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Peter Hyballa – Der Vorzeigeschüler

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Ein Porträt des jüngsten Profitrainers Deutschlands, der als riesiges Trainertalent gilt und der es geschafft hat, sich schon in jungen Jahren in der Fachwelt einen Namen zu machen.

Peter Hyballa hatte sich nach der Saison 2009/10 schon auf den Gang aufs Arbeitsamt eingestellt. Doch drei Tage, nachdem sein geplantes Engagement bei RW Essen wegen der Insolvenz des Traditionsvereins gescheitert war, gab es den ersten SMS-Kontakt mit Alemannia Aachens Sportchef Erik Meijer. Wenig später schon unterzeichneten beide ein zweijähriges Arbeitspapier.

Während der Studentenzeit nimmt die Trainerkarriere Fahrt auf

Und so wurde Peter Hyballa zur Saison 2010/11 mit 34 Jahren zum damals jüngsten Cheftrainer im deutschen Profifußball ernannt. Doch bis zu diesem Moment hatte Hyballa schon einen langen Weg als Trainer hinter sich gebracht, welcher im folgenden nachgezeichnet werden soll.

Der Theologensohn Hyballa begann seine Trainerkarriere bei seinem Heimatverein Borussia Bocholt, wo er die F-Jugend betreute, nachdem er seine Spielerkarriere aufgrund von zahlreichen Verletzungen früh an den Nagel hängen musste. Gleichzeitig machte er den C-Trainerschein, sodass er nach seinem Umzug nach Münster parallel zum Sportstudium die B-Jugend des SC Preußen Münster trainieren durfte. Ebenfalls in seiner Studentenzeit betätigte sich Hyballa als Autor zahlreicher Artikel für den Philippka Sportverlag, der die bekannte DFB-Trainerzeitschrift fussballtraining herausbringt.

Schon im Studentenalter betrachtete Hyballa viele Trainingsprinzipien des deutschen Profifußballs äußerst kritisch. In einem Artikeln bemängelt er das mangelhafte Aufwärmen der Profispieler vor Meisterschaftsspielen, in einem anderen stellt er der deutschen Leserschaft die niederländische Laufschule als Alternative zum deutschen Konditionstraining vor. Ohnehin schon mit einer besonderen Beziehung zu unserem Nachbarland ausgestattet, stammte seine Mutter doch aus Rotterdam, schaute er auch in fußballerischer Hinsicht schon in jungen Jahren über den deutschen Tellerrand hinaus.

Doch auch als Autor beschäftigt sich Hyballa intensiv mit dem Heimatland seiner Mutter: Seine Magisterarbeit an der Uni beschäftigt sich ebenso wie ein knapp zehn Jahre später veröffentlichtes Buch mit dem Thema „Mythos niederländischer Nachwuchsfußball“. Das 240-seitige Werk befasst sich umfassend mit dem niederländischen Erfolgskonzept, das unseren Nachbarn die wohl höchste Quote an internationalen Spitzenspielern weltweit beschert.

Wechsel nach Bielefeld und ein Abenteuer

Auch Hyballas Trainerkarriere schritt weiter voran: 2001 wechselt Hyballa nicht ohne Nebengeräusche zur U19 des ostwestfälischen Rivalen Arminia Bielefeld. Doch in Bielefeld wollte sich der Erfolg nicht wirklich einstellen, sodass Hyballa schon nach einem Jahr entlassen wurde. Zur Überraschung vieler übernahm Hyballa zur Folgesaison 2002/03 die Ramblers Windhoek, einen Erstligisten in Namibia. Der Kontakt nach Namibia war schon zu seiner Studentenzeit entstanden, als Hyballa neben seiner eigenen Trainertätigkeit auch in der Trainerausbildung tätig war. Mit dem Wunsch, solche Fortbildungen auch in Namibia durchzuführen, wurde er in Münster von namibischen Funktionären kontaktiert, sodass Hyballa immer wieder nach Afrika flog und die dortigen Trainer fortbildete.

