef Erik Meijer. Wenig später schon unterzeichneten beide ein zweijähriges Arbeitspapier.

Während der Studentenzeit nimmt die Trainerkarriere Fahrt auf

Und so wurde Peter Hyballa zur Saison 2010/11 mit 34 Jahren zum damals jüngsten Cheftrainer im deutschen Profifußball ernannt. Doch bis zu diesem Moment hatte Hyballa schon einen langen Weg als Trainer hinter sich gebracht, welcher im folgenden nachgezeichnet werden soll.

Der Theologensohn Hyballa begann seine Trainerkarriere bei seinem Heimatverein Borussia Bocholt, wo er die F-Jugend betreute, nachdem er seine Spielerkarriere aufgrund von zahlreichen Verletzungen früh an den Nagel hängen musste. Gleichzeitig machte er den C-Trainerschein, sodass er nach seinem Umzug nach Münster parallel zum Sportstudium die B-Jugend des SC Preußen Münster trainieren durfte. Ebenfalls in seiner Studentenzeit betätigte sich Hyballa als Autor zahlreicher Artikel für den Philippka Sportverlag, der die bekannte DFB-Trainerzeitschrift fussballtraining herausbringt.

Schon im Studentenalter betrachtete Hyballa viele Trainingsprinzipien des deutschen Profifußballs äußerst kritisch. In einem Artikeln bemängelt er das mangelhafte Aufwärmen der Profispieler vor Meisterschaftsspielen, in einem anderen stellt er der deutschen Leserschaft die niederländische Laufschule als Alternative zum deutschen Konditionstraining vor. Ohnehin schon mit einer besonderen Beziehung zu unserem Nachbarland ausgestattet, stammte seine Mutter doch aus Rotterdam, schaute er auch in fußballerischer Hinsicht schon in jungen Jahren über den deutschen Tellerrand hinaus.

Doch auch als Autor beschäftigt sich Hyballa intensiv mit dem Heimatland seiner Mutter: Seine Magisterarbeit an der Uni beschäftigt sich ebenso wie ein knapp zehn Jahre später veröffentlichtes Buch mit dem Thema „Mythos niederländischer Nachwuchsfußball“. Das 240-seitige Werk befasst sich umfassend mit dem niederländischen Erfolgskonzept, das unseren Nachbarn die wohl höchste Quote an internationalen Spitzenspielern weltweit beschert.

Wechsel nach Bielefeld und ein Abenteuer

Auch Hyballas Trainerkarriere schritt weiter voran: 2001 wechselt Hyballa nicht ohne Nebengeräusche zur U19 des ostwestfälischen Rivalen Arminia Bielefeld. Doch in Bielefeld wollte sich der Erfolg nicht wirklich einstellen, sodass Hyballa schon nach einem Jahr entlassen wurde. Zur Überraschung vieler übernahm Hyballa zur Folgesaison 2002/03 die Ramblers Windhoek, einen Erstligisten in Namibia. Der Kontakt nach Namibia war schon zu seiner Studentenzeit entstanden, als Hyballa neben seiner eigenen Trainertätigkeit auch in der Trainerausbildung tätig war. Mit dem Wunsch, solche Fortbildungen auch in Namibia durchzuführen, wurde er in Münster von namibischen Funktionären kontaktiert, sodass Hyballa immer wieder nach Afrika flog und die dortigen Trainer fortbildete.

Und als nun das Angebot folgte, die Ramblers zu übernehmen, zögerte Hyballa nicht lange, sondern setzte sich nach eigenen Aussagen „gleich in den nächsten Flieger“. Doch auch in Namibia hielt es Hyballa nicht sonderlich lange aus, sodass er nach erneut einem Jahr wieder in Deutschland anheuerte, und zwar um die Junioren des VfL Wolfsburg zu übernehmen. Von 2004 an trainierte Hyballa drei Jahre lang U17 und U19 der Grün-Weißen. In dieser Zeit erreichte er 2007 das DFB-Pokalfinale der Junioren, in dem man sich jedoch dem TSV 1860 München geschlagen geben musste.

Im Anschluss an das verlorene Finale wechselte Hyballa erneut den Verein. Es zog ihn zurück in den Westen, wo er zur Saison 2007/08 die A-Junioren von Borussia Dortmund übernahm. Erneut blieb Hyballa insgesamt drei Jahre in Dortmund. Im Jahr 2009 erreichte er abermals das Finale des DFB-Pokals, und wieder zog seine Mannschaft den Kürzeren. Dieses Mal musste sich die Borussia im Elfmeterschießen dem SC Freiburg geschlagen geben. Im selben Jahr wurde das Finale zur deutschen Meisterschaft erreicht, hier traf man auf den von Thomas Tuchel betreuten 1. FSV Mainz 05. Und auch hier reichte es für Hyballa und seine Truppe nur zur Silbermedaille.

2010 sah Hyballa sich dann bereit für den Seniorenfußball. Im April unterschrieb er einen Zwei-Jahres-Vertrag bei Rot-Weiß Essen, nachdem er zuvor auch unter anderem mit seinem Ex-Klub Preußen Münster verhandelt hatte. Doch noch vor seinem ersten Arbeitstag wurde das Arbeitspapier in Essen wieder aufgelöst, nachdem der Verein die Insolvenz eingeleitet hatte. So nutzte Erik Meijer die Gunst der Stunde, um Hyballa in die 2. Bundesliga zur Alemannia zu lotsen.

Das erste Jahr als Profitrainer

In seinem ersten Jahr als Cheftrainer im deutschen Profifußball erlebte Hyballa eine durchwachsene Spielzeit. Aachen spielte teilweise mitreißenden Angriffsfußball, teilweise konnten die Spieler die komplexen Vorgaben des Trainers noch nicht voll umsetzen. Glanzlichter setzte die junge Mannschaft – das Durchschnittsalter der Startelf lag phasenweise unter 23 Jahren – vor allem im Pokalwettbewerb. In der 2. Runde traf Hyballa auf seinen Widersacher aus Jugendtrainerzeiten, Thomas Tuchel. Ihm gelang die persönliche Revanche durch einen Überraschungserfolg am heimischen Tivoli, wo die Aachener den Höhenflug der Mainzer Mannschaft brutal stoppte und sie mit einer 1:2-Niederlage auf den Heimweg schickte.

Im Achtelfinale traf man erneut auf einen Bundesligisten, und erneut konnte die Alemannia für eine Überraschung sorgen, indem man gegen die Eintracht aus Frankfurt im Elfmeterschießen die Oberhand behielt. Für die Viertelfinalbegegnung wurde der Alemannia Branchenprimus Bayern München zugelost. Die noch von Louis van Gaal trainierte Mannschaft ließ dem Zweitligisten beim ungleichen Aufeinandertreffen keine Chance, und so musste Hyballa mit seiner Mannschaft nach einer deutlichen 0:4-Niederlage Abschied vom Pokalwettbewerb nehmen. Doch trotz dieser ernüchternden Pleite konnte die Pokalsaison Aachens als voller Erfolg verbucht werden: Zuerst, und vor allem, konnte man in Fußballdeutschland wieder positiv auf sich aufmerksam machen. Außerdem konnte die durch den Stadionausbau nicht auf Rosen gebettete Alemannia die zusätzlichen Pokaleinnahmen gut gebrauchen. Und zuletzt sorgten gerade die Erfolge im Pokal dafür, dass die durchschnittlich verlaufene Saison sich nicht allzu negativ auf die Stimmung im Verein niederschlug, weil durch den Überraschungssiege gegen Mainz und Frankfurt viel positive Stimmung im und um den Klub entstanden war.

Ständige Präsenz in der Fachwelt

Der Werdegang Hyballas war mit Ausnahme seiner einjährigen Tätigkeit in Namibia nicht außergewöhnlich für ein Trainertalent: Trainerscheine in jungen Jahren, schneller Aufstieg als Jugendtrainer, noch vor dem 30. Geburtstag Trainer in einem Nachwuchsleistungszentrum. Zwar konnte Hyballa mit seinen Jugendmannschaften keine großartigen Erfolge feiern, doch die Art und Weise, wie seine Mannschaften agierten und seine außergewöhnliche Trainingsarbeit machten ihn immer wieder für bessere Jobs interessant. Zudem fällt auf, wie breit Hyballa seine Aktivitäten im Fußball angelegt hat: Trainer, Redakteur bei der bedeutendsten Trainerzeitschrift Deutschlands, Buchautor, Trainerausbilder. Er zeigte ständige Präsenz in der Fußballszene, erläutert immer wieder seine Philosophie – wie mit der gerade laufenden Serie in der Zeitschrift fussballtraining – und schafft es so, in der Fachwelt als kompetenter, innovativer, ehrgeiziger und hochmotivierter Trainer wahrgenommen zu werden.

Doch auch mit noch so vielen Artikeln in Fachzeitschriften und Buchveröffentlichungen wäre Hyballa nicht dort wo er heute ist, wenn er nicht ein herausragender Trainer wäre. Seine Mannschaften zeigen mitreißenden, offensiven und aggressiven Fußball. Der Gegner darf nicht ruhig aufbauen, sondern wird direkt attackiert. Bei Ballgewinn schauen seine Spieler immer zuerst in die Tiefe, schnelle Torabschlüsse und Tempofußball gehören zu Hyballas Philosophie. Auf Grundlage der niederländischen Spielphilosophie entwickelte Hyballa seine eigene Idee dahin, dass er wesentlich mehr Wert auf Risikopässe und schnelles Umschalten nach Ballgewinn setzt, als es beispielsweise der FC Barcelona tut oder der FC Bayern unter Louis van Gaal tat. So kombiniert Hyballa niederländisch geprägtes Positions- und Kombinationsspiel mit dem Tempo- und Konterfußball, der uns vor allem in der englischen Premier League in Reinform begegnet. Gepaart mit dem aggressiven Pressing entsteht ein riskanter, attraktiver und offensiver Spielstil, der perfekt zu Alemannia Aachen und der dort propagierten Mentalität passt.

Innovative Trainingsarbeit als Markenzeichen

Auch die Trainingsarbeit geht Hyballa so offensiv an wie die Meisterschaftsspiele. In Aachen hat er alle Laufeinheiten ohne Ball abgeschafft. Die Kondition wird bei ihm nach niederländischem Vorbild vor allem in Spielformen trainiert. Doch nicht nur dafür werden bei Hyballa Spielformen benötigt. Mit allerlei Einschränkungen und Provokationsregeln erreicht er beinahe sämtliche Trainingsschwerpunkte spielnah und komplex. Die Spieler sollen selbst Lösungen suchen, die Einschränkungen und Regeln sollen ihnen nur einen Schubs in die richtige Richtung geben. Hyballa sagt zu seiner Trainingsarbeit:

„Wir haben die Idee, beim Training möglichst viel das Spiel zu kopieren. Das kannst du nicht mit Gymnastik, mit Waldläufen, die wir übrigens ganz abgeschafft haben, mit Hütchen-Läufen oder besonders viel Krafttraining. Wir machen fast alles in Spielform. Der Ball ist manchmal wirklich der größte Feind eines Spielers.“

Ein weiteres Merkmal seiner Trainingseinheiten sind komplexe Endlos-Passformen, bei denen zumeist mehrere Spieler starten, aber nur einer den Ball bekommt. Für den spontanen Beobachter sehen diese Übungen sehr chaotisch aus, mit der Zeit erkennt man aber das Muster hinter dem Durcheinander und kann nur staunen, wie schnell und präzise die vorgegebenen Pass- und Laufwege von den Spielern ausgeführt werden.

Eine Kostprobe solcher Passformen stellt der Onlineauftritt der Zeitschrift fussballtraining als Ergänzung zum Artikel in der Printausgabe zur Verfügung.

Besondere Motivationskünste und absolute Leidenschaft

Neben der Trainingsarbeit muss unbedingt Hyballas absolute Motivation für den Job erwähnt werden. Anders wäre es wohl auch nicht möglich, dass jemand ohne Profierfahrung schon mit 34 Jahren einen Zweitligisten trainiert. Dabei betont Hyballa immer wieder, dass ihm diese Karriere nicht geschenkt wurde, sondern das Ergebnis von Akribie und dem Willen zur Weiterentwicklung ist: „Ich musste mich für den nächsten Trainerschritt immer gegen die Türen werfen. Viele Exprofis bekommen gleich nach Karriereende die Tür aufgehalten: Hier haste nen Trainer- oder Managerjob, bitteschön. Wenn ich leiser wäre, wäre ich wohl nicht mit 34 jüngster Profitrainer in Deutschland geworden.“

Aus diesem Zitat wird auch deutlich, dass Hyballa selten ein Blatt vor den Mund nimmt. Selbstbewusst und extrovertiert, so wird er beschrieben. Dabei stellt er sich stets vor seine Mannschaft und versucht so, Druck von ihr zu nehmen. Doch in der Kabine kommt noch eine ganz andere Seite an ihm zum Vorschein. Dort ist er nach eigener Aussage auch ruhig, im Einzelgespräch fürsorglich und sogar väterlich. Von seinen Spielern fordert er explizit Mitdenken und Hinterfragen, er wolle „gute, selbstbewusste Jungs haben und keine Ja-Sager.“

In der Kabine blüht Hyballa förmlich auf, das bestätigt auch sein derzeitiger Chef, Erik Meijer: „Seine Ansprachen sind dermaßen emotional. Ich habe Spieler aus der Kabine weinen gehen sehen, ich habe Spieler aus der Kabine glühen gehen sehen, er erreicht sie im tiefsten Innern ihrer Seele.“

Diese Eigenschaft unterscheidet Hyballa höchstwahrscheinlich von den meisten anderen Jugendtrainern in den Nachwuchsleistungszentren, die davon träumen auch eines Tages im Profifußball zu trainieren. Es reicht heutzutage nicht mehr, nur Fachmann oder nur Motivator zu sein. Durch seine lange Zeit in den verschiedenen Nachwuchsmannschaften ist Hyballa als Trainer trotz seiner jungen Jahre schon sehr erfahren. Wie viele Trainerneulinge arbeitet er am liebsten mit jungen, entwicklungsfähigen Spielern, die er noch formen kann. Doch in Zukunft muss er zeigen, dass er in der Lage ist, eine Profimannschaft gezielt weiterzuentwickeln und auf eine neue Ebene zu bringen, gleichzeitig aber auch den kurzfristigen Erfolg zu sichern.

Sein erstes Jahr in Aachen hätte schlechter laufen können. Das Erreichen des Viertelfinals im DFB-Pokal war ein erstes Ausrufezeichen, es könnten noch viele weitere folgen. Fest steht, dass die Alemannia in Peter Hyballa eines der größten deutschen Trainertalente unter Vertrag hat, das mit seiner Art Fußball spielen zu lassen eine Bereicherung für den deutschen Profifußball darstellt und in Zukunft noch für einige Furore sorgen dürfte.


José Mourinho – der Mann mit den zwei Gesichtern

$
0
0

Als Selbstdarsteller, Lügner und gar Fußballfeind verschrien, von seinen Fans jedoch immer verteidigt. José Mourinho ist nicht nur der polarisierendste Coach, er ist auch der populärste.

1,8 Millionen Fans hat er auf Facebook, sechsmal so viel wie Felix Magath, viermal so viel wie Borussia Dortmund. Doch woher kommt diese unheimliche Popularität und Medienpräsenz?

Die Anfänge des José Mourinho

Bereits als Kind war José Mourinho sehr beliebt: intelligent, zielstrebig und ein Mädchenschwarm. Doch Josés Interesse galt jeher dem Fußball, hauptsächlich aufgrund seines Vaters Félix, der Torhüter in der ersten Liga war und auch die Farben Portugals verteidigen durfte.

Woche für Woche folgte Mourinho jr. dem Senior, um ihn bei seinen Spielen zu unterstützen. Zu Auswärtsspielen trampte der Knirps mit Truckern. Da die damaligen Löhne nicht für eine gesamte Familie ausreichten, mussten die Mourinhos immer etwas von ihrem Vermögen zehren, welches 1974 gen Null ging, als das faschistische Regime gestürzt wurde und die Karten im Land neu verteilt wurden. Nur eines ihrer Grundstücke ging nicht in die Hände anderer über und auch auf den Wohlstand von Josés Mutter Maria konnte man nicht mehr zählen. Auch ihr Bruder, jener Architekt, der unter anderem das Stadion „Estádio do Bonfim“ in Mourinhos Heimatstadt Setúbal entworfen hatte, litt unter Armut.