Und als nun das Angebot folgte, die Ramblers zu übernehmen, zögerte Hyballa nicht lange, sondern setzte sich nach eigenen Aussagen „gleich in den nächsten Flieger“. Doch auch in Namibia hielt es Hyballa nicht sonderlich lange aus, sodass er nach erneut einem Jahr wieder in Deutschland anheuerte, und zwar um die Junioren des VfL Wolfsburg zu übernehmen. Von 2004 an trainierte Hyballa drei Jahre lang U17 und U19 der Grün-Weißen. In dieser Zeit erreichte er 2007 das DFB-Pokalfinale der Junioren, in dem man sich jedoch dem TSV 1860 München geschlagen geben musste.

Im Anschluss an das verlorene Finale wechselte Hyballa erneut den Verein. Es zog ihn zurück in den Westen, wo er zur Saison 2007/08 die A-Junioren von Borussia Dortmund übernahm. Erneut blieb Hyballa insgesamt drei Jahre in Dortmund. Im Jahr 2009 erreichte er abermals das Finale des DFB-Pokals, und wieder zog seine Mannschaft den Kürzeren. Dieses Mal musste sich die Borussia im Elfmeterschießen dem SC Freiburg geschlagen geben. Im selben Jahr wurde das Finale zur deutschen Meisterschaft erreicht, hier traf man auf den von Thomas Tuchel betreuten 1. FSV Mainz 05. Und auch hier reichte es für Hyballa und seine Truppe nur zur Silbermedaille.

2010 sah Hyballa sich dann bereit für den Seniorenfußball. Im April unterschrieb er einen Zwei-Jahres-Vertrag bei Rot-Weiß Essen, nachdem er zuvor auch unter anderem mit seinem Ex-Klub Preußen Münster verhandelt hatte. Doch noch vor seinem ersten Arbeitstag wurde das Arbeitspapier in Essen wieder aufgelöst, nachdem der Verein die Insolvenz eingeleitet hatte. So nutzte Erik Meijer die Gunst der Stunde, um Hyballa in die 2. Bundesliga zur Alemannia zu lotsen.

Das erste Jahr als Profitrainer

In seinem ersten Jahr als Cheftrainer im deutschen Profifußball erlebte Hyballa eine durchwachsene Spielzeit. Aachen spielte teilweise mitreißenden Angriffsfußball, teilweise konnten die Spieler die komplexen Vorgaben des Trainers noch nicht voll umsetzen. Glanzlichter setzte die junge Mannschaft – das Durchschnittsalter der Startelf lag phasenweise unter 23 Jahren – vor allem im Pokalwettbewerb. In der 2. Runde traf Hyballa auf seinen Widersacher aus Jugendtrainerzeiten, Thomas Tuchel. Ihm gelang die persönliche Revanche durch einen Überraschungserfolg am heimischen Tivoli, wo die Aachener den Höhenflug der Mainzer Mannschaft brutal stoppte und sie mit einer 1:2-Niederlage auf den Heimweg schickte.

Im Achtelfinale traf man erneut auf einen Bundesligisten, und erneut konnte die Alemannia für eine Überraschung sorgen, indem man gegen die Eintracht aus Frankfurt im Elfmeterschießen die Oberhand behielt. Für die Viertelfinalbegegnung wurde der Alemannia Branchenprimus Bayern München zugelost. Die noch von Louis van Gaal trainierte Mannschaft ließ dem Zweitligisten beim ungleichen Aufeinandertreffen keine Chance, und so musste Hyballa mit seiner Mannschaft nach einer deutlichen 0:4-Niederlage Abschied vom Pokalwettbewerb nehmen. Doch trotz dieser ernüchternden Pleite konnte die Pokalsaison Aachens als voller Erfolg verbucht werden: Zuerst, und vor allem, konnte man in Fußballdeutschland wieder positiv auf sich aufmerksam machen. Außerdem konnte die durch den Stadionausbau nicht auf Rosen gebettete Alemannia die zusätzlichen Pokaleinnahmen gut gebrauchen. Und zuletzt sorgten gerade die Erfolge im Pokal dafür, dass die durchschnittlich verlaufene Saison sich nicht allzu negativ auf die Stimmung im Verein niederschlug, weil durch den Überraschungssiege gegen Mainz und Frankfurt viel positive Stimmung im und um den Klub entstanden war.

Ständige Präsenz in der Fachwelt

Der Werdegang Hyballas war mit Ausnahme seiner einjährigen Tätigkeit in Namibia nicht außergewöhnlich für ein Trainertalent: Trainerscheine in jungen Jahren, schneller Aufstieg als Jugendtrainer, noch vor dem 30. Geburtstag Trainer in einem Nachwuchsleistungszentrum. Zwar konnte Hyballa mit seinen Jugendmannschaften keine großartigen Erfolge feiern, doch die Art und Weise, wie seine Mannschaften agierten und seine außergewöhnliche Trainingsarbeit machten ihn immer wieder für bessere Jobs interessant. Zudem fällt auf, wie breit Hyballa seine Aktivitäten im Fußball angelegt hat: Trainer, Redakteur bei der bedeutendsten Trainerzeitschrift Deutschlands, Buchautor, Trainerausbilder. Er zeigte ständige Präsenz in der Fußballszene, erläutert immer wieder seine Philosophie – wie mit der gerade laufenden Serie in der Zeitschrift fussballtraining – und schafft es so, in der Fachwelt als kompetenter, innovativer, ehrgeiziger und hochmotivierter Trainer wahrgenommen zu werden.

Doch auch mit noch so vielen Artikeln in Fachzeitschriften und Buchveröffentlichungen wäre Hyballa nicht dort wo er heute ist, wenn er nicht ein herausragender Trainer wäre. Seine Mannschaften zeigen mitreißenden, offensiven und aggressiven Fußball. Der Gegner darf nicht ruhig aufbauen, sondern wird direkt attackiert. Bei Ballgewinn schauen seine Spieler immer zuerst in die Tiefe, schnelle Torabschlüsse und Tempofußball gehören zu Hyballas Philosophie. Auf Grundlage der niederländischen Spielphilosophie entwickelte Hyballa seine eigene Idee dahin, dass er wesentlich mehr Wert auf Risikopässe und schnelles Umschalten nach Ballgewinn setzt, als es beispielsweise der FC Barcelona tut oder der FC Bayern unter Louis van Gaal tat. So kombiniert Hyballa niederländisch geprägtes Positions- und Kombinationsspiel mit dem Tempo- und Konterfußball, der uns vor allem in der englischen Premier League in Reinform begegnet. Gepaart mit dem aggressiven Pressing entsteht ein riskanter, attraktiver und offensiver Spielstil, der perfekt zu Alemannia Aachen und der dort propagierten Mentalität passt.

Innovative Trainingsarbeit als Markenzeichen

Auch die Trainingsarbeit geht Hyballa so offensiv an wie die Meisterschaftsspiele. In Aachen hat er alle Laufeinheiten ohne Ball abgeschafft. Die Kondition wird bei ihm nach niederländischem Vorbild vor allem in Spielformen trainiert. Doch nicht nur dafür werden bei Hyballa Spielformen benötigt. Mit allerlei Einschränkungen und Provokationsregeln erreicht er beinahe sämtliche Trainingsschwerpunkte spielnah und komplex. Die Spieler sollen selbst Lösungen suchen, die Einschränkungen und Regeln sollen ihnen nur einen Schubs in die richtige Richtung geben. Hyballa sagt zu seiner Trainingsarbeit:

„Wir haben die Idee, beim Training möglichst viel das Spiel zu kopieren. Das kannst du nicht mit Gymnastik, mit Waldläufen, die wir übrigens ganz abgeschafft haben, mit Hütchen-Läufen oder besonders viel Krafttraining. Wir machen fast alles in Spielform. Der Ball ist manchmal wirklich der größte Feind eines Spielers.“

Ein weiteres Merkmal seiner Trainingseinheiten sind komplexe Endlos-Passformen, bei denen zumeist mehrere Spieler starten, aber nur einer den Ball bekommt. Für den spontanen Beobachter sehen diese Übungen sehr chaotisch aus, mit der Zeit erkennt man aber das Muster hinter dem Durcheinander und kann nur staunen, wie schnell und präzise die vorgegebenen Pass- und Laufwege von den Spielern ausgeführt werden.