Als Felix Mourinho ins Trainerbusiness wechselte, zeigte sich das große Talent seines Sohnes, der mithilfe von Statistiken und Beobachtungen des Trainings den nächsten Gegner für seinen Vater analysierte. Doch nicht nur das, er war auch Spieler unter seinem Vater bei Rio Ave. José war somit, entgegen vieler anderslautender Behauptungen, ein Profifußballer; er hatte die Jugendakademie von Belenenses durchlaufen und spielte in seiner Karriere bei Rio Ave, bei Belenenses und Sesimbra. Seine Karriere ließ er bei einem Konzernverein in den unteren Ligen ausklingen, für einen Stammplatz in den Profiligen sollte es nie reichen.

Auch schulisch folgte Mourinho niemals den Wünschen seiner Mutter. Er schrieb sich zwar auf ein kaufmännisches College ein, doch bereits am ersten Tag verließ er die Schule und studierte fortan Sportwissenschaften an der technischen Universität Lissabons. Während seines Studiums übernahm er für sein Praktikum den Sportunterricht an verschiedensten Schulen und schaffte seinen Abschluss nach 5 Jahren mit herausragenden Noten. Doch sein Traum, ein Fußballtrainer zu werden, war noch nicht erloschen. Mourinho besuchte zahlreiche fußballbezogene Kurse und begann bereits damals, seinen jetzigen Stil theoretisch zu definieren.

Die wahre Geburtsstunde des Trainers José Mourinho war jedoch an Heiligabend 1982 – während des Weihnachtsessens bekam sein Vater die telefonische Auskunft, dass er entlassen sei und Mourinho schwor sich an jenem Abend, dass er nie entlassen werden würde. Bis heute ist ihm das gelungen.

Vom Übersetzer zum Trainer

Mourinho, ähnlich wie sein späterer Mentor Louis Van Gaal, legte seinen Job als Sportlehrer beiseite und übernahm eine Jugendmannschaft bei Vitória de Setúbal, bald darauf wurde er Assistenztrainer bei Estrela de Amadora.

Nach Auseinandersetzungen mit Jesualdo Ferreira, ehemaliger Lehrer Mourinhos an der technischen Hochschule in Lissabon, wechselte Mourinho zu Ovarense, welchen er ebenfalls bald verließ. Im Jahre 1992 wurde Bobby Robson Trainer von Sporting Lissabon und suchte nach einem Übersetzer, der gute Englischkenntnisse besaß, die Stadt kannte und außerdem ein hohes fußballerisches Fachwissen benötigte – Mourinho sah sich selbst als die Idealbesetzung, bewarb sich und erhielt die Stelle.

Als Robson nach einer Niederlage gegen Casino Salzburg im UEFA-Cup trotz Spitzenposition in der portugiesischen Liga im Dezember 1993 entlassen wurde und beim FC Porto Trainer wurde, nahm er Mourinho mit.

Die Zeit bei Porto war sehr erfolgreich, der kriselnde Verein mit geringen Zuschauerzahlen gewann 1993 den portugiesischen Pokal (im Finale gegen Sporting) und wurde daraufhin zweimal Meister. Robson übertrug Mourinho in dieser Zeit mehr Aufgaben, der Übersetzer war nun die rechte Hand des Trainers. Er gab dem Trainer Beratung, den Spielern Motivationsreden und trainierte mit ihnen die Defensive, Robson übte die offensiven Spielzüge mit der Mannschaft ein – eine Aufteilung, wie es im American Football üblich ist.

Im Jahr 1996 wurde Robson Trainer des FC Barcelona und er nahm Mourinho, offiziell noch immer Übersetzer, mit. Es zeigte sich ein anderes Talent Mourinhos: in wenigen Monaten lernte er perfektes Katalanisch und machte sich bei Spielern und Fans des FC Barcelona sehr beliebt. Robson übertrug ihm weitere Aufgaben, unter anderem das Abhalten von Pressekonferenzen, das Planen von Trainings und die taktische Vorbereitung auf den nächsten Gegner.

Die Spielzeit 1996/97 verlief sehr erfolgreich, man wurde Vizemeister und gewann den spanischen Pokal, den spanischen Supercup und den Pokal der Pokalsieger. Luis Enrique sieht die damalige Mannschaft sogar als gleichwertig zum heutigen Barçateam und glaubt, man hätte damals auch die Champions League gewonnen. Diese großen Erfolge wurden mit einer spektakulären Spielweise erreicht und als Bobby Robson zum Sportdirektor befördert wurde, erhielt auch Mourinho seine Würdigung, als er offiziell Assistenztrainer wurde und an der Seite von Louis Van Gaal arbeiten durfte.

Abermals übernahm Mourinho das Training der defensiven Organisation, während sich Van Gaal um die Offensive kümmerte und der FC Barcelona wurde in den beiden folgenden Jahren Meister.

Van Gaal erkannte Mourinhos Talent und förderte ihn. Bei kleineren Pokalen wie dem Copa Catalunya, den man 2000 gewann, fungierte Mourinho als Trainer, Van Gaal als sein Assistent. Mourinho übernahm auch die zweite Mannschaft Barcelonas und arbeitete dort bis zu seinem Wechsel zu Benfica Lissabon im September 2000.

Mourinhos Anfangsjahre

Die Zeit bei Benfica fing im sportlichen Bereich gut an für Mourinho, doch es sollte verschiedene Streitigkeiten mit dem Präsidium geben. Der Präsident Benficas, João Vale e Azevedo, wollte ihm als Assistenztrainer Jesualdo Ferreira zur Seite stellen, was Mourinho aufgrund persönlicher Differenzen entschieden ablehnte und den ehemaligen Benfica-Verteidiger Carlos Mozer einstellte – einen Ex-Spieler zum Assistenztrainer zu ernennen, wurde fortan Tradition bei Mourinho.

Nach wenigen Wochen bot ihm Bobby Robson erneut eine Stelle als sein Assistenztrainer mit Aussicht auf seine Nachfolge bei Newcastle an, doch Mourinho lehnte ab, da er nicht glaubte, Robson würde in zwei Jahren für Mourinho Platz machen. Bis Dezember blieb Mourinho Trainer Benficas. Seine Kündigung kam nach einem Zwist mit dem neuen Präsidenten Manuel Vilarinho, der eine vorzeitige Vertragsverlängerung Mourinhos ablehnte. Das Gesuch nach einem neuen Vertrag war Mourinhos Antwort auf Gerüchte, dass der neue Präsident den ehemaligen Spieler Toni als neuen Coach installieren wollte – daraufhin trat Mourinho zurück und Jahre später bereute Vilarinho seine Entscheidung öffentlich.

Aufgrund des Mangels an Angeboten als Cheftrainer wechselte Mourinho im April 2001 zur grauen Maus der portugiesischen Liga, União de Leiria. In der Folgesaison führte er die Mannschaft aus dem unteren Tabellendrittel zu ihrer bis dato besten Vereinsplatzierung, als er mit einem flexiblen 4-4-2-System und Offensivfußball nach Vorbild Robsons und Van Gaals Tabellenfünfter wurde. Bereits im Sommer meldeten Vereine ihr Interesse an, doch bis nach der Winterpause der Saison 2001/02 blieb er Leiria treu, dann wechselte er zum FC Porto als Nachfolger Octávio Machados.

Mourinhos Aufstieg

Mit elf Siegen und zwei Unentschieden aus den letzten 15 Spielen wurde man noch Dritter und Mourinho durfte sich erstmals auf dem Transfermarkt beweisen – mit Nuno Valente, Derlei, Paulo Ferreira und Maniche kamen vier neue Stammspieler, die ersten beiden von Mourinhos ehemaligem Verein Leiria. Unter Mourinho modernisierte sich vieles beim FC Porto, die Webseite wurde aufgefrischt und mit vielen Berichten gefüllt, auch zur Trainingsgestaltung Mourinhos. Die Spielweise wurde dynamischer, Mourinho ließ mit einem sehr aggressiven Pressing und einer hohen Abwehrlinie spielen, was in einer Rekordsaison mündete – 86 Punkte (27 Siege und fünf Unentschieden bei insgesamt 34 Spielen) bedeuteten unglaubliche elf Punkte Vorsprung auf Benfica Lissabon, Mourinhos erster Trainerstation. In Pokalbewerben konnte man ebenfalls Erfolge feiern, der portugiesische Pokal und der UEFA-Cup wanderten nach Porto und machten das Triple perfekt.

Im folgenden Jahr gewann man den portugiesischen Supercup, verlor den europäischen jedoch gegen den AC Mailand. In der portugiesischen Liga knüpfte man an die letztjährigen Erfolge an, verlor nur einmal und wurde bereits fünf Runden vor Schluss Meister.

Das Rautensystem von Mourinho funktionierte hervorragend, mit Deco als Spielmacher, einem klassischen Sturmduo und zwei Box-to-Box-Mittelfeldspielern vor einem klassischen Sechser beherrschte man das Zentrum. Die ausdauernden und aggressiven Außenverteidiger beackerten die Seiten und sorgten für Unterstützung im Angriffsspiel. Die Flexibilität, das schnelle Umschalten und die hervorragende Abseitsfalle sorgten bei den portugiesischen Teams für Verzweiflung und auch international hatten die meisten Teams Probleme mit diesem System, einzig Real Madrid in der Gruppenphase konnte Porto eine Niederlage auf europäischen Gefilden zufügen.

Der Traum vom Triple wurde durch eine Pokalfinalniederlage gegen Benfica zerstört, doch nach zwei Defensivschlachten gegen Deportivo La Coruna gewann man mit einem Offensivspektakel mit 3:0 gegen den AS Monaco. Im Anschluss an diesen Erfolg machte Mourinho keinen Hehl daraus, nun einen anderen Verein übernehmen zu wollen und im Sommer gab es viele Angebote. Als aussichtsreichster Kandidat galt der FC Liverpool, zu dem sich Mourinho begeistert geäußert hatte, doch sie boten ihren Job Rafael Benítez an und Mourinho ging zu Chelsea, über welchen er sich zuvor noch sehr kritisch geäußert hatte.

Vom Provinztrainer zum Auserwählten

In seiner ersten Pressekonferenz bei Chelsea sorgte Mourinho für großes Aufsehen, als er sich als „etwas Besonderes“ bezeichnete und von den Medien zu seinem – bis heute populärsten – Spitznamen „The Special One“ kam. Mit Steve Clarkes Beförderung zum Assistenztrainer als Ergänzung zu seinem Trainerstab begann der Startschuss für zahlreiche, von Mourinho eingeleitete, Veränderungen im Verein. Chelsea-Eigentümer Roman Abramovich ließ Mourinho fast 100 Millionen € ausgeben und bekam bald den Lohn dafür – die erste Meisterschaft seit 50 Jahren und ein Sieg im Ligapokal gegen den FC Liverpool.

In der Folgesaison konnte man Mourinhos Handschrift am stärksten erkennen, als weitere Neuzugänge geholt wurden und die Mannschaft ein kompaktes Gebilde war, welches mit einer ausgeklügelten Taktik, hoher Körperkraft und individueller Stärke schwer zu besiegen war.

Essien und Lampard würden die Mitte übernehmen, Angriffe inszenieren und – insbesondere Lampard – oftmals selbst abschließen. Drogba erzielte zahlreiche Tore, öffnete Räume und an schlechten Tagen des Mittelfeldzentrums würden man eine Art Kick’n’Rush-Fußball mit weiten Bällen auf den körperlich starken Ivorer spielen. Joe Cole und Robben spielten zumeist als klassische Flügelstürmer, tauschten aber in den Spielen öfters die Flügel, um Löcher in die Abwehr zu reißen. Hinten würde Makélélé vor der Abwehr absichern und als Staubsauger fungieren, während R. Carvalho und Terry sich in der Innenverteidigung zwei beinharte Verteidiger rein auf die Defensivarbeit beschränkten. Flankiert wurden sie von einem defensiven und einem offensiven Außenverteidiger. Im Tor stand der tschechische Nationaltorhüter Petr Čech, den Mourinho aus Stade Rennes geholt hatte und der in der Saison 2004/05 zahlreiche Rekorde aufstellte, u.a. 1025 Minuten in Folge ohne Gegentor und die wenigsten Gegentore in einer Saison, nämlich 13 in 35 Spielen.

In der Saison 2005/06 konnte man den Community Shield und eine weitere Meisterschaft holen. Mourinhos wie Abramovichs großes Ziel, die Champions League, verpasste man aber bereits im Achtelfinale. Trotz Abwanderungsgerüchten um Mourinho, hauptsächlich aufgrund Abramovichs großer Freundschaft zu Sportdirektor Arnesen und seinem persönlichen Berater de Visser, wurde die Mannschaft mit Shevchenko, Ballack und Ashley Cole um drei weitere Weltklassespieler verstärkt.

Um von den Gerüchten um seine Person abzulenken, inszenierte Mourinho medial eine Kampagne, die er als „Jagd nach dem Quadruple“ bezeichnete. Sein Vorhaben war es in dieser Saison alle Titel zu gewinnen, doch trotz des FA- und Carling-Cup-Sieges scheiterte man spektakulär und mit viel Spott, als man in der Liga von Manchester United auf Platz 2 verwiesen wurde und in der Champions League dem FC Liverpool unterlag. Am 20. September 2007 verließ Mourinho Chelsea überraschend und nahm sich seine Auszeit vom Trainerjob. Erst im Sommer 2008 bekam er eine neue Trainerstelle: bei Inter Mailand.

Der Messias des Calcio

Von Beginn an konnte man Parallelen zu seiner Zeit bei Chelsea erkennen. Als neuen Assistenztrainer ernannte er Giuseppe Baresi, wie Steve Clarke ehemaliger Spieler des Vereins und vor der Beförderung Jugendtrainer. Auch hier sorgte seine Debütpressekonferenz für Aufsehen, als er in fließendem Italienisch vorstellig wurde und behauptete, er hätte die Sprache in drei Wochen gelernt.

Mit Mancini, Muntari und Quaresma wurden drei Spieler verpflichtet, die ihm eine Systemstellung zu einem 4-3-3 ermöglichen sollten, doch Mancini und Quaresma floppten. Mourinho wechselte auf eine 4-3-1-2-Taktik, welche  an seiner Portozeit orientiert war.

Ibrahimovic war der Freigeist im Sturm, der junge Balotelli kam über die Außen und wurde vom offensivstarken Maicon und von Zanetti unterstützt. Stankovic fungierte als defensivstarker Spielmacher, das Eigengewächs Santon und der Neuzugang Muntari sorgten für die Dynamik auf der linken Seite. Córdoba und Samuel bildeten mit Cambiasso das defensive Dreieck vor Julio Cesar. Die Mannschaft spielte einen sicheren Fußball aus der Defensive heraus und verließ sich hauptsächlich auf Starstürmer Ibrahimovic, national konnte man mit dem Supercup und dem Scudetto Erfolge feiern, doch in der Champions League schied man früh aus.

Mourinho baute seine Mannschaft abermals um, namhafte Spieler wanderten ab, welche Mourinho durch passendere Spieler ersetzte. Chefscout André Villas-Boas verließ seinen Trainerstab. Mit Thiago Motta und Diego Milito kamen aus Genoa zwei neue Stammspieler, im Winter stieß mit Pandev noch einer dazu. Wichtigere Verpflichtungen waren jedoch eher auf Zufall gegründet. Barcelona suchte nach einem neuen Stürmer, da Eto’o Probleme mit Trainer Pep Guardiola nachgesagt wurden und tauschte 70 Millionen € und den Kameruner für Zlatan Ibrahimovic. Wesley Sneijder wurde bei Real Madrid regelrecht hinaus geekelt und wurde für nur 15 Millionen € eine Stütze im Team von Mourinho. Auch der neue Abwehrchef Lúcio kam aufgrund von Problemen mit dem neuen Bayerntrainer Louis Van Gaal.

Zu Beginn der 2009/10-Saison blieb er seinem System aus dem Vorjahr weitgehend treu, als im Winter Pandev kam, wurde das System zu einem 4-2-3-1 umgestellt.

Wesley Sneijder genoss wie Diego Milito alle Freiheiten, während Pandev und Eto’o defensiv mithalfen. Maicon hatte eine Paradesaison, ebenso wie Zanetti und Cambiasso, die ihren x-ten Frühling erlebten. Diese Mannschaft war defensiv extrem stark aufgestellt und hatte in der Offensive hervorragende Individualisten. Nach einem holprigen Start (Niederlage im Supercoppa gegen die Roma) wurde Inter immer stärker, besiegte im Mailänder Derby den AC Mailand mit 4:0 und qualifizierte sich etwas überraschend für das CL-Viertelfinale, nachdem man Mourinhos Ex-Team Chelsea ausgeschaltet hatte.