Eine Kostprobe solcher Passformen stellt der Onlineauftritt der Zeitschrift fussballtraining als Ergänzung zum Artikel in der Printausgabe zur Verfügung.

Besondere Motivationskünste und absolute Leidenschaft

Neben der Trainingsarbeit muss unbedingt Hyballas absolute Motivation für den Job erwähnt werden. Anders wäre es wohl auch nicht möglich, dass jemand ohne Profierfahrung schon mit 34 Jahren einen Zweitligisten trainiert. Dabei betont Hyballa immer wieder, dass ihm diese Karriere nicht geschenkt wurde, sondern das Ergebnis von Akribie und dem Willen zur Weiterentwicklung ist: „Ich musste mich für den nächsten Trainerschritt immer gegen die Türen werfen. Viele Exprofis bekommen gleich nach Karriereende die Tür aufgehalten: Hier haste nen Trainer- oder Managerjob, bitteschön. Wenn ich leiser wäre, wäre ich wohl nicht mit 34 jüngster Profitrainer in Deutschland geworden.“

Aus diesem Zitat wird auch deutlich, dass Hyballa selten ein Blatt vor den Mund nimmt. Selbstbewusst und extrovertiert, so wird er beschrieben. Dabei stellt er sich stets vor seine Mannschaft und versucht so, Druck von ihr zu nehmen. Doch in der Kabine kommt noch eine ganz andere Seite an ihm zum Vorschein. Dort ist er nach eigener Aussage auch ruhig, im Einzelgespräch fürsorglich und sogar väterlich. Von seinen Spielern fordert er explizit Mitdenken und Hinterfragen, er wolle „gute, selbstbewusste Jungs haben und keine Ja-Sager.“

In der Kabine blüht Hyballa förmlich auf, das bestätigt auch sein derzeitiger Chef, Erik Meijer: „Seine Ansprachen sind dermaßen emotional. Ich habe Spieler aus der Kabine weinen gehen sehen, ich habe Spieler aus der Kabine glühen gehen sehen, er erreicht sie im tiefsten Innern ihrer Seele.“

Diese Eigenschaft unterscheidet Hyballa höchstwahrscheinlich von den meisten anderen Jugendtrainern in den Nachwuchsleistungszentren, die davon träumen auch eines Tages im Profifußball zu trainieren. Es reicht heutzutage nicht mehr, nur Fachmann oder nur Motivator zu sein. Durch seine lange Zeit in den verschiedenen Nachwuchsmannschaften ist Hyballa als Trainer trotz seiner jungen Jahre schon sehr erfahren. Wie viele Trainerneulinge arbeitet er am liebsten mit jungen, entwicklungsfähigen Spielern, die er noch formen kann. Doch in Zukunft muss er zeigen, dass er in der Lage ist, eine Profimannschaft gezielt weiterzuentwickeln und auf eine neue Ebene zu bringen, gleichzeitig aber auch den kurzfristigen Erfolg zu sichern.

Sein erstes Jahr in Aachen hätte schlechter laufen können. Das Erreichen des Viertelfinals im DFB-Pokal war ein erstes Ausrufezeichen, es könnten noch viele weitere folgen. Fest steht, dass die Alemannia in Peter Hyballa eines der größten deutschen Trainertalente unter Vertrag hat, das mit seiner Art Fußball spielen zu lassen eine Bereicherung für den deutschen Profifußball darstellt und in Zukunft noch für einige Furore sorgen dürfte.


José Mourinho – der Mann mit den zwei Gesichtern

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Als Selbstdarsteller, Lügner und gar Fußballfeind verschrien, von seinen Fans jedoch immer verteidigt. José Mourinho ist nicht nur der polarisierendste Coach, er ist auch der populärste.

1,8 Millionen Fans hat er auf Facebook, sechsmal so viel wie Felix Magath, viermal so viel wie Borussia Dortmund. Doch woher kommt diese unheimliche Popularität und Medienpräsenz?

Die Anfänge des José Mourinho

Bereits als Kind war José Mourinho sehr beliebt: intelligent, zielstrebig und ein Mädchenschwarm. Doch Josés Interesse galt jeher dem Fußball, hauptsächlich aufgrund seines Vaters Félix, der Torhüter in der ersten Liga war und auch die Farben Portugals verteidigen durfte.