Man schaltete ZSKA Moskau im Viertelfinale aus und traf im Halbfinale auf den FC Barcelona. In einer beispiellosen Vorstellung konnte man den großen Favoriten im Hinspiel mit 3:1 besiegen und nach einer roten Karte für Motta zu Beginn des Rückspiels wurde die Welt Zeuge eines Defensivfeuerwerks Mourinhos. Das ursprüngliche 4-5-1 wurde zu einem 4-1-3-1-0 umgewandelt und die Katalanen konnten trotz zahlenmäßiger und spielerischer (über 80% Ballbesitz) Überlegenheit nur ein Tor erzielen.

Die Abwehrreihe stand extrem tief und die Außenverteidiger platzierten sich an den Ecken des Sechzehnmeterraumes. Ziel dieser Taktik war es, die Außen aufzugeben, um das Zentrum dicht zu machen, was hervorragend gelang – das 0:1 bezeichnete Mourinho als die schönste Niederlage seines Lebens. Nach dem Schlusspfiff feierte der ehemalige Angestellte des FC Barcelona seinen Sieg frenetisch und zog sich den Unmut der Fußballwelt zu, welche seine Mannschaft als  „Antifußball“, „unwürdig“ und „nur auf Zerstörung aus“ bezeichnete.

Mit dem Erfolg im italienischen Pokal und einem neuerlichen Scudetto war das Triple perfekt und Mourinho trat auf dem Höhepunkt ab, als er nach dem CL-Sieg gegen seinen ehemaligen Lehrmeister Louis Van Gaal seinen Abgang zu Real Madrid verkündete. Die Bilder der weinenden Interisti und seiner Spieler (u.a. Marco Materazzi) gingen um die Welt – nicht nur für die Medien war er „The Special One“.

Ein besonderer Trainer für einen besonderen Verein

Wie in seinen vorhergehenden Vereinen war die Ernennung eines ehemaligen Spielers zum Assistenztrainer eine der ersten Amtshandlungen Mourinhos. Aitor Karanka wurde die Ehre zuteil und ironischerweise war jener wie Steve Clarke bei Chelsea und Giuseppe Baresi bei Inter ein ehemaliger Innenverteidiger. Reals Shoppingtour des Vorjahres wurde unter Mourinho nicht fortgesetzt, es kamen hauptsächliche Spieler mit viel Potenzial für kleines Geld.

Lange Zeit führend in der Primera Division schien es, dass Mourinho seinem persönlichen Intimfeind und Reals Erzfeind Barcelona einen Strich durch die Rechnung machen könnte, doch im ersten Clásico der Saison unterlag man im Camp Nou mit 0:5, was Ehrenpräsident Alfredo di Stefano dazu veranlasste, dieses Spiel als schlimmste Niederlage der Vereinsgeschichte zu deklarieren. José Mourinho ließ sich trotz medialer Kritik nicht aus seinem Konzept bringen, blieb Barcelona auf den Fersen, qualifizierte sich in der Champions League überzeigend für die KO-Phase und schaffte es zum erst zweiten Mal seit dem letzten CL-Sieg ins CL-Viertelfinale, wo man die Tottenham Hotspurs ausschaltete und im Halbfinale auf den FC Barcelona traf.

Da im Copa del Rey-Finale ebenfalls beide Teams standen und das Rückspiel in der Liga günstig lag, durfte sich ganz Spanien über vier Clásicos in drei Wochen freuen, welche Mourinho sehr defensiv begann. Das 1:1 im Santiago-Bernabeu war das Ende der Meisterschaftsträume für Real, doch das Copa-del-Rey-Finale konnte man in der Verlängerung knapp für sich entscheiden. Der Sieg im Copa-del-Rey-Finale zeigt eines deutlich: Mourinhos Matchplan war spielentscheidend.

Der Matchplan basierte auf drei Phasen:

  • erste Halbzeit: Zerstören des Spiels von Barcelona im Mittelfeld, wenn möglich das erste Tor erzielen
  • zweite Halbzeit: tiefstehen und kontern.
  • Verlängerung: Das Tiefstehen sorgte dafür, dass die Spieler Reals in der Verlängerung mehr Ausdauer hatten und wieder das aggressive Mittelfeldpressing nutzen konnten.

Das Ziel und die Umsetzung seiner Taktik war sehr komplex, er versuchte auch Messi und Xavi voneinander und von Iniesta zu isolieren, um den Spielfluss der Katalanen zu zerstören, was in der ersten Halbzeit gelang. In der zweiten Halbzeit musste Pep Guardiola nun sein erfolgreiches System ändern, um mit Mourinho in eine Patt-Stellung zu kommen, doch trotzdem bekam Real kein Gegentor und gewann letztlich in der Verlängerung. Dieser Matchplan führte zum Sieg und wurde chronologisch leicht abgeändert und angepasst an die Begebenheiten des CL-Hinspiels auch im nächsten Spiel gegen die Katalanen genutzt. Einzig die rote Karte, so nach Meinung Mourinhos, verhinderte einen neuerlichen Sieg Reals.

Doch trotz seiner Kritik an der Schauspielerei der Spieler des FC Barcelona, am Schiedsrichter und der UEFA hatten die Medien ein anderes Opfer gefunden – Mourinho selbst. Die Kritik an ihm war ähnlich wie vor einem Jahr, seine Mannschaft spiele destruktiven Fußball, der dem Fußball schade.

Dazu sei angemerkt, dass Mourinho in dieser Saison ein offensives 4-3-3 spielen ließ und mehr Tore als der Erzrivale aus Barcelona erzielte (102 zu 95).

Khedira als box-to-box-player und Xabi Alonso als deeplying-playmaker sorgte für den Spielaufbau und das Grundgerüst dieser großartigen Mannschaft. In der Offensive beackerte Di María die rechte Seite und wurde von Sergio Ramos unterstützt, das Prunkstück war jedoch die linke Seite. Der offensive Marcelo, unter Mourinho erst zum Stammspieler geworden, sorgte mit Cristiano Ronaldo und Mesut Özil für andauernde Gefahr über die linke Seite. Nach der Verletzung Higuains spielten Adebayor und Benzema abwechselnd als Sturmspitze, abhängig vom Gegner. Die Portugiesen Ricardo Carvalho und Pepé bildeten die Innenverteidigung vor Welttorhüter und Kapitän Iker Casillas.

Im Frühjahr wurden Gerüchte laut, Mourinho wollte Real aufgrund Sportdirektor Valdano und den kritischen Medien verlassen, doch Präsident Florentino Pérez dementierte dies. Die Gerüchte erübrigten sich, als Valdano im Sommer entlassen wurde und Zinédine Zidane dessen Nachfolger wurde und mit Nuri Şahin, Hamit Altintop und José Callejón ging man den Weg preiswerter und systemkompatibler Neuverpflichtungen weiter. Für die Zukunft wurde das Riesentalent und Innenverteidiger Raphaël Varane geholt.

Was macht Mourinho so besonders?

José Mourinho gilt als einer der komplettesten Fußballtrainer der Welt. Er machte aus unbekannten Spielern Stars, brachte sie zu konstant starken Leistungen und gewann Titel um Titel. Seine größten Stärken liegen jedoch im Bereich der Mannschaftsführung und Motivation, er verbindet moderne Managementstile und Motivationstheorien, um aus seiner Mannschaft das Maximum zu holen. Loyalität und Ehrlichkeit machen ihn bei seinen Spielern beliebt, außerdem stellt er sich bei jeder Möglichkeit demonstrativ vor sie, sei es beim Vorstand, vor den eigenen Fans oder den Medien. Systematisch nimmt Mourinho die Verantwortung auf sich, stärkt seinen Spielern den Rücken und lenkt die mediale Aufmerksamkeit auf sich. Mourinhos Psychospielchen und über die Presse geführten Auseinandersetzungen sind bereits legendär. Nicht umsonst sagte Everton-Coach David Moyes: „Mourinho hat den Trainerjob sexy gemacht“ und zahlreiche Fans stimmen ihm zu – Mourinhos Auftreten weicht von sämtlichen Trainer ab, er ist kantig und provokativ, stellt seine Eloquenz immer in den Dienst der Mannschaft.

Trotz wiederholter Kritik aufgrund Unsportlichkeit zieht Mourinho sämtliche Register:
Bei Inter Mailand ließ er im Winter seine Mannschaft nach der Halbzeitpause solange in der Kabine, bis die Gegner bereits froren. Bei Chelsea beleidigte er Arsené Wenger als Voyeur, bei Real Madrid seinen Vorgänger Pellegrini und seinen Sportdirektor Valdano. Nach der Niederlage gegen den FC Barcelona unterstellte er der UEFA und den Schiedsrichtern Parteilichkeit und Betrug – ein Skandal; doch über die schlechte Leistung seiner Mannschaft redete niemand mehr.

José Mourinhos legt Woche für Woche, in jeder Pressekonferenz, eine Show hin. Pro Monat gibt es über 20 Artikel mit direktem oder indirektem Bezug auf Mourinho im Onlineportal des Guardian – auch Jahre nach seinem Abschied aus London. Seine Spieler danken ihm für diesen Schutz. Sie sind weitgehend aus der Schusslinie der Medien und können sich auf das nächste Spiel konzentrieren. Auch dafür lieben ihn seine Spieler. Materazzi und Drogba weinten um ihn, Ballack und Khedira nennen ihn den besten Trainer der Welt und für Ricardo Carvalho ist es eine fußballerische Liebesgeschichte. Der Verteidiger folgte seinem Landsmann bereits zu drei Vereinen.

Mourinho profitiert ebenfalls von dieser „Alle-gegen-uns“-Stimmung, die er entfacht. Er nutzt sie geschickt, um seinen Spielern eine Siegermentalität zu verpassen, eine Motivation, um jedes Spiel gewinnen zu wollen. Ihnen wird eingeredet, dass man nie nur gegen den nächsten Gegner spielt, sondern immer gegen die ganze Welt, die nur auf einen Ausrutscher wartet. Für seine Spieler wandert Mourinho demonstrativ durchs Feuer, seine Spieler folgen ihm auf dem Platz, sie gewinnen mit ihrer überlegenen Mentalität und Psyche – nicht umsonst sind Mourinho-Teams zumeist die einzigen, die überlegenen Mannschaften wie Barcelona Paroli bieten können. Mourinho:  „Im Fußball hat der Trainer eine einzigartige Rolle, hier ist er der beste Psychologe.“

Sein Selbstbewusstsein ist jedoch nicht nur gespielt, tatsächlich ist er sehr von sich überzeugt. Laut Mourinho könnte nur George Clooney ihn selbst in einer Verfilmung seines Lebens adäquat verkörpern. Als Nationaltrainer zu arbeiten lehnt er ab, das sei zu langweilig und zu einfach. Über seine Streitereien mit anderen Vereinen sagt er: „auch Jesus wurde nicht von allen geliebt.“

Nicht nur im Presseverhalten ist er ein Vorreiter, auch taktisch gilt er als eine Koryphäe. Seine Mannschaften spielen seit seiner Chelsea-Zeit sehr ähnlich, mit einer massierten und sattelfesten Defensive, die Umschaltmomente und die Unordnung der Gegner dynamisch nutzt. Jedes Spiel wird exakt vorbereitet, seine Spieler bekommen DVDs mit Gegneranalysen, exakte taktische Vorgaben und detaillierte Planung des Trainings. Dicke Ordner zu jedem Team der Welt kann man bei Mourinho finden, alle werden sie Woche für Woche umgesetzt, um seiner Mannschaft die größtmögliche Chance für Triumphe zu bieten; seine Defensivschlachten gegen Barcelona wird kaum ein Fußballfan je vergessen.

Im Training konzentriert er sich zumeist auf den taktischen und den psychologischen Aspekt des Spiels, viel Spiel mit Ball, Unterzahlspiele und Pressingformen sorgen für das Grundgerüst Mourinhos Arbeit. „Wenn jeder einzelne Spieler klare Anweisungen bekommt, was er zu tun hat, ist in seinem Kopf gar kein Platz mehr für andere Gedanken. Die Taktik, das System, die Gegenspieler, die Spielzüge, das ist das Thema. Alles andere ist total unwichtig“, sagt DFB-Sportpsychologe Werner Mickler und man könnte glauben, es spricht Mourinho aus ihm – dessen Erfolge geben dieser Meinung Recht. 16 Titel in zehn Jahren, zwei CL-Siege und der Ruf als weltbester Trainer eilen ihm voraus.

Neun Jahre lang war er in Liga-Heimspielen unbesiegt, erst 2011 konnte ihn wieder jemand besiegen, nachdem Mourinho noch mit Porto zuletzt gegen Beira-Mar verlor. Trainer wie Prandelli, Ranieri, Wenger, Ferguson, Benitez und viele andere scheiterten über all diese Jahre. 150 Spiele, 125 Siege und 25 Unentschieden lang war man unbesiegt, die erste Niederlage gegen Beira-Mar war zu neunt. Die zweite Niederlage setzte es Sporting de Gijón, als jene in der 90sten Minute mit ihrem ersten Torschuss den Siegtreffer erzielten – zuvor war Real ein reguläres Tor aberkannt worden. Nach dem Spiel klopfte es an der Tür und Mourinho gratulierte seinem Gegenüber Manuel Preciado zu diesem Sieg.

Eine sportliche Geste eines unfairen Sportsmannes.

Jürgen Klopp – Der Menschenfänger

$
0
0

Emotional, authentisch und sympathisch. Das ist Jürgen Klopp, Meistertrainer der Überraschungsmannschaft aus Dortmund, die heute Abend um 20.30 Uhr gegen den Hamburger SV die Bundesligasaison 2011/12 eröffnen wird. Zum Start in die neue Spielzeit gibt es nun ein Porträt des aktuell gefragtesten deutschen Fußballlehrers.

Wie der Vater so der Sohn

Wie bei jeder Fußballerkarriere beginnt auch die Geschichte des Jürgen Klopp zunächst mit einem sportbegeisterten und auch durchaus begabten Kind. Und wie man es so häufig hört, war auch bei Jürgen Klopp sein Vater Norbert Klopp ausschlaggebend für seine Begeisterung für den Sport. Die Faszination beschränkte sich bei Klopp lange Zeit nicht nur auf das runde Leder, vielmehr brachte ihm sein Vater sämtliche Sportarten bei. Besonders begabt war Klopp nach verschiedenen Aussagen im Tennis, doch der junge Jürgen entschied sich irgendwann gegen den Einzelsport und für den Mannschaftssport Fußball.

Seinem Vater hatte Klopp seinen enormen Ehrgeiz zu verdanken. Erbarmungslos sei er gewesen im Wettbewerb gegen ihn, sagte Klopp einmal. Eine Anekdote erzählt, wie der Vater den Sohn im Tennis mit 6:0, 6:0 besiegte. Daraufhin beschwerte sich Jürgen lautstark: „Meinst du, mir macht das Spaß so?“ Vater Norbert konterte: „Meinst du, mir macht das Spaß?“

Jürgen Klopp sagte einmal, er habe zuerst eine riesige Wut auf seinen Vater entwickelt, die sich dann schließlich zu einem unbändigem Siegeswillen entwickelt habe. Auch als er längst gegen Gleichaltrige antrat, bewahrte sich Jürgen diesen Siegeswillen, der ihn als Spieler viel weiter brachte als es seine fußballerischen Fähigkeiten normalerweise zugelassen hätten.

Der lange Weg nach Mainz

Der am 16. Juni 1967 geborene Klopp trat im Jahre 1972 seinem ersten Verein bei, dem SV Glatten. Dem Amateurverein hielt er insgesamt 11 Jahre, bis 1983, die Treue. Dann wechselte er zum TuS Ergenzingen, wo er seine restlichen drei Jahre als Jugendspieler sowie sein erstes Halbjahr als Seniorenspieler verbrachte. Schon im Juli 1986, in seinem ersten Jahr bei den Herren, hatte Klopp auf sich aufmerksam gemacht, als er in einem Freundschaftsspiel gegen Eintracht Frankfurt den Ehrentreffer zum 1:9 erzielte und eine herausragende Leistung zeigte.

Daraufhin stand er in den Notizbüchern der großen Frankfurter Eintracht. Im Winter jedoch wechselte er zunächst zum 1. FC Pforzheim. Der Oberligist überreichte den Verantwortlichen der TuS die ausgehandelte Ablösesumme von 12.000 DM bar in einer Autobahnraststätte.

Zur Saison 1987/88 wechselte Klopp dann schließlich zur Eintracht, jedoch „nur“ in die Reservemannschaft. Der große Durchbruch blieb Klopp auch in Frankfurt verwährt, sodass er nach einem Jahr erneut den Verein wechselte und bei Viktoria Sindlingen anheuerte. Nach erneut einer Spielzeit schloss sich der trotz seiner zahlreichen Wechsel erst 22-Jährige Jürgen Rot-Weiss Frankfurt an. In der Spielzeit 1989/90 erreichte er mit diesen die Aufstiegsrelegation für die 2. Liga. Doch statt den Frankfurtern stieg ein anderer Verein in die zweithöchste Spielklasse auf, der 1. FSV Mainz 05. Obwohl mit dem eigenen Verein nicht erfolgreich, gelang Klopp der persönliche Aufstieg durch einen Wechsel zum vorherigen Konkurrenten, sodass er ab der Saison 1990/91 für die Mainzer stürmte.

In den elf Jahren als Spieler für den Fußballsportverein bestritt Klopp insgesamt 340 Pflichtspiele, dazu erzielte er in der 2. Liga 52 Tore für die 05er.  In beiden Kategorien war er Rekordhalter, als Rekordspieler wurde er von Torhüter Dimo Wache abgelöst, Rekordtorschütze ist inzwischen Sven Demandt mit 55 Toren.

Die Einführung der Raumdeckung

Entscheidend geprägt wurde Klopp wie der gesamte Verein von einem heute fast gänzlich vergessenen Trainer: Wolfgang Frank. Dieser kam in der Saison 1995/96 nach acht Spielen, aus denen die Mainzer einen einzigen Punkt geholt hatten und ein Torverhältnis von 0:14 vorweisen konnten. Er führte als erster in Deutschland die Raumdeckung ein und verschaffte den 05ern dadurch einen riesigen Wettbewerbsvorteil. Mainz wurde zum besten Rückrundenteam, schaffte schlussendlich den nicht mehr für möglich gehaltenen Klassenerhalt und war in der Abschlusstabelle auf dem 11. Tabellenrang zu finden.

In der Folgesaison war der Abstiegskandidat Mainz 05 urplötzlich zum Aufstiegskandidaten geworden. Am Ende der Saison stand der 4. Tabellenplatz, sodass der Aufstieg denkbar knapp verpasst wurde. In den Folgejahren war der FSV zwar nicht mehr direkt am Aufstiegsrennen beteiligt, doch zumindest war man auch nicht mehr der Abstiegskandidat von früher.

Als die 05er in der Saison 2000/01 erneut tief im Tabellenkeller feststeckten, wurde der damals verletzte Klopp an Fastnacht als Nachfolger für den entlassenen Eckhard Krautzun berufen. Mit dieser sehr ungewöhnlichen Aktion bewies der damals noch ehrenamtlich arbeitende Manager Christian Heidel großen Mut, im Nachhinein aber auch eine große Voraussicht. Klopps Team legte einen beeindruckenden Schlussspurt hin und schaffte schließlich den Klassenerhalt.

Aufstiegsdramen und Abschiedstränen

In den folgenden Jahren schwang sich der FSV unter Klopp zu unvermuteten Höchstleistungen auf, doch selbst 64 Punkte reichten in der Saison 2001/02 nicht zum Bundesligaaufstieg. Im Folgejahr war es noch knapper, am Ende fehlte ein Tor gegenüber der Frankfurter Eintracht zum Aufstieg. Dennoch sammelten die mutig auftretenden Mainzer bundesweit Sympathien, gerade auch durch die bitteren Erfahrungen im Aufstiegskampf.

In der Saison 2003/04 sollte es dann endlich mit dem Aufstieg in die 1. Bundesliga klappen. Wieder war es denkbar eng, erst am letzten Spieltag konnten die 05er Alemannia Aachen überholen und den lang ersehnten Aufstieg feiern.

In der Bundesliga angekommen galten die Mainzer sofort als Abstiegskandidat, doch in den ersten beiden Jahren konnte der Verein einen jeweils überzeugenden elften Rang vorweisen. Zur dritten Erstligasaison 2006/07 hatte der FSV namhafte Abgänge zu verkraften und trotz einer großen Aufholjagd in der Rückrunde stand am Ende der bittere Gang in die Zweitklassigkeit. Schon zu Beginn der neuen Saison 2007/08 gab es Gerüchte, dass Klopp seinen Vertrag in Mainz nicht verlängern wolle. Schließlich verkündete Kloppo „seinen“ Fans, dass er bei Nichtaufstieg den Verein endgültig verlasse. Trotz einer überzeugenden Hinrunde wurde der Aufstieg, erneut äußerst knapp verpasst, sodass Jürgen Klopp nach insgesamt 18 Jahren als Spieler und Trainer die Domstadt verließ, um Borussia Dortmund zu trainieren. Circa 15.000 Fans bereiteten ihrem Idol einen unvergesslichen Abschied, bei dem sich der Trainer tränenreich von seinen Freunden und Fans verabschiedete.

Klopp und der BVB – Neu verliebt

Mit der ersten Pressekonferenz in Dortmund hatten Fans wie Verantwortliche gleich das Gefühl, in dem authentischen Klopp genau den richtigen Trainertypen in Zeiten von Sparzwängen und Konsolidierung verpflichtet zu haben. Ganz im Gegensatz zum Hamburger SV, wo der Aufsichtsrat den Vorschlag des damaligen Vorstandsvorsitzen Bernd Hoffmann, Klopp als neuen Cheftrainer zu installieren, aufgrund seines „äußeren Erscheinungsbilds“ verwarf. In Dortmund dagegen machte man sich nichts aus dem „Acht-Tage-Bart“, den langen Haaren und dem emotionalen Auftreten Klopps, mit seinem Äußeren passte Klopp vielmehr sehr gut nach Westfalen.

In der ersten Saison unter Klopp erreichten die Borussen einen ordentlichen 6. Tabellenplatz, der jedoch nicht zur Teilnahme an der Europa League berechtigte. Dennoch überzeugte die mit dem „Kinderriegel“ (bezogen auf die Innenverteidigung, bestehend aus den beiden damals 19-Jährigen Mats Hummels und Neven Subotić) agierende Mannschaft durch ihren erfrischenden Fußball und vor allem durch ihre große Laufbereitschaft. Klopp versuchte anfangs, die allgemeine Laufleistung durch Belohnungen zu steigern. So versprach er dem Team bei insgesamt 120 zurückgelegten Kilometern einen trainingsfreien Tag als Belohnung.

In Klopps zweiten Jahr stürmten seine Spieler auf den fünften Tabellenrang vor, nachdem man sich lange Zeit durchaus berechtigte Hoffnungen auf einen Champions-League-Startplatz machen durfte. Im Vergleich zur Vorsaison hatte sich das Team stark weiterentwickelt, vor allem im Spiel gegen den Ball agierten die Dortmunder nun reifer. Kritiker warfen der Borussia jedoch vor, nach dem Ballgewinn keine Idee zu haben, was mit dem Ball anzufangen sei. Und tatsächlich hatte sich Klopp in seinen ersten beiden Jahren anscheinend vordergründig um die Verbesserung der Defensivleistung gekümmert.

Gerade durch die Einführung eines neuen Defensivkonzepts, dass das heute so BVB-typische Gegenpressing direkt nach Ballverlust vorsah, konnte Klopp seine Mannschaft entscheidend stabilisieren. Doch durch die häufig zu leichtfertigen Ballverluste war man zu schnell wieder defensiv gefordert, sodass am Ende der Saison trotz eigentlich überzeugender Defensivleistungen unbefriedigende 42 Gegentore standen.

Für Klopp war vor der Saison 2010/11 klar, dass diese hohe Anzahl an Gegentoren relativ wenig mit der tatsächlichen Defensivleistung zutun hatten. Stattdessen beschloss er, die Vorbereitung vor allem dafür zu nutzen, neben der schon obligatorischen außergewöhnlichen Fitness vor allem auf das Ballbesitzspiel zu legen.

Und so entwickelte das Trainerteam Spielideen, Strategien zum effektiven Aufbauspiel und verpasste dem BVB ein Offensivkonzept, welches perfekt zur aggressiven Ballrückgewinnungsstrategie passen sollte: Schnelles vertikales Spiel nach Ballgewinn in Mittelfeld oder Angriff, ruhiger Spielaufbau über die Innenverteidiger sowie Sahin gegen tief stehende Gegner. Gerade das vertikale Spiel perfektionierte die Borussia in der abgelaufenen Spielzeit, die offensive Dreierreihe im 4-2-3-1-System tat sich hier entscheidend hervor, schob sehr weit in die Mitte und schaffte hier Anspielstationen für die Aufbauspieler, sodass die im Laufe der Saison immer kompakter spielenden Gegner in den meisten Fällen ausgehebelt werden konnten. Eine detaillierte Analyse der Taktik des BVB in der abgelaufenen Spielzeit liefert Tim Hill auf seinem Blog.

In der Hinrunde war das Offensivspiel der Dortmunder geprägt durch den Japaner Kagawa. Dieser agierte aus dem zentralen offensiven Mittelfeld extrem torgefährlich, stieß immer wieder in die Spitze vor und überzeugte generell vor allem durch sien Spiel ohne Ball, das die gegnerische Defensive in Bewegung hielt und so immer wieder Lücken für die Mitspieler schuf.

Durch die Verletzung Kagawas war Klopp gezwungen sein System zur Rückrunde umzustellen. In den meisten Partien beorderte er den überzeugenden Youngster Götze auf die Spielmacherposition und brachte dafür Błaszczykowski auf der rechten Seite. Götze interpretierte die Position im offensiven Mittelfeld mehr wie ein klassischer Spielmacher, er war Dreh- und Angelpunkt des Offensivspiels und setzte seine Mitspieler gekonnt in Szene.

Der Pole „Kuba“ spielte ebenfalls anders auf rechts als Götze in der Hinrunde, er war mehr ein klassischer Flügelspieler, nutzte immer wieder seine Schnelligkeit um auf rechts durchzubrechen und Flanken in die Mitte zu schlagen. Dafür spielte Piszczek häufig etwas zentraler und nicht mehr so sehr an der Außenlinie wie normalerweise üblich für Außenverteidiger. Weil Götze anders als Kagawa seltener in die Spitze stieß war es Kevin Großkreutz, der von links immer wieder in den Strafraum lief um die jetzt häufigeren Flanken gemeinsam mit Barrios zu verwerten.

Mit der verbesserten Spielweise dominierte der BVB die gesamte Spielzeit klar. Die extrem junge Mannschaft, in der nur Torhüter Weidenfeller älter als 26 Jahre war, setzte sich schnell von der Konkurrenz ab und ließ sich auch durch die verbalen Attacken aus München nicht verunsichern. Die offiziell nie als Ziel ausgegebene Meisterschaft konnte schließlich schon am 32. Spieltag gefeiert werden, am Ende der Saison standen für die Borussia 75 Punkte bei lediglich 22 Gegentoren.

Die Beziehung zwischen Borussia Dortmund und Jürgen Klopp, sie wurde zu einer Liebesgeschichte. Nach 18 Jahren in Mainz wäre es als unwahrscheinlich einzustufen gewesen, dass Klopp schon nach drei Jahren in Dortmund sagen würde, er habe sich „neu verliebt“. Diese emotionale Verbindung zu seinen Vereinen, ist die größte Stärke Klopps, der sich dadurch extrem angreifbar und damit auch menschlich zeigt, und genau dadurch an Stärke gewinnt. Ein BVB ohne Klopp, scheint schon jetzt ähnlich unvorstellbar wie 2008 ein Mainz ohne seinen Kloppo, doch auch in Dortmund wird der Fanliebling nicht ewig die Seitenlinie entlang toben.

Eine besondere Beziehung

Die Entwicklung der Mannschaft ist jedoch nicht Klopp allein, sondern dem gesamten Trainerstab als Erfolg zuzuschreiben. Dabei sticht  ein Mann heraus, der Klopp schon seine gesamte Trainerkarriere begleitet: Željko Buvač. Zusammen mit Klopp spielte er beim FSV, gemeinsam lenkten sie das Geschehen auf dem Rasen. Zwei Seelenverwandte, die sich versprachen, den jeweils anderen mitzunehmen, sollte einer von ihnen eines Tages Profitrainer werden. Früher als gedacht wurde Klopp dann bekanntlich Cheftrainer in Mainz, und umgehend löste er sein Versprechen ein. In der Folgezeit blieb Buvač stets der Schattenmann, der Analytiker im Hintergrund. Ihm kommt wohl eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der Spielphilosophie Klopps zu. Auf dem Trainingsplatz agieren Chef- und Co-Trainer gleichberechtigt, der Bosnier unterbricht häufig und erklärt den Spielern taktische Fehler, während Klopp eher aus der Beobachterrolle agiert.

Zudem stand noch bis 2004 Buvačs Name auf den Spielberichtsbögen, da Klopp bis dahin lediglich die A-Lizenz besessen hatte. Co-Trainer Buvač hat sich in all den Jahren niemals in die Öffentlichkeit gedrängt, er lehnt Interviewanfragen höflich ab. Er fühlt sich ganz anscheinend wohl in seiner Rolle jenseits des öffentlichen Interesses, doch mitten im Profifußball.

Die wenigen Aussagen über Klopps Rechte Hand sind durchweg positiv, in Mainz bedauerte man seinen Weggang zwar, hatte jedoch nie auf einen Verbleib bei einem Weggang Klopps gehofft. Doch jeder seiner Wegbegleiter schwärmt von Buvač, laut Klopp der „Fleisch gewordener Fußballsachverstand und Meister aller Trainingsformen“. Ein ausführliches Porträt widmete das Internetportal Spox dem zweifachen Familienvater.

Der Menschenfänger

Will man verstehen, warum der limitierte Fußballer Klopp zu einem derart erfolgreichen und gefragten Trainer geworden ist, gelangt man früher oder später zwangsläufig zu seinem Umgang mit den Menschen in seiner Umgebung. Für Klopp sind gute und vertrauensvolle Beziehungen zu den Mitarbeitern des Vereins – und damit sind ausdrücklich nicht nur die Spieler gemeint – die Grundlage seiner Arbeitsweise.

Er kann sich fürchterlich aufregen, wenn einer seine Spieler respektlos gegenüber einem Mitarbeiter der Geschäftsstelle auftritt, er selbst sagte einmal, dass er in Mainz „mit allen Spielern bis zur U17 per Du“ sei. Auch außerhalb seines natürlichen Aufgabenfeldes war und ist der Cheftrainer immer wieder aktiv. Zu Mainzer Zeiten war Klopp „Mädchen für alles“, er kümmerte sich um Ausweichplätze im Winter und war bei Sponsorengesprächen häufig anwesend. Auch in Dortmund ruft er am Ende des Tages häufig noch einen zögernden Sponsor an und überzeugt diesen von einem Engagement beim BVB.

Zudem interessiert sich Klopp bemerkenswert intensiv für die Amateur- und Jugendmannschaften des Vereins, beobachtet samstags häufig Spiele der Junioren und schaut auch hin und wieder in der Kabine vorbei. Dadurch gibt er den Jugendspielern das Gefühl gesehen und beachtet zu werden. Zudem lebt er die Verzahnung von Jugend und Profis vor, lässt herausragende Spieler mittrainieren und zeigt ihnen damit eine realistische Perspektive im Verein auf.

Im Umgang mit der Mannschaft ist Klopp autoritärer als gemeinhin angenommen. Seine wohl größte Fähigkeit ist es, mit dem verschiedenen Persönlichkeiten unterschiedlich umzugehen. So bekommt ein Mohamed Zidan eine andere Behandlung als bspw. ein Sebastian Kehl. Klopp schafft es augenscheinlich gut, den einzelnen Typen gerecht zu werden, er findet meist den richtigen Ton im Umgang mit den Spielern und weckt in den Spielern dieselbe Motivation und Begeisterung für ihren Beruf, die auch ihn antreibt.

Treffend beschrieben wurde Klopps Art der Menschenführung wohl von BVB-Geschäftsführer Watzke, als er sagte: „So einen Menschenfänger habe ich noch nicht kennen gelernt.“

Klopp und die Medien

Neben der sozialen Kompetenz zeichnet Klopp aus, dass er sich zu einem wahren Medienprofi entwickelt hat. Seine natürliche Art kam schon immer gut in der Öffentlichkeit an, ebenso seine häufig ungezügelten Emotionen. In ganz Deutschland bekannt wurde Klopp durch seine Tätigkeit als „TV-Bundestrainer“ beim ZDF. Für das Zweite analysierte er gemeinsam mit Johannes B. Kerner und Urs Meier zunächst den Confederations Cup 2005 und im Jahr darauf die WM 2006 in Deutschland.