Woche für Woche folgte Mourinho jr. dem Senior, um ihn bei seinen Spielen zu unterstützen. Zu Auswärtsspielen trampte der Knirps mit Truckern. Da die damaligen Löhne nicht für eine gesamte Familie ausreichten, mussten die Mourinhos immer etwas von ihrem Vermögen zehren, welches 1974 gen Null ging, als das faschistische Regime gestürzt wurde und die Karten im Land neu verteilt wurden. Nur eines ihrer Grundstücke ging nicht in die Hände anderer über und auch auf den Wohlstand von Josés Mutter Maria konnte man nicht mehr zählen. Auch ihr Bruder, jener Architekt, der unter anderem das Stadion „Estádio do Bonfim“ in Mourinhos Heimatstadt Setúbal entworfen hatte, litt unter Armut.

Als Felix Mourinho ins Trainerbusiness wechselte, zeigte sich das große Talent seines Sohnes, der mithilfe von Statistiken und Beobachtungen des Trainings den nächsten Gegner für seinen Vater analysierte. Doch nicht nur das, er war auch Spieler unter seinem Vater bei Rio Ave. José war somit, entgegen vieler anderslautender Behauptungen, ein Profifußballer; er hatte die Jugendakademie von Belenenses durchlaufen und spielte in seiner Karriere bei Rio Ave, bei Belenenses und Sesimbra. Seine Karriere ließ er bei einem Konzernverein in den unteren Ligen ausklingen, für einen Stammplatz in den Profiligen sollte es nie reichen.

Auch schulisch folgte Mourinho niemals den Wünschen seiner Mutter. Er schrieb sich zwar auf ein kaufmännisches College ein, doch bereits am ersten Tag verließ er die Schule und studierte fortan Sportwissenschaften an der technischen Universität Lissabons. Während seines Studiums übernahm er für sein Praktikum den Sportunterricht an verschiedensten Schulen und schaffte seinen Abschluss nach 5 Jahren mit herausragenden Noten. Doch sein Traum, ein Fußballtrainer zu werden, war noch nicht erloschen. Mourinho besuchte zahlreiche fußballbezogene Kurse und begann bereits damals, seinen jetzigen Stil theoretisch zu definieren.

Die wahre Geburtsstunde des Trainers José Mourinho war jedoch an Heiligabend 1982 – während des Weihnachtsessens bekam sein Vater die telefonische Auskunft, dass er entlassen sei und Mourinho schwor sich an jenem Abend, dass er nie entlassen werden würde. Bis heute ist ihm das gelungen.

Vom Übersetzer zum Trainer

Mourinho, ähnlich wie sein späterer Mentor Louis Van Gaal, legte seinen Job als Sportlehrer beiseite und übernahm eine Jugendmannschaft bei Vitória de Setúbal, bald darauf wurde er Assistenztrainer bei Estrela de Amadora.

Nach Auseinandersetzungen mit Jesualdo Ferreira, ehemaliger Lehrer Mourinhos an der technischen Hochschule in Lissabon, wechselte Mourinho zu Ovarense, welchen er ebenfalls bald verließ. Im Jahre 1992 wurde Bobby Robson Trainer von Sporting Lissabon und suchte nach einem Übersetzer, der gute Englischkenntnisse besaß, die Stadt kannte und außerdem ein hohes fußballerisches Fachwissen benötigte – Mourinho sah sich selbst als die Idealbesetzung, bewarb sich und erhielt die Stelle.

Als Robson nach einer Niederlage gegen Casino Salzburg im UEFA-Cup trotz Spitzenposition in der portugiesischen Liga im Dezember 1993 entlassen wurde und beim FC Porto Trainer wurde, nahm er Mourinho mit.

Die Zeit bei Porto war sehr erfolgreich, der kriselnde Verein mit geringen Zuschauerzahlen gewann 1993 den portugiesischen Pokal (im Finale gegen Sporting) und wurde daraufhin zweimal Meister. Robson übertrug Mourinho in dieser Zeit mehr Aufgaben, der Übersetzer war nun die rechte Hand des Trainers. Er gab dem Trainer Beratung, den Spielern Motivationsreden und trainierte mit ihnen die Defensive, Robson übte die offensiven Spielzüge mit der Mannschaft ein – eine Aufteilung, wie es im American Football üblich ist.

Im Jahr 1996 wurde Robson Trainer des FC Barcelona und er nahm Mourinho, offiziell noch immer Übersetzer, mit. Es zeigte sich ein anderes Talent Mourinhos: in wenigen Monaten lernte er perfektes Katalanisch und machte sich bei Spielern und Fans des FC Barcelona sehr beliebt. Robson übertrug ihm weitere Aufgaben, unter anderem das Abhalten von Pressekonferenzen, das Planen von Trainings und die taktische Vorbereitung auf den nächsten Gegner.

Die Spielzeit 1996/97 verlief sehr erfolgreich, man wurde Vizemeister und gewann den spanischen Pokal, den spanischen Supercup und den Pokal der Pokalsieger. Luis Enrique sieht die damalige Mannschaft sogar als gleichwertig zum heutigen Barçateam und glaubt, man hätte damals auch die Champions League gewonnen. Diese großen Erfolge wurden mit einer spektakulären Spielweise erreicht und als Bobby Robson zum Sportdirektor befördert wurde, erhielt auch Mourinho seine Würdigung, als er offiziell Assistenztrainer wurde und an der Seite von Louis Van Gaal arbeiten durfte.

Abermals übernahm Mourinho das Training der defensiven Organisation, während sich Van Gaal um die Offensive kümmerte und der FC Barcelona wurde in den beiden folgenden Jahren Meister.

Van Gaal erkannte Mourinhos Talent und förderte ihn. Bei kleineren Pokalen wie dem Copa Catalunya, den man 2000 gewann, fungierte Mourinho als Trainer, Van Gaal als sein Assistent. Mourinho übernahm auch die zweite Mannschaft Barcelonas und arbeitete dort bis zu seinem Wechsel zu Benfica Lissabon im September 2000.

Mourinhos Anfangsjahre

Die Zeit bei Benfica fing im sportlichen Bereich gut an für Mourinho, doch es sollte verschiedene Streitigkeiten mit dem Präsidium geben. Der Präsident Benficas, João Vale e Azevedo, wollte ihm als Assistenztrainer Jesualdo Ferreira zur Seite stellen, was Mourinho aufgrund persönlicher Differenzen entschieden ablehnte und den ehemaligen Benfica-Verteidiger Carlos Mozer einstellte – einen Ex-Spieler zum Assistenztrainer zu ernennen, wurde fortan Tradition bei Mourinho.

Nach wenigen Wochen bot ihm Bobby Robson erneut eine Stelle als sein Assistenztrainer mit Aussicht auf seine Nachfolge bei Newcastle an, doch Mourinho lehnte ab, da er nicht glaubte, Robson würde in zwei Jahren für Mourinho Platz machen. Bis Dezember blieb Mourinho Trainer Benficas. Seine Kündigung kam nach einem Zwist mit dem neuen Präsidenten Manuel Vilarinho, der eine vorzeitige Vertragsverlängerung Mourinhos ablehnte. Das Gesuch nach einem neuen Vertrag war Mourinhos Antwort auf Gerüchte, dass der neue Präsident den ehemaligen Spieler Toni als neuen Coach installieren wollte – daraufhin trat Mourinho zurück und Jahre später bereute Vilarinho seine Entscheidung öffentlich.

Aufgrund des Mangels an Angeboten als Cheftrainer wechselte Mourinho im April 2001 zur grauen Maus der portugiesischen Liga, União de Leiria. In der Folgesaison führte er die Mannschaft aus dem unteren Tabellendrittel zu ihrer bis dato besten Vereinsplatzierung, als er mit einem flexiblen 4-4-2-System und Offensivfußball nach Vorbild Robsons und Van Gaals Tabellenfünfter wurde. Bereits im Sommer meldeten Vereine ihr Interesse an, doch bis nach der Winterpause der Saison 2001/02 blieb er Leiria treu, dann wechselte er zum FC Porto als Nachfolger Octávio Machados.