In den Sendungen vor und nach den Spielen sowie in den Halbzeitpausen verblüffte er die Zuschauer mit kurzen Taktik- und Fehleranalysen. Am elektronischen „Taktik-Tisch“ veranschaulichte er Fehler im Aufbauspiel der Argentinier oder das unzureichende Defensivverhalten der Schweden. Die besondere Stärke seiner Analysen lag in der allgemeinen Verständlichkeit. Ganz Deutschland war von der Aufmachung begeistert, sodass Klopp auch die Spiele der EM 2008 analysierte und anschließend die WM 2010 auf RTL gemeinsam mit Günther Jauch. Seit 2006 ist Klopp damit bundesweit als Taktikexperte anerkannt, was für einen aufstrebenden Trainer nur hilfreich sein kann.

Die Sendungen mit Klopp erhielten 2006 und 2010 den Deutschen Fernsehpreis, zudem wurde er 2007, 2009 und 2011 mit dem alle zwei Jahre vergebenen HERBERT-Award als „Bester Sportexperte“ ausgezeichnet.

Doch seine Tätigkeit rund um die Nationalmannschaft hatte nicht nur positive Seiten. Als Klopp mit Mainz in der Saison nach der Heim-WM tief im Abstiegskampf steckte, musste er deutschlandweit gehässige Kommentare gerade auch aus den Medien ertragen.

Doch insgesamt ist die Beziehung zwischen Klopp und den Medien eine Win-Win-Situation, Klopp liefert den Zeitungen und dem Fernsehen interessantes und teils auch sehr amüsantes Material, im Gegenzug ist die Berichterstattung über Klopp und seine Arbeitsweise fast durchgehend positiv. Besonders seine gehaltvollen und ausführlichen Antworten machen ihn zu einem gefragt Interviewpartner der Print- und Onlinemedien,

Fazit

Auch durch seine kluge Nutzung der Medien ist Klopp heute der wohl beliebteste Trainer Deutschlands. Sein Umgang mit Spielern, Mitarbeitern und Fans ist in dieser Form wohl einmalig, schon nach drei Jahren ist er aus Dortmund nicht mehr wegzudenken. Doch auch taktisch hat Klopp in Dortmund sein Meisterstück abgeliefert und eine Mannschaft aufgebaut, die – sollte sie zu großen Teilen zusammenbleiben – den Bayern über einen langen Zeitraum ernsthaft Konkurrenz machen kann.

Aus Klopps Zeit in Dortmund lässt sich noch eine wichtige Erkenntnis gewinnen: Gibt man einem wirklich guten Fußballlehrer die Zeit, ein Team aus jungen, formbaren Spielern über einen Zeitraum von mehreren Jahren ohne größeren Druck von außen zu entwickeln, kann mitunter eine Mannschaft wie die derzeitige des BVB entstehen, die trotz finanziellen Nachteilen gegenüber den anderen Spitzenvereinen sportlich konkurrenzfähig ist und die bei Zusammenbleiben der Schlüsselspieler dauerhaft um die Meisterschaft mitspielen kann.

So wird auch in der kommenden Saison mit dem BVB im Meisterschaftsrennen zu rechnen sein, gespannt sein darf man auf das Auftreten der jungen Mannschaft in der Champions-League.

Robin Dutt – Von der Bezirksliga in die Champions League

$
0
0

Robin Dutt fing seine Trainerkarriere in der Verbandsliga Baden-Württembergs an. Rund 15 Jahre später steht er bald bei Champions League-Spielen am Rand. Das Porträt eines Aufsteigers.

Anfänge einer Karriere

Noch vor rund 15 Jahren war die Profiwelt des Fußballs eine unzugängliche Parallelwelt. Nahezu alle Trainer und Manager, die den Spielfeldrand der Bundesliga bevölkerten, waren ehemalige Profispieler. Quereinsteiger gab es in diesem abgeschotteten Geschäft kaum. Heutzutage hat sich der Fußball für Spezialisten geöffnet, und so sind gerade die Scouting-Abteilungen der Ligen voll mit Leuten, die nie als Profis gespielt haben.

Auf der Trainerposition ist das immer noch eine Ausnahme, auch zwanzig Jahre nach Arrigo Sacchis (Erfolgstrainer des AC Milan Ende der 80er/Anfang der 90er) Ausspruch: „Ein guter Trainer muss kein guter Spieler gewesen sein – genauso wenig wie ein guter Jockey ein Pferd gewesen sein muss.“ Eine der großen Ausnahmen in dieser Hinsicht ist Robin Dutt, der in seiner aktiven Zeit nie weiter als in die Verbandsliga kam. Trotzdem war Fußball immer die größte Leidenschaft des jungen Industriekaufmannes. Obwohl seine fußballerischen Fähigkeiten stark limitiert waren, hatte er immer den Wunsch, sein Hobby zum Beruf zu machen.

Seine Karriere begann unscheinbar: Nachdem der Sohn indischer Einwanderer in jungen Jahren von Köln nach Baden-Württemberg zog, tingelte er dort als Stürmer in Jugend- und Amateurmannschaften von Kleinstadtverein zu Kleinstadtverein. Er selbst sagt im Nachhinein, dass ihm die Schnelligkeit fehlte, um als Stürmer für höhere Weihen bestellt zu sein. Seine Defizite in diesem Bereich musste er ausgleichen, indem er mehr auf seine Positionierung achtete. Er entwickelte als Aktiver eine vergleichsweise hohe Spielintelligenz, um trotz seiner körperlichen Nachteile in den höheren Amateurklassen mithalten zu können.

Schon damals achtete er auf die taktischen Details innerhalb eines Spiels. Kein Wunder also, dass der Wechsel vom Feldspieler zum Trainer nahezu nahtlos verlief. Im Alter von 33 fing er als Spielertrainer beim TSG Leonberg an. Nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn wurde er Coach des TSF Ditzingen, bei dem er schnell vom Betreuer der Nachwuchsmannschaft zum Cheftrainer des Oberliga-Teams aufstieg  (wer mehr über diese Zeit erfahren möchte, dem sei der Kommentar von unserem User Stepi ans Herz gelegt).

Die südwestdeutsche Trainergilde

Eine Spielerkarriere in der Bezirks- und Verbandsliga und ein Posten bei einem wenig ambitionierten Oberligisten – das klingt nicht gerade nach einem idealen Start für eine Trainerkarriere. Robin Dutt zeichnete sich jedoch immer durch extremen Fleiß aus. Für ihn war klar, dass er eines Tages sein Hobby zum Beruf machen wollte. Dementsprechend arbeitete er immer ein bisschen mehr als seine Kollegen. Seine Freizeit neben dem Beruf widmete er ganz dem Trainerjob. Er las viele Fachzeitschriften und versuchte, aktuelle Trends in sein Training mitaufzunehmen.

Seine Laufbahn wäre jedoch ohne gehörige Portion Glück nicht möglich gewesen. Robin Dutt war schlicht und ergreifend in vielen Situationen zur rechten Zeit am rechten Fleck. Es beginnt damit, dass Baden-Württemberg Ende der 90er der beste Ausgangspunkt für eine beginnende Trainerkarriere war: Während im Rest von Fußballdeutschland Begriffe wie Viererkette, Raumdeckung und 4-4-2 selbst noch zum Ende des 20. Jahrhunderts kritisch beäugt wurden, war die Fußballszene im Schwabenlande weiter. Beim Württembergischen Fußballverband wurde das ballorientierte Verteidigen schon in den 80er Jahren von Helmut Groß eingeführt und später von Ralf Rangnick übernommen. Die anderen süddeutschen Fußballverbände folgten in den 90er Jahren diesem Vorbild. Nicht umsonst haben viele der heutigen Top-Trainer im süddeutschen Raum ihr Handwerk gelernt – vom erwähnten Ralf Rangnick über Thomas Tuchel bis hin zu Joachim Löw.

Seine Herkunft verschaffte Dutt nicht nur eine sehr gute Ausbildung, sie versorgte ihn zudem mit wichtigen Kontakten. Seinen A-Trainerschein machte er zusammen mit einem gewissen Marcus Sorg, heute Cheftrainer des SC Freiburg. Die beiden freundeten sich an, und als Sorg 2001 das Cheftraineramt beim damaligen Drittligisten Stuttgarter Kickers übernahm, legte er bei den Verantwortlichen ein gutes Wort für den aufstrebenden Robin Dutt ein. So wurde dieser 2002 Trainer der Reservemannschaft der Kickers.

Marcus Sorg blieb nicht lange in Stuttgart. Anfang 2003 wurde er entlassen und von Rainer Adrion abgelöst, der heute die deutsche U21-Nationalmannschaft betreut. Als auch dieser jedoch nach nur einem halbem Jahr im Oktober 2003 entlassen wurde, war die große Stunde des Robin Dutt gekommen: Er bekam seinen ersten Cheftrainerposten bei einer Profimannschaft.

Seine Zeit bei den Stuttgarter Kickers

Seine Aufgabe bei den Stuttgarter Kickers war keine leichte: Vor der Saison als Aufstiegsaspirant gehandelt, war nach einem misslungen Saisonstart keine Rede mehr von der Rückkehr in die Zweitklassigkeit. Zu jener Zeit hatte der frühere Bundesligist wie so viele Traditionsvereine mit finanziellen Problemen zu kämpfen und konnte sich nur durch den Verkauf der Namensrechte am Stadion vor der Insolvenz retten. Er war daher in den kommenden Jahren darauf angewiesen, junge Talente aufzubauen anstatt namhafte Spieler für teures Geld zu verpflichten.

Für Robin Dutt ging trotz der schwierigen Bedingungen ein Traum in Erfüllung: Er hatte es ins Profigeschäft des Fußballs geschafft. Nun galt es zu beweisen, dass seine bisherigen Erfolge nicht nur daher rührten, dass er zur rechten Zeit am rechten Ort war. Er stürzte sich akribisch in seine Arbeit und war besonders an einer Verbesserung des Scoutings und der Trainingsmethoden interessiert.

Nicht nur die sportliche Situation stellte ihn zu dieser Zeit vor eine Herausforderung: Er begann kurz nach Beginn seiner Tätigkeit in Stuttgart die Ausbildung zum Profitrainer an der Hennes-Weisweiler-Akademie. Die dauernden Reisen vom Neckar nach Köln und zurück setzten dem jungen Trainer zu. Dennoch meisterte er beide Aufgaben und schaffte den Abschluss im Juni 2005 sogar als Jahrgangsbester mit einer Note von 1,4. Die Kurse absolvierte er übrigens zusammen mit Jürgen Klopp, mit dem ihn seitdem eine professionelle Freundschaft verbindet.

Trotz der Doppelbelastung und der finanziellen Engpässe stabilisierten sich die Kickers unter Dutt im Tabellenmittelfeld der Regionalliga Süd. Nach drei höhepunktarmen Spielzeiten im Nirgendwo der Tabelle wurde die Saison 2006/2007 zur erfolgreichsten für die Kickers seit Jahren. Zum ersten Mal seit Dutts Ankunft musste der Verein keine Lizenzauflagen erfüllen – ein finanzieller Erfolg, der sich auf den sportlichen Bereich übertrug. Besonders der Achtungserfolg im DFB-Pokal, als man in der ersten Runde den Bundesligisten Hamburger SV mit 4:3 nach Verlängerung besiegte, katapultierte den Coach in das nationale Rampenlicht.

Der Wechsel zum SC Freiburg

Nach seinen feinen Trainerleistungen in dieser Saison war er nicht nur im Blickfeld der Medien, sondern auch im Gespräch bei einigen höherklassigen Vereinen. Bekannt wurde vor allem das Interesse von Bundesligist Hannover 96, die einen Nachfolger für den gefeuerten Peter Neururer suchten, sich letztendlich aber für Dieter Hecking entschieden. Ernst wurde es im März, als der damalige Zweitligist SC Freiburg für die neue Saison einen Nachfolger für den ewigen Volker Finke suchte. Nachdem er sich das Angebot einige Tage durch den Kopf gehen ließ und auch ernsthaft in Betracht zog, den eingeschlagenen Weg bei den Stuttgarter Kickers weiterzugehen, nahm er schließlich an.

Die Idylle, die den SC Freiburg ansonsten zu einem der ruhigsten Profivereine Deutschlands machte, wurde durch diesen Trainertausch erschüttert. Es entwickelte sich schnell eine Initiative, die den Verbleib von Volker Finke forderte. Die Aktion „Wir sind Finke“ fand vor Saisonschluss besonderen Zulauf, als der SC Freiburg nach guten Leistungen in den letzten Wochen der Finke-Herrschaft den Aufstieg nur knapp verpasste. Trotz einiger kritischer Stimmen auch innerhalb des Vorstandes standen die Breisgauer zu ihrer Entscheidung und so trat Dutt seine neue Aufgabe zur Saison 2007/2008 an.

Gerade die Besetzung der neuen Posten wurde zum Drahtseilakt: Zu viele neue Mitarbeiter wäre ein Affront gegen den bei den Fans beliebten alten Trainer – zu wenig neue Mitarbeiter ein Zeichen von Schwäche. Er wählte den Mittelweg: Zum einen wollte er eine größtmögliche personelle Kontinuität erreichen und beförderte unter anderem Damir Burić, der bereits unter Volker Finke arbeitete, zum Co-Trainer. Andererseits zeigte er seine Loyalität zu ehemaligen Weggefährten und legte ein gutes Wort für ehemalige Kollegen ein, so zum Beispiel für seinen Förderer aus Kickers-Tagen, Marcus Sorg, der im Sommer 2008 Trainer der Amateure wurde.

Mit dem SC Freiburg übernahm Dutt erneut einen Verein, der in einem personellen  Umbruch stand. Er musste wie schon bei den Stuttgarter Kickers sich nicht nur als Übungsleiter, sondern auch in der Kaderzusammenstellung hervortun. Im Sommer verließen bereits viele Spieler den Verein, es kamen ebenso viele neue hinzu. In der Winterpause ging der Umbruch weiter und es kam unter anderem Mo Idrissou zu den Freiburgern.

In dieser Spielzeit waren die Anforderungen an den Trainer enorm. Auf der einen Seite stand eine nicht so kleine Gruppe Fans, die den neuen Trainer kritisch beäugten und am liebsten Finke wieder im Amt gesehen hätten. Auf der anderen Seite erhöhte Dutt selber die Erwartungen, als er den Aufstieg eigenmächtig als Saisonziel ausgab. Obwohl der Vorstand einen Mittelfeldplatz ausrief und damit dem Trainer den Druck von den Schultern nehmen wollte, war Dutt der Meinung, dass nach dem vierten Platz der letzten Saison eine bessere Platzierung und damit der Aufstieg das Ziel sein müsse. Damit machte er sich gerade bei den Vereinsverantwortlichen keine Freunde.

Diesen Anfangsschwierigkeiten zum Trotz schaffte der SC Freiburg in der ersten Saison einen respektablen fünften Platz. Den Aufstieg verpasste man aufgrund einer Niederlagenserie zu Beginn der Rückrunde. Außerhalb des Platzes beruhigte er die Anhänger mit seiner unaufgeregten, sachlichen Art und machte Volker Finke schnell vergessen. Aber auch fußballerisch war die erste Saison wichtig für Robin Dutt, der hier das Fundament für die kommenden Erfolge legte.  Er impfte den Spielern eine Taktik ein, die nicht mit den Prinzipien von Volker Finke brach, sondern dessen Spielidee auf eine neue Stufe hob. Er installierte einen ballbesitzorientierten Fußball in einem 4-2-3-1 System, das auf Kurzpassspiel, die volle Ausnutzung der Breite des Platzes und viele Positionswechsel setzte.

Das verflixt gute zweite Jahr

Die Spielidee seines ersten Jahres in Freiburg entwickelte er in der zweiten Saison konsequent weiter. Robin Dutt implantierte nun modernste taktische Ideen in sein Spiel: In der Offensive spielte der SC Freiburg mit einer Dauerrochade, die vier offensiven Akteure tauschten immer wieder die Positionen. Einen etatmäßigen Stürmer gab es dabei nicht, vielmehr verschob sich situationsbedingt ein Akteur der Offensivreihe in die Spitze. Die Dauerrochade war möglich, weil Robin Dutt auf mehrere torgefährliche Offensivspieler zurückgreifen konnte: Idrissou war im zweiten Jahr zwar der herausragende Torschütze mit 13 Treffern, andere Spieler wie Bechmann und Jäger trugen sich aber ebenfalls mit sieben Toren in die Trefferliste ein. Die Freiburger waren mit ihrem variablen System nicht von einem Torjäger abhängig.

Die Vermischung der Aufgaben eines offensiven Mittelfeldspielers und eines Stürmers wurde sonst nur bei Manchester United betrieben, mit Akteuren wie Rooney und Christiano Ronaldo. „Sagen Sie nicht, wir spielen wie Manchester United. Sonst heißt es gleich, der ist größenwahnsinnig“, wies Robin Dutt die Vergleiche von sich. Dennoch bewies Dutt mit dieser taktischen Maßnahme sein Gespür für internationale Taktiktrends.

Auffällig war auch, wie oft die Freiburger den Weg über die Außen suchten. Das Team nutzte damit geschickt aus, dass die Freiburger den kürzesten, aber auch breitesten Platz aller Profimannschaften in Deutschland bespielen. Seine Taktik war damit auf die Platzverhältnisse im Breisgaustadion abgestimmt.

Mit hohen Ballbesitzzahlen und vielen kurzen Pässen dominierte man die zweite Liga. Der SC Freiburg stürmte schnell an die Tabellenspitze und gab den Platz an der Sonne nur noch selten her. Am 31. Spieltag der Saison 2008/2009 konnten sie mit einem 5:2-Auswärtssieg den Aufstieg und die Zweitligameisterschaft perfekt machen – Robin Dutt war angekommen in der obersten deutschen Spielklasse. Beeindruckend war besonders die Dominanz, mit der der Aufstieg erzielt wurde: In der Rückrunde war der Aufstieg zu kaum einer Zeit ernsthaft gefährdet. Am Ende hatte man ein Torverhältnis von 60:36 und fünf Punkte Vorsprung auf den zweitplatzierten FSV Mainz 05.

Harte Zeit in der ersten Liga

Nach dem Aufstieg folgte eine harte Saison für den SC Freiburg: Wirtschaftlich stand man zusammen mit Mitaufsteiger Mainz am Schlusslicht der Tabelle, der direkte Wiederabstieg wurde von vielen Experten prophezeit. Der Kader konnte daher nur punktuell verstärkt werden, dafür blieben bis auf Daniel Schwaab (Wechsel zu Bayer Leverkusen) alle Leistungsträger.

Dutt lernte eine neue Facette des Trainerberufs kennen: Zum ersten Mal in seiner Karriere kämpfte er vom ersten Spieltag an gegen den Abstieg. Nach einer durchschnittlichen Hinrunde stand sein Klub mit 18 Punkten auf einem akzeptablen 13. Rang. In Erinnerung blieb jedoch nicht die passable Platzierung, sondern vor allem die deutlichen Heimniederlagen gegen Bayer Leverkusen (0:5) und Werder Bremen (0:6).

Robin Dutt fasste die erste Zeit in der obersten Liga passend im Gespräch mit der offiziellen Internetpräsenz des SC Freiburg treffend zusammen: „Wir haben in der Anfangsphase versucht, die gleichen Ballbesitzzahlen zu erreichen, wie in der Zweiten Liga. Dafür sind wir bestraft worden, Leverkusen oder Bremen haben sich bedankt, und uns die Tore eingeschenkt. Da mussten wir erst einmal sehen, dass wir uns defensiv besser organisieren.“

Robin Dutt zog seine Schlüsse aus den teilweise desolaten Auftritten und stellte sein System um. Spätestens ab der Rückrunde spielte der SC Freiburg in einem eindeutigen 4-1-4-1 System. Nach und nach veränderte sich die Spielweise des SC Freiburg, weg vom Kurzpassspiel hin zu schnellem Umschalten. Die vielen Positionswechsel und die Ausnutzung der ganzen Breite blieben aber bestehen.

Neu in diesem System waren vor allem die Rollen zweier Spieler: Auf der einen Seite stand der in der Winterpause für eine Rekordablöse von 1,6 Millionen nach Freiburg  gekommene Cisse, der einzige Sturmspitze wurde. Der SC Freiburg hatte nun eine feste Anspielstation vorne, die Bälle halten, ablegen und im Zweifelsfall alleine den Weg zum Tor suchen konnte. Cisse sollte sich nach anfänglichen Schwierigkeiten als großer Glücksgriff erweisen. Seine sechs Treffer in der Rückrunde trugen zum Nichtabstieg bei – sein wahres Potenzial sollte er jedoch erst in der kommenden Saison abrufen.

Die zweite wichtige Personalie war Julian Schuster. Er spielte bereits einige Zeit bei den Freiburgern, ehe  Robin Dutt seinem Schützling mehr Verantwortung übertrug. Im 4-1-4-1 System übernahm er die wichtige Rolle zwischen den beiden Viererketten und sollte dafür sorgen, dass niemand diesen Raum ausnutzt. Noch interessanter als seine Defensivaufgaben war seine Rolle im Spielaufbau der Freiburger. Hier ließ sich Robin Dutt erneut von internationalen Top-Klubs inspirieren und implantierte als erster Bundesligatrainer den so genannten „Libero vor der Abwehr“ in sein Spiel.

Im Spielaufbau fiel Schuster aus der Mittelfeldzentrale zwischen die beiden Innenverteidiger zurück. Hierdurch rückten diese auf die Außenverteidigerposition, wodurch die Außenverteidiger wiederum mit nach vorne rücken konnten. Aus der Viererkette wurde im Spielaufbau so eine Dreierkette. Im Falle eines Ballverlustes kamen die Außenverteidiger schnell wieder zurück, um die alte 4-1-4-1 Ordnung herzustellen. Dass Dutt und Schuster bereits zuvor mit dieser Idee kokettierten, war zu erkennen – deutlich wurde sie erst zu Teilen in der Rückrunde der Saison 2009/2010.

Die zweite Bundesligasaison und der Wechsel zu Bayer

Die Freiburger Spielidee verlangte viel Flexibilität von den Spielern und musste lange eintrainiert werden. Es ist keine Überraschung, dass das 4-1-4-1 System in der Rückrunde noch nicht hundertprozentig harmonierte. Dennoch war eine Steigerung zur Hinrunde zu sehen, da die hohen Niederlagen ausblieben und man sogar die großen Bayern am Rande einer Niederlage hatte. Am Ende erreichte die Mannschaft mit 35 Punkten bereits einen Spieltag vor Saisonschluss den Nichtabstieg.

Dutts komplexes System mit den vielen Positionsrochaden sollte in der darauffolgenden Saison dem SC Freiburg zu ungeahnten Erfolgen führen: Vor der Saison erneut als Abstiegskandidat gehandelt, konnten die Breisgauer am Ende der Hinrunde gar von einem Europa League-Rang träumen. Die zwei Eckpfeiler der Mannschaft, Julian Schuster und Cisse, befanden sich in ausgezeichneter Form und sorgten dafür, dass man sich schon früh in der Saison vom Abstiegskampf verabschieden konnte. Erfolgreich sein und schön spielen – Dutts Prämisse wurde in der Hinrunde 20010/2011 voll erfüllt.

Die Rückrunde der Saison verlief nicht mehr so glanzvoll, so dass am Ende der neunte Rang heraussprang. Gründe für das schwache Abschneiden in der zweiten Saisonhälfte waren einerseits Verletzungen – besonders Julian Schuster konnte nach einer Zwangspause nicht mehr an seine alten Leistungen anknüpfen. Als man sich nach einigen unglücklichen Niederlagen zu Beginn des Jahres im Tabellenniemandsland wiederfand, schlich sich zudem ein kleiner Schlendrian in die Mannschaft ein.

In dieser Phase der Saison machte die Bundesliga besonders außerhalb des Platzes auf sich aufmerksam: Das Trainerkarussell drehte sich in hoher Geschwindigkeit. Am Ende öffneten die zahlreichen Wechsel innerhalb der Liga eine Tür für Robin Dutt: Bayer Leverkusen bot ihm eine Stelle als Cheftrainer an. Nach reiflicher Überlegung nahm er die Chance wahr.

Ausblick auf seine Zeit in Leverkusen

Robin Dutt war angekommen – von der Verbandsliga hat er es in nur 15 Jahren in die Champions League geschafft. In der Bundesliga ist sein Werdegang herausragend, weil er nie Teil der Bundesligamaschinerie war. Er hat es durch harte Arbeit und eine nicht zu leugnende Portion Glück geschafft, als Quereinsteiger Trainer eines Topklubs der Liga zu werden.

Taktisch war Robin Dutt immer ein Verfechter von anspruchsvollem Kurzpassspiel. Erfolg ist kein Selbstzweck, wichtig ist die Frage, wie dieser Erfolg erzielt werden kann. Durch seine Vorliebe für das schöne Spiel zeigt sich seine Liebe zum Fußball, die ihn vom TSF Ditzingen bis hin zu Bayer Leverkusen führte. Auf der anderen Seite ist eine schöne Spielweise auch ein Garant dafür, bei den Fans beliebt zu sein – ein nicht unwesentlicher Faktor, wenn man bedenkt, dass Robin Dutt als Außenstehender zu Beginn seiner Karriere bei seinen Stationen nicht viele Fürsprecher fand.

Mit seinem neuen Verein Bayer Leverkusen hat er nach wenigen Spieltagen bereits eine ganze Handvoll Probleme. Als neutraler Beobachter sollte man jedoch verstehen, dass Dutts Idee vom Fußball eine gewisse Zeit braucht, bis sie bei einem Verein hundertprozentig funktionieren kann – ballbesitzorientierter Fußball ist immer schwerer zu vermitteln als eine Kontertaktik aus einer sattelfesten Defensive. Die Fans sollten ihm Zeit geben, seine Idee vom Spiel zu entwickeln. Schon jetzt zeigt sich, dass taktisch und spielerisch eine große Leverkusener Mannschaft entstehen kann, siehe die großartige erste Halbzeit gegen Dynamo Dresden im Pokal.

Die anderen Probleme, die er teilweise selbst geschaffen hat, lassen sich mit einem Blick auf seine Biographie erklären. So rief er in Leverkusen das Saisonziel Meisterschaft aus und machte sich (wie schon zu seiner Anfangszeit in Freiburg) damit nicht nur Freunde. Diese Aussagen sind jedoch für ihn nur konsequent: Stagnation oder gar Rückschritt waren nie ein Bestandteil seines Aufstieges von unten nach ganz oben. Auf einen zweiten Platz kann bei ihm nur der Erste folgen, das war und ist Teil seiner eigenen Motivation.

Neu ist für ihn auch die Situation, eine Mannschaft zu übernehmen, die nicht in einem Umbruch steckt. Bei den Stuttgarter Kickers übernahm er einen Verein am finanziellen Ende, beim SC Freiburg beerbte er einen Vorgänger, der über 16 Jahre im Amt war. Bayer Leverkusen hingegen hat einen gefestigten Kader und war in der Vorsaison sehr erfolgreich – hier wird zunächst nicht seine Fähigkeit in der Kaderzusammenstellung, sondern seine Kompetenz als Übungsleiter im Vordergrund stehen.

Dass Robin Dutt taktisch zu den besten Trainern der Liga zählt, unterstrich seine hochmoderne und flexible Spielweise in Freiburg. Die Schwierigkeit in Leverkusen ist es, zu akzeptieren, dass das sportliche Prinzip in der Öffentlichkeit anders gewichtet wird. Während er im beschaulichen Breisgau einen Spieler, der nicht in das taktische Konzept passte, ohne großen Aufschrei auf die Bank setzen konnte, gestaltet sich das gerade im Fall Ballack als schwierig. Seine Aussage, man könne Rolfes und Ballack nicht zusammen aufstellen, macht sportlich Sinn – sie nimmt allerdings zu wenig Rücksicht auf die öffentliche Debatte, die sich längst von sportlichen Kriterien gelöst hat.

Robin Dutt stand früher als gedacht in Leverkusen am Pranger. Es ist eine wichtige Station für ihn, denn jetzt hat er die einmalige Chance zu zeigen, ob er zu den besten Trainern der Bundesliga gehört. Wenn er scheitert, wäre es der erste echte Rückschlag in einer Karriere, die bisher nur den Weg nach oben kannte. Die nächsten Wochen werden eine harte Probe für den Quereinsteiger.

Joachim Löw: Gemacht für die Nationalmannschaft

$
0
0

Joachim Löw ist Weltmeistertrainer und altgedienter Leiter der deutschen Elf. Seit vielen Jahren hält er sich an der Spitze der wichtigsten Auswahlmannschaft des DFB. Unter dem hohen Erfolgsdruck brach er bis jetzt nie zusammen und hat auch Rückschläge erfolgreich gemeistert. Was ist sein Geheimnis?

„Eine seiner größten Stärken ist, dass er generell in kritischen Momenten die Ruhe und Übersicht behält“, sagte einmal Oliver Bierhoff. Nun steht der Manager der Nationalmannschaft nicht unbedingt im Ruf, ganz unabhängig und objektiv zu urteilen, wenn es um die Person Löw geht. Dafür arbeiten beide schon zu lange zu erfolgreich zusammen. Sie sind die Gesichter hinter der Mannschaft.

Trotzdem sind die Worte Bierhoffs nicht von der Hand zu weisen. Löw hat in manchen kritischen Momenten während der 90 Minuten nicht immer das richtige Händchen, aber er überstand die schwierigen Momente – oder auch Monate – danach. Nach der missglückten Europameisterschaft 2012 beispielsweise. Gerade das Aus gegen Italien im Halbfinale und die taktische Entscheidung, Toni Kroos auf Andrea Pirlo abzustellen, kosteten dem Bundestrainer viel Kredit und riefen zahlreiche Kritiker auf den Plan. Löw blieb aber standhaft und gewann zwei Jahre später die Weltmeisterschaft.

Photo by Alexander Hassenstein/Getty Images

Er tat dies natürlich mit einer etwas geänderten taktischen Ausrichtung, aber er warf nach 2012 nicht einfach alles über den Haufen. Seine Verhaltensweise war entscheidend für den weiteren Verlauf seiner Karriere und die heutige wie auch spätere Bewertung des Trainers Joachim Löw. Obwohl der 58-Jährige nie einer war, der allzu offen mit Kritik an seiner Arbeit umging und diese honorierte, so gestand sich Löw selbst ein, dass die wacklige Defensive und die ständigen Personalwechsel bei der damaligen Europameisterschaft nie zur notwendigen Stabilität im Konstrukt hätten führen können.

Im Sommer 2014 zeigte er sich lernfähig. Den Pragmatismus vom Italien-Spiel legte er nicht gänzlich ab. Benedikt Höwedes und seine Passivrolle auf der linken deutschen Abwehrseite war ein Zeugnis dessen. Aber Löw ging insgesamt stringenter in seiner Suche nach absoluter Stabilität vor. Die deutsche Mannschaft zelebrierte in Brasilien nie die ganz hohe Schule des Fußballs. Davon war Löw zu dem Zeitpunkt schon abgekommen. Er wollte den Titel und er wusste, wie er dahin kommen würde – ohne die fußballerische Identität seiner Ära als Bundestrainer zu verraten, aber auch ohne planlosen Avantgardismus.

Alle zwei Jahre wieder

Löw befindet sich als Bundestrainer in einer Art Zwitterrolle. Er ist weder der rein repräsentative Bundespräsident, noch ist er dem knallharten Tagesgeschäft des Kanzleramts ausgesetzt. Er bewegt sich dazwischen. Natürlich ist er ein Gesicht des deutschen Fußballs der Post-Millennium-Generation, aber in manchen Saisonphasen gerät seine Existenz in Vergessenheit. Dann sind Jürgen Klopp, Thomas Tuchel oder Jupp Heynckes die Vertreter der deutschen Trainergilde.

Aber mindestens alle zwei Jahre tritt der stets smart gekleidete Nationaltrainer auf die Bühne und ist im Fokus aller Kameraobjektive. Löw ist keiner, der die Öffentlichkeit scheut und die öffentliche Anerkennung nicht genießt. Aber anders als seine Berufskollegen im Alltag mit Liga- und Europapokalspielen kann er seine Auftritte vorbereiten und in vielen Stunden grübeln, welche Spieler er einsetzt, wie er die wenigen Trainingswochen und die überschaubare Zahl an Partien am besten nutzt. Er kann die Kommunikation mit der Mannschaft wie auch den Medien vorbereiten. Es braucht keine unnötige Improvisation. Diese ist allenfalls im Verlaufe eines Turniers notwendig.

Löw hat genau diese Arbeitsweise perfektioniert. Andere Trainer würden vielleicht ob der großen Leerlaufphasen kaputt gehen. Löw hingegen genießt diesen Rhythmus und nutzt ihn nahe der Perfektion. Auch das gibt ihm Kraft und Ruhe. Er kann in sich kehren und ist nicht dem Trubel, den ständigen Schlagzeilen und Gerüchten Tag für Tag ausgesetzt. Interesse von so manchem Top-Club stieß in den vergangenen Jahren auf taube Ohren. Wahrscheinlich ist Löw derart selbstreflexiv, dass er seine eigenen Grenzen kennt.

Trotzdem existiert und agiert der Bundestrainer nicht im Vakuum. Er kreiert ein Spielsystem nicht aus dem Nichts heraus. Er baut die Mannschaft nicht von Null auf. Löw versteht die Rolle eines Nationaltrainers als Bindeglied zwischen der alltäglichen Entwicklung auf Vereinsebene und dem Spezialprodukt Auswahlmannschaft. In der Vergangenheit holte er sich regelmäßig Inspiration bei den größten deutschen Clubs und deren Trainern. Die Entwicklungen, die Pep Guardiola bei Bayern München vorantrieb, beeinflussten auch die Nationalmannschaft ungemein. Ähnliches galt zuvor für Klopp und Borussia Dortmund.

An sich erscheinen diese Synergieeffekte unausweichlich. Im Normalfall spielt ein Großteil der Nationalmannschaft beim amtierenden deutschen Meister und dessen ärgsten Verfolger. Und im Normalfall hat die Spielweise der Top-Clubs direkte und indirekte Auswirkungen auf den Rest der Liga, wo sich auch weitere aktive und zukünftige Auswahlspieler tummeln.

Ein Tuchel für die Länderspielpause

Die Spielweise der DFB-Mannschaft war 2012 noch recht stark vom BVB und der Klopp’schen Erfolgsformel geprägt. Der Anteil an Run-and-Gun-Spielzügen erschien im Vergleich zu den Folgejahren hoch. Löw hatte erkannt, wie die Dortmunder Pressing und Gegenpressing als Kollektiv praktizierten und zu einer hohen Erfolgsstabilität trieben. Er sah ebenso, wie die Bayern unter Heynckes die Zugriffsstärke erhöhten und den individuellen Aspekt des Pressings situativ nutzten. Was Löw jedoch nicht gelang, war eine reibungslose Implementation einer einzigen konkreten Spielidee.

Photo by Laurence Griffiths/Getty Images

Das klappte erst zwei Jahre später, wenn auch auf nicht derart spektakuläre Weise. Seine Mannschaft war zudem noch reifer und athletisch auf absolut hohem Niveau. Alles kam zusammen und bescherte Löw einen monumentalen Triumph, der ein ausgestreckter Mittelfinger in Richtung all seiner Kritiker war, obwohl sich der Triumphator selbst natürlich erwartungsgemäß bescheiden gab. Er wusste um den Verdienst der Bundesliga, die sich zu jenem Zeitpunkt berechtigt als Taktikakademie des Weltfußballs betrachten durfte. Löw jedoch sah sich und seine Art des Fußballs in einem globaleren Kontext und nicht einzig mit den deutschen Clubs verbunden.

„Ich habe mich als Führungsperson weiterentwickelt. Es spornt mich an, Entwicklungen vorauszusehen, mich umzuschauen, was im Fußball passiert. Der Blick in die verschiedenen Länder, in die verschiedenen Arten der Fußballkultur, hat mir enorm in meiner Weiterentwicklung geholfen,“ sagte Löw im Oktober 2016 der Berliner Morgenpost. Interessant an diesem Zitat ist die Verbindung, die er knüpft. Er spricht nicht allein von taktischen Entwicklungen, sondern führt sein eigenes Reifen als Führungsperson an und benutzt den Begriff der Fußballkultur, der natürlich sehr viel weiter gefasst ist als der reine Taktikterminus.

Löw hat die Komplexität seines Jobs im Blick und weiß sicherlich auch um gewisse Unzulänglichkeiten und Fehler in der Mannschaftsführung in den Anfangsjahren. Auch bis heute ist er trotz aller Vorbereitung und Ruhe nicht vor kleinen Ausrutschern gefeit. Er teilt diese Attribute genauso wie den Hang zum Perfektionismus und sein mittlerweile erarbeitetes Verständnis für einen Ballbesitz-lastigen Spielstil mit Thomas Tuchel. Beide Trainer sind sich in diesen Punkten recht ähnlich. Sie verkörpern nicht den Stammtischkompagnon à la Klopp und wirken nicht so obsessiv wie Guardiola, wenngleich eine gute Portion Obsession zu ihren Erfolgsrezepten gehört.

Löw und Tuchel können mit ihrer jeweiligen Art anecken und punkten vor allem durch ihre Arbeit, weniger durch oberflächliche Ausstrahlung und allzu viele Nebeneffekte. Tuchel machte insbesondere in seiner ersten Saison bei Borussia Dortmund mit guten Ideen zur Spielfeldüber- und -unterladung auf sich aufmerksam. Natürlich nutzten sich diese Ideen nach einiger Zeit ab, denn die Gegner stellten sich darauf ein. Tuchel war gefordert, neue Anpassungen zu entwickeln – und dies mitten in der laufenden Saison. Löw hingegen konnte sich Ansätze von Tuchel leihen und erfolgreich beim Confed Cup auf den Rasen bringen. Das Turnier war kurz genug, dass die Gegner keine Zeit zum Reagieren fanden. Bei der anstehenden Weltmeisterschaft wird Löw wieder mit weniger positioneller Fluidität agieren.

Der langatmige Rhythmus des Nationalmannschaftsgeschäfts erlaubt ihm diese Arbeitsweise. Die zur Schau getragene Ruhe resultiert zu einem guten Stück aus präziser Vorbereitung. Für einen Perfektionisten wie Löw ist der Posten des Bundestrainers, das Arbeitsfeld der Nationalmannschaft wie gemacht. Er war und ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der WM-Vorschau von Spielverlagerung.

Felix Magath: Vom Zauberer zum Quäler

$
0
0

Von „Super-Felix“ zu „Quälix“: Kein Trainer ist ähnlich umstritten wie Felix Magath. Wie wurde aus dem schludrigen Talent einer der disziplinfanatischten Trainer der Bundesliga und wie sieht seine Spielphilosphie aus? Ein Porträt des aktuellen Coach des VfL Wolfsburg.

„Fantastico gol, forza Magath!“, tönt es aus den Kehlen der Laziofans. Auch 30 Jahre nach seinem Husarenstück wird er von allen Italienern, die nicht Fan der alten Dame sind, gefeiert. Nicht nur in Italien ist er bis heute ein Held, ebenso beim HSV und Fußballdeutschland. Es war der 25. Mai 1983, als er sich unsterblich machte.

Jener Magath, der zerbrechlich wirkte, ein sensibler Zauberer mit schwerer Vergangenheit und lockeren Füßen, sein linker Fuß sogar Gold wert. Eben jener linker Fuß, mit dem er sich in der 8. Minute in den Olymp schoss, als er im Olympiastadion in Athen den großen Dino Zoff und seine alte Dame abschoss.

Am Tag zuvor stand er noch in Trainingshose bei der Platzbesichtigung, während Michel Platini im Anzug siegessicher herumstolzierte, am Abend davor musste er noch den Zimmerservice bitten, seine Bettwäsche aufgrund des Angstschweißes zu wechseln.

Wider Erwarten war der Goliath aus Italien gefallen und Magath in einem berauschenden Fest von Medien, Kollegen und Fans zu einem griechischen Gott erhoben. Gut möglich, dass er sich auch heute noch auf diesem Thron wähnt.

Wie ein Träumer sich auf dem Fußballfeld verwirklichte

Wolfgang Magath, geboren im Jahr 1953, ein Sommerkind Ende Juni, war von Beginn an der Sohn von Unerwünschten. Seine Mutter eine ausgewanderte Ostpreußin, aufgrund ihres Dialektes in der Nachbarschaft bekannt, hatte ihn unehelich mit einem US-amerikanischen Soldaten gezeugt, der bald darauf das Land verlassen musste. Klein-Wolfgang blieb ohne Vaterfigur und hatte auch keinen Kontakt zu seinem Vater bis er 15 Jahre alt war. Für Magath bis heute der Grund, wieso er „in den Fußball abdriftete“. Seine Mutter arbeitete schwer und hatte kaum Zeit für ihn, Magath schwänzte die Schule, war unterwegs in Wäldern, aber auch Bolzplätzen und dem grünen Rasen, schulte lieber seine Beine als sein Gehirn. Obwohl Magath bis heute seine Nachlässigkeit bedauert, gab ihm erst dieses Fehlen einer Vaterfigur seine Karriere, seine Erfolge und Wohlstand.

Beim Heimweg von seiner katholischen Schule träumte Magath vor sich her. Der Quäler von heute war in seinen jungen Jahren ein sensibler Knabe, der auf dem Weg zum Bus gerne von Olympiasiegen in Leichtathletik träumte und statt der Goldmedaille öfters dem Schulbus hinterher sprinten musste.

Im Alter von sieben kam er zum VfR Nilkheim, dessen größter Erfolg bis heute ist, dass sie Magath vier Jahre halten konnten, ehe seine Mutter Helene ihn beim TV 1860 Aschaffenburg anmeldete.

Der Jugendtrainer Alexander Petschner erkannte sein Talent früh und förderte ihn, der junge Magath sah in ihm eine Vaterfigur, die er bis dato nie hatte.

Richtig zu tun bekam er es mit Petschner aber erst 1965, als er mit den älteren Spielern mit nach Frankreich auf ein Turnier wollte, was seine Mutter dazu brachte, bei Petschner anzuklingeln und ihn um Erlaubnis zu fragen.

Petschner ließ sich nicht zweimal bitten und nahm nicht nur damals den jungen Wolfgang unter seine Fittiche, auch auf Petschners Betreiben nahm Magath Briefkontakt mit seinem Vater in Puerto Rico auf.

Nach mehreren vergeblichen Probetrainings beim FSV Frankfurt, bei der Eintracht und bei den Kickers aus Offenbach wechselte Magath zum größeren Stadtrivalen Viktoria Aschaffenburg, doch Petschner glaubte weiterhin an eine große Karriere „seines“ Felix, doch forcierte ebenfalls dessen schulische Ausbildung, die jener zur Überraschung seiner Mutter mit dem Abitur beendete.

1974 war es dann fußballerisch soweit: Beraten von seinem ehemaligen Jugendtrainer unterschrieb Wolfgang, der sich nun in Anlehnung an seinen leiblichen Vater Felix nannte, einen Vertrag in der zweiten Liga beim 1. FC Saarbrücken – aus dem kleinen Maggi, einem „Aschaffenburger Lausbub“, wurde nun doch noch ein Profifußballer. 

Rascher Aufstieg und Titel

Sofort wurde Felix Magath Stammspieler und bereits in der Folgesaison stieg er mit dem 1. FC Saarbrücken auf. Mit 17 Saisontoren und zahlreichen Vorlagen war dies hauptsächlich sein Verdienst.

Obwohl der junge Magath, ganz im Gegensatz zu heute, sich nur schwer von alten Bekannten verabschieden konnte, wechselte er zum HSV und verließ den Verein, der ihm den Einstieg ins Profigeschäft ermöglicht hatte.

Trotz harter Kritik Ernst Happels an seiner Person („ein Klosterschüler, zu weich für dieses Geschäft“) wechselte Magath an die Alster und die Entscheidung sollte sich als goldrichtig erweisen – zehn Jahre Vereinstreue, europäische wie nationale Titel und Heldenstatus sollten der Lohn für Magaths Mut werden.

Doch nicht nur der sportliche Bereich sollte für Magath prägend werden, auch die Funktionäre und Verantwortlichen des HSV sollten Magaths Welt- und Selbstbild bis heute prägen.

Dr. Peter Krohn, Präsident und später Generalmanager, war ebenso wie der spätere Manager Günther Netzer ein Visionär in den wirtschaftlichen Bereichen eines Fußballvereines. Für die damalige Zeit gab es eine noch nie dagewesene Welle an Einsparungen, modifizierten Verträgen, Gehaltsobergrenzen und ähnlichem, was auch dem Teammanager Magath sehr wichtig sein würde.

Aber viel stärker beeinflussten seine Trainer ihn. Zuerst hatte er mit Kuno Klötzer einen knorrigen Schleifer der alten Schule als Trainer. Auf ihn folgte der ehemalige HSV-Torhüter Arkoc Özcan, welcher von Branko Zebec und später von der österreichischen Trainerlegende Ernst Happel beerbt wurde. Erfolg hatte nur einer von ihnen nicht, das war Arkoc Özcan – er war zu weich, zu nett, ihm fehlte die Autorität, die Zebec und Happel mitbringen sollten.

Schnell begriff der sensible Magath die Mechanismen der Profiwelt und kapselte sich privat immer mehr ab, doch dem Einfluss dieser Personalentscheidungen kann er sich bis heute nicht entziehen.

Als junger Spieler konfrontiert mit der Entlassung eines ehemaligen verdienten Spielers, orientierte er sich als Trainer deutlich an Zebec und Happel. Nach Vorbild dieser beiden sollte er einer werden, der die physischen und psychischen Grenzen seiner Spieler auslotet, sie beleidigt, Lob selten ausspricht und Strafrunden für kleine Fehler  verhängt; allerdings ohne die feinen Öffnungen der Menschlichkeit, wie es die beiden und insbesondere Happel taten, außerdem war er trotz seiner Erfolge nie ein taktischer Vorreiter, wie es seine beiden Vorbilder waren. Und auch als Spieler war seine Karriere von Rückschlägen begleitet.

Neben den großen Titeln (Europameister, zweifacher Vizeweltmeister, dreimaliger deutscher Meister und zweimaliger Europapokalsieger) musste Felix Magath auch schwere Verletzungen hinnehmen.

Im Alter von 25 Jahren erkrankte Magath an Hepatitis und war längere Zeit bettlägerig. In seinem Frust war seine einzige Ablenkung die Schachweltmeisterschaft zwischen Viktor Kortschnoi und Anatoliy Karpov, welche ihn für längere Zeit in den Bann zog. Auch nach Auskurieren seiner Krankheit verfolgte er internationale Schachspiele, zog erste Schlüsse für fußballtaktische Theorien daraus und ließ sich trotz Zeitmangels in der Schachabteilung des HSV einschreiben.

Die Hepatitis sorgte für eine kurzzeitige Abschwächung der Farbpigmente Magaths, ein Jahr lang sah er sich selbst nicht mehr wirklich ähnlich.

Ein weiterer schwerer Schicksalsschlag traf ihn 1986. Als er einen Mitspieler beim Training treten wollte, zog er sich einen Knorpelschaden im Knie zu und nach der Fußball-WM 1986 beendete er seine großartige Karriere.

Vom Rasenschach übers Management ins Trainergeschäft

Kurz danach bekam Felix Magath das Angebot des HSV den Posten des Managers zu übernehmen, welches er umgehend annahm. Trotz eines DFB-Pokal-Sieges im Jahr 1987 konnte er sich nicht lange halten und Kritiker bemerkten zynisch, dass Magaths größte Errungenschaften beim HSV die hochmodernen Atari-Computer für die Schachabteilung waren. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass der HSV seitdem keinen Titel mehr gewann, Magath schon.

Im Jahr 1988 übernahm er dann 1. FC Saarbrücken, abermals einen seiner ehemaligen Vereine, ging jedoch nach Differenzen mit der Vereinsführung im folgenden Jahr zum KFC Uerdingen, wo er nach eineinhalb Jahren entlassen wurde.

Magath bemerkte, dass er in diesem Geschäft nicht erfolgreich werden würde, aber von seinem geliebten Fußball konnte er sich nicht lösen. Völlig überraschend nahm er eine Karriere als Spielertrainer beim FC Bremerhaven in der Verbandsliga an, daneben arbeitete er in einem bürgerlichen Beruf.

Auf Anhieb wurde er Meister, doch seine Spieler jammerten über seine Trainingsmethoden („50 Runden im Powertempo, Diagonalläufe Eckfahne-Eckfahne. Nicht selten kam der Krankenwagen“) und 1993 wanderte er zum HSV als Betreuer der zweiten Mannschaft ab, Benno Möhlmann beförderte ihn kurz darauf zu seinem Assistenztrainer.

1995/96 wurde Felix Magath nun Trainer des HSV und feierte den Einzug ins UEFA-Cup-Achtelfinale in der Folgesaison, doch ungeachtet dieses Erfolges wurde er aufgrund zahlreicher Konflikte innerhalb der Mannschaft im Mai 1997 entlassen.

Seine fehlende Kommunikation mit den Spielern sollte ihm danach noch oft im Weg stehen, doch seine harten Trainingsmethoden sorgten dafür, dass viele abstiegsbedrohte Vereine seine Dienste in Anspruch nahmen.

Oft zitiert ist der Ausspruch des Norwegers Fjørtoft: „Ob Felix Magath die Titanic gerettet hätte, weiß ich nicht. Aber die Überlebenden wären topfit gewesen.“

Bis ins neue Jahrtausend zeigte sich ein deutliches Muster in der Trainerkarriere Magaths: kam er zu einem großen Verein, ging aufgrund der Medien und den Spielern alles in die Brüche, kam er zu einem kleinen Verein, so würde sich dieser aus dem Abstiegssumpf erheben (oder aufsteigen, wie es der 1. FC Nürnberg tat), nur um sich im Folgejahr dort wiederzufinden.

Als Feuerwehrmann der Liga gebrandmarkt, ging Felix Magath 2001 zum VfB Stuttgart, die in akuter Abstiegsnot waren. Der Klassenerhalt wurde gesichert und Felix Magath ging in die kritische zweite Saison, die er dank der herausragenden Jugendarbeit des VfB erfolgreich bestreiten konnte und in der folgenden Saison übernahm er zusätzlich noch die Aufgaben des Managers von Rolf Rüssmann.

Einige Transfers später wurde Magath zu einem Helden, als seine Mannschaft sich 2003 die Vizemeisterschaft hinter dem großen FC Bayern sichern konnte und die „jungen Wilden“ mit Offensivfußball in die Champions League einzogen.

Im Jahr 2004 konnte man Magaths Handschrift deutlich sehen: Spieler wie Kuranyi, Heldt, Hleb, Soldo, Lahm, Hildebrand und Hinkel waren eindeutig Magath zuzuschreiben, der sie geholt und gefördert hatte.

Trotz großspuriger Ankündigungen wie „Ich gehe erst, wenn ich den FC Bayern vom Thron gestoßen habe“ verließ Felix Magath seine jungen Wilden und wechselte zum Branchenprimus aus München.

Bereits im ersten Jahr wurde Magath Doublesieger mit dem „besten FCB-Kader aller Zeiten“, wie Uli Hoeneß und Franz Beckenbauer vor der Saison verkündet hatten.

Mit Frings und Robert Kovac verließen zwei Stammspieler den Verein, Sebastian Deisler hatte mit psychischen Problemen zu kämpfen und Mehmet Scholls Karriere neigte sich immer mehr dem Ende zu, doch der FC Bayern schaffte auch nächstes Jahr souverän das Double.

Felix Magath ließ dafür ein ähnliches System wie in Stuttgart spielen. Der Raum wurde oft mit weiten Bällen überbrückt, die Sagnol auf Makaay und Ballack schlug. Ein Erfolgsrezept in der Liga, doch trotz des Starensembles konnte Magath auf diese Art und Weise international keine Erfolge verbuchen. Die Kritik an seiner Person wuchs und nach dem Abgang Ballacks und weiteren Personalproblemen im Folgejahr wurde Magath entlassen.

Viele der Profis ließen kein gutes Haar an Magath, insbesondere Mark Van Bommel schimpfte über den Trainer („Taktik? Welche Taktik?“), doch auch der sonst so introvertierte Sebastian Deisler echauffierte sich über „Quälix“: „ Er misstraute den Spielern. Er schürte Angst, damit sie sich den Arsch aufrissen.

Für einen Trainer, der in Zeiträumen von ein bis zwei Jahren denkt, ist das, was Magath gemacht hat, vollkommen richtig. Ein Spieler, der fünf oder zehn Jahre dabei sein will, kann darunter leiden.“

Mit einem verletzten Stolz verließ der erste Doubleverteidiger der Bundesliga den FC Bayern und heuerte völlig unerwartet bei der grauen Maus VfL Wolfsburg an.

Mit Geld vom VW-Konzern führte er den VfL bereits im ersten Jahr zu einer UEFA-Cupteilnahme und in der folgenden Saison gab es seine persönliche Rache am FC Bayern.

Der Wundersturm Grafite und Dzeko besiegte ersatzgeschwächte Bayern mit 5:1 und kurz vor Ende wechselte Magath noch seinen Ersatztorhüter ein, um ihm „Spielpraxis zu verschaffen“. Vor dem letzten Spieltag gab Magath sein Meisterinterview – auf dem Münchener Rathausbalkon.

Die Wolfsburgmannschaft, die in diesem Jahr Meister wurde, war wie keine Mannschaft davor oder danach von Magath geprägt worden.

Acht der elf nominellen Stammspieler wurden unter seiner Ägide geholt, auch die anderen drei wurden maßgeblich von ihm gefördert. 55 Millionen Euro gab er aus, über 30 neue Spieler kamen in die Golfstadt.

Das Spiel war ein hochdynamisches Spiel, welches auf Umschaltmomenten basierte und in welchem das Zentrum, ähnlich wie im Schach, eine wichtige Rolle spielte. Das System war das von Magath bevorzugte 4-4-2 mit Raute, denn Magath war und ist einer der großen Verfechter eines zentral-offensiven Spielmachers.

Doch nicht nur auf dem Platz zeigte sich Magaths Würgegriff, der Trainer, Sportdirektor und Nachwuchskoordinator in Personalunion war, auch daneben wurden die Spieler von ihm maßgeblich beeinflusst.

Die hohe Spielerzahl im Kader sorgte für viel Konkurrenz und Probleme im zwischenmenschlichen Bereich. Ein Beispiel hierfür ist die Schlägerei zwischen der exzentrischen Diva Zvijezdan Misimovic und dem Ersatzspieler Rodrigo Alvim. Eine weitere Anekdote ist der Kollaps des Starstürmers Grafite im Trainingslager in Thun an einem heißen Julitag 2008.

Magath versprach einen trainingsfreien Tag, doch am Nachmittag mussten die Spieler des VfL den Berg Niesen hochlaufen – und Grafite kollabierte nach zweieinhalb Stunden Dauerlauf.

Solche Geschichten und Trainingsmethoden sind es, die eine Aufholjagd in der Rückrunde von Platz 9 auf Platz 1 ermöglichten, doch es verwundert nicht, dass nur wenige Spieler dem Meistertrainer nachweinten.

Auch ist es nicht überraschend, dass sich der VW-Konzern weigerte, das Gehaltsangebot des hochverschuldeten FC Schalke 04 zu überbieten und aufgrund dessen übernahm Felix Magath den FC Schalke 04.

In Augen des Schalke-Präsidenten Tönnies war Magath die einzige Möglichkeit für Schalke, sich wirtschaftlich zu konsolidieren ohne an sportlicher Stärke zu verlieren. Felix Magath bekam neben seinem Trainermanager-Job auch einen Posten im Vorstand und konnte deswegen Transfers ohne Bewilligung des Vorstandes durchführen.

Zahlreiche Spieler kamen und gingen, die meisten für kleines Geld und bald maß Schalkes Kader eine stattliche Zahl.

Kritiker äußerten bereits damals ihre Bedenken an Magaths Führungsstil, aber trotz Konflikten mit den Fans und einzelnen Spielern (wie etwa Albert Streit, den er suspendierte und der noch nach der Ära Magaths auf der Gehaltsliste Schalkes stand) konnte der sportliche Erfolg Magaths seine Gegner verstummen lassen.

Der FC Schalke wurde überraschend Vizemeister, obwohl man das gesamte Jahr über mit einer sehr tiefstehenden Abwehr spielte. Das Spiel nach vorne bestand großteils aus individuellen Aktionen und hohen Bällen, welche von Kuranyi und Co. verwertet wurden.

Der größte Erfolg Magaths in diesem Jahr war jedoch nicht der zweite Platz, sondern das Hochziehen junger unbekannter Spieler, wie Moritz, Schmitz und in der zweiten Saisonhälfte Matip.

Überraschend, aber in gewisser Weise doch zu erwarten war die folgende zwei Transferperioden Magaths: mit Rafinha, Bordon, Kuranyi, Westermann und Rakitic (im Winter 2010) verließen fünf Stammspieler den Verein und dazu gesellten sich mit Zambrano und Sanchez wichtige Ergänzungsspieler.

Gekauft wurde eine hohe Zahl an Spielern, von denen manche erfolgreich (Raúl, Papadopoulos, Kluge), einige weder Fisch noch Fleisch (Jurado, Uchida, Huntelaar, Metzelder, Sarpei, Escudero, Annan) und der Großteil absolute Flopps waren(Deac, Plestan, Hoogland, Avelar, Pliatsikas, Hao, Baumjohann, Charisteas, Karimi).

Diese schwache Transferphase und das destruktive Spiel Schalkes zeigten sich perfekt in ihrer Saison – in der Liga, wo man selbst agieren musste, konnte man kaum punkten und schwebte akut in Abstiegsgefahr, im DFB-Pokal und in der Champions League jedoch konnte man bis ins Finale respektive Halbfinale kommen. Letzteres jedoch ohne Felix Magath.

Magath hatte die Fans gegen sich gebracht durch die Transfers von Karimi und Charisteas, welche in Anbetracht des großen Kaders und der Verbindichkeiten fast wie Hohn wirkten.

Der Versuch sich über die soziale Plattform Facebook den Fans anzunähern, schien Erfolg zu haben, doch nach einer öffentlichen Schlammschlacht mit Clemens Tönnies wurde Magath entlassen und durch Ralf Rangnick ersetzt.

Magath pochte auf eine hohe Abfindung bei Entlassung, aber diese 15 Millionen konnte und wollte der FC Schalke nicht zahlen. Gerüchte, die Magath Veruntreuung bei Transfers unterstellten, kamen gelegen, doch völlig überraschend zog Magath seine Ansprüche zurück.

Tags darauf veröffentlichte der VfL Wolfsburg eine Pressemitteilung, wonach Magath wieder zu den Wölfen zurückkehrte – wie könnte es anders sein, denn als Feuerwehrmann. Und wie könnte es anders sein, als dass Felix Magath den drohenden Abstieg noch abwenden konnte.

Ob sich das alte zwei-Jahres-Schema seiner Karriere wieder bewahrheiten wird?

Magaths Fußballphilosophie, Schach und hartes Training

Eine zentrale Theorie erfolgreichen Schachspielens ist, dass man das Zentrum beherrschen muss, um das Spiel zu gewinnen. Im Zentrum hat man bis zuletzt mehr Alternativen um anzugreifen. Je nach Situation kann man auf die Außen ausweichen und man hat bis zum entscheidenden Zug den König geschützt.

Felix Magath, der aufgrund einer Niederlage gegen den fünfjährigen Sohn seines Schachtrainers Gisbert Jacoby zeitweise mit dem Spielen aufhörte, predigt dies auch im Fußball.

Seiner Meinung nach bestehen beide Spiele aus ähnlichen Grundkomponenten, nämlich Kraft, Raum und Zeit, wobei im Schach das Fehlerpotenzial aufgrund menschlicher Schwächen von elf auf eins reduziert wird.

Ähnlich wie im Schach sollen Fußballer zwei bis drei Züge vorausdenken und sich selbst um Taktik kümmern. Jeder Spieler sollte selbst sehen, welcher nächste Zug der beste ist.

Ganz nach Vorbild sowjetischer Eishockeytrainer empfiehlt deshalb Magath seinen Spielern das aktive Schachspielen. Was Magath jedoch nicht wusste: Gisbert Jacobys Sohn, der ihn besiegte, galt als großes Fußballtalent und schaffte es sogar in die zweite Bundesliga. Dies soll jedoch keine Entschuldigung für Magaths Leistungen im Schach sein, er unterlag bspw. René Gralla, einem Schachmeister, sehr bald aufgrund eines Anfängerfehlers – es scheint, Van Bommel hatte mit seiner Kritik „Was für eine Taktik?“ recht …

… Doch hier stellt sich die Frage, ob Magath überhaupt an fußballspezifischer Taktik interessiert ist. Trotz seiner Äußerungen zur Systematik des Schaches, versucht er den Fußball möglichst einfach zu machen und stellt Hierarchie, Motivation und Trainingsarbeit über die Taktik.

Beim FC Schalke gab es für Superstar Raúl keine taktischen Vorgaben, da er „dies selbst am besten wisse“ und die Mannschaftshierarchie seine Freirolle aufgrund seiner Karriere akzeptieren würde. Dies war auch bei Horst Heldt und Krassimir Balakov beim VfB Stuttgart der Fall – die Hierarchie bestimmt die Taktik, nicht umgekehrt.

Im Bereich Motivation und Trainingsarbeit, welche zusammen mit der Pressearbeit unter den Aspekt der „Personalführung“ fallen, vertritt Magath sehr autoritäre Thesen, welche an Branko Zebec und Ernst Happel orientiert sind.

Die Medien sind in seinen Augen der Gegenpol zum Trainer, welcher die Mannschaft zu einer kompakten Einheit machen will. Sie pushen das Ego der Spieler und sabotieren die Arbeit des Trainers durch inkompetente Kritik und Eigeninteresse. Magaths Ziel ist dem entgegenzuwirken, einerseits durch starke Kritik an den Spielern und Bestrafen der Medien bei – in seinen Augen – Fehlverhalten.

Magaths Höchststrafe ist das Schweigen. Journalisten und Reporter, die keine Antworten bekommen, sind ebenso hilflos wie Fußballer, die kein Feedback und keine Hilfestellung bekommen. Letztlich sind beide von Magath abhängig und auf ihn angewiesen, exakt diesen Umstand nutzt er, um seine Autorität aufzubauen.

Die Grundvoraussetzung für ein solches Verhalten den Spielern gegenüber ist eine hohe Anzahl an Spielern im Kader, insbesondere an jungen Spielern, die hungrig sind und ihr Ego eher dem Erfolg unterordnen. Ein Kader mit einer hohen Zahl an jungen Spielern und verschiedenen Persönlichkeiten besitzt viel mehr Heterogenität und die Leitwölfe können Rebellionen gegen den Trainer nur schwer organisieren, was Magath nach seiner Zeit bei Eintracht Frankfurt und Werder Bremen lernte.

Als Endkonsequenz seiner Fußballphilosophie und seiner Anschauungsweise des modernen Profis („sie suchen die Schuld immer bei anderen, sie sind überbezahlt und leben ihren Traum, dafür haben sie sich auch 24 Stunden am Tag in den Dienst des Vereines zu stellen“)  steht das Training.

Das Lieblingszitat von „Saddam“, wie er auch benannt wurde, ist: „Qualität kommt von Qual.“

Harte Konditionseinheiten mit Medizinbällen und der „Hügel der Leiden“, eine Erfindung Magaths, sollen nicht nur den körperlichen Stahl für die Roharbeit seiner Fußballer geben, sie sollen auch psychologische Barrieren knacken.

Kritik dafür bekam er unter anderem von den medizinischen Abteilungen der Vereine, auf die er fast schon prinzipiell keine Rücksicht nimmt. Spieler, die nicht gänzlich fit sind, werden unter Schmerzmitteln zum Spielen gezwungen.

In Anbetracht dessen könnte man sagen, was Christoph Daum mit Glasscherben und feurigen Kohlen Beginn der 90er bewirkte, erreicht Felix Magath mit permanentem Überschreiten der Schmerzgrenze,  permanenter Druck als Motivation für ein effektives Training.

Die Motivation für Erfolge ist jedoch neben Titeln jedoch eine andere, nämlich das Feindbild, welches Magath selbst für seine Spieler darstellt. Die Härte, welche Magath als Jugendlicher und Spieler abging, verlangt er von seinen Spielern.

Aussagen wie „ich bin der liebste Mensch, den es gibt“ und „ich bin immer nur Diener des Vereins“ wirken in Anbetracht dessen wie blanker Hohn.

Obwohl er menschlich und im Schachspiel noch auf dem Niveau der 80er festsitzt, so kann man ihm neben seiner Erfolge eines zu Gute halten: Seine Ausbildung hat er nachgemacht, Magath studierte nebenbei einige Semester Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, wobei aufgrund seiner Vita die Frage gestellt werden muss, ob er nicht manche Kurse schleifen ließ.

Viewing all 63 articles
Browse latest View live


Latest Images