Mourinhos Aufstieg

Mit elf Siegen und zwei Unentschieden aus den letzten 15 Spielen wurde man noch Dritter und Mourinho durfte sich erstmals auf dem Transfermarkt beweisen – mit Nuno Valente, Derlei, Paulo Ferreira und Maniche kamen vier neue Stammspieler, die ersten beiden von Mourinhos ehemaligem Verein Leiria. Unter Mourinho modernisierte sich vieles beim FC Porto, die Webseite wurde aufgefrischt und mit vielen Berichten gefüllt, auch zur Trainingsgestaltung Mourinhos. Die Spielweise wurde dynamischer, Mourinho ließ mit einem sehr aggressiven Pressing und einer hohen Abwehrlinie spielen, was in einer Rekordsaison mündete – 86 Punkte (27 Siege und fünf Unentschieden bei insgesamt 34 Spielen) bedeuteten unglaubliche elf Punkte Vorsprung auf Benfica Lissabon, Mourinhos erster Trainerstation. In Pokalbewerben konnte man ebenfalls Erfolge feiern, der portugiesische Pokal und der UEFA-Cup wanderten nach Porto und machten das Triple perfekt.

Im folgenden Jahr gewann man den portugiesischen Supercup, verlor den europäischen jedoch gegen den AC Mailand. In der portugiesischen Liga knüpfte man an die letztjährigen Erfolge an, verlor nur einmal und wurde bereits fünf Runden vor Schluss Meister.

Das Rautensystem von Mourinho funktionierte hervorragend, mit Deco als Spielmacher, einem klassischen Sturmduo und zwei Box-to-Box-Mittelfeldspielern vor einem klassischen Sechser beherrschte man das Zentrum. Die ausdauernden und aggressiven Außenverteidiger beackerten die Seiten und sorgten für Unterstützung im Angriffsspiel. Die Flexibilität, das schnelle Umschalten und die hervorragende Abseitsfalle sorgten bei den portugiesischen Teams für Verzweiflung und auch international hatten die meisten Teams Probleme mit diesem System, einzig Real Madrid in der Gruppenphase konnte Porto eine Niederlage auf europäischen Gefilden zufügen.

Der Traum vom Triple wurde durch eine Pokalfinalniederlage gegen Benfica zerstört, doch nach zwei Defensivschlachten gegen Deportivo La Coruna gewann man mit einem Offensivspektakel mit 3:0 gegen den AS Monaco. Im Anschluss an diesen Erfolg machte Mourinho keinen Hehl daraus, nun einen anderen Verein übernehmen zu wollen und im Sommer gab es viele Angebote. Als aussichtsreichster Kandidat galt der FC Liverpool, zu dem sich Mourinho begeistert geäußert hatte, doch sie boten ihren Job Rafael Benítez an und Mourinho ging zu Chelsea, über welchen er sich zuvor noch sehr kritisch geäußert hatte.

Vom Provinztrainer zum Auserwählten

In seiner ersten Pressekonferenz bei Chelsea sorgte Mourinho für großes Aufsehen, als er sich als „etwas Besonderes“ bezeichnete und von den Medien zu seinem – bis heute populärsten – Spitznamen „The Special One“ kam. Mit Steve Clarkes Beförderung zum Assistenztrainer als Ergänzung zu seinem Trainerstab begann der Startschuss für zahlreiche, von Mourinho eingeleitete, Veränderungen im Verein. Chelsea-Eigentümer Roman Abramovich ließ Mourinho fast 100 Millionen € ausgeben und bekam bald den Lohn dafür – die erste Meisterschaft seit 50 Jahren und ein Sieg im Ligapokal gegen den FC Liverpool.

In der Folgesaison konnte man Mourinhos Handschrift am stärksten erkennen, als weitere Neuzugänge geholt wurden und die Mannschaft ein kompaktes Gebilde war, welches mit einer ausgeklügelten Taktik, hoher Körperkraft und individueller Stärke schwer zu besiegen war.

Essien und Lampard würden die Mitte übernehmen, Angriffe inszenieren und – insbesondere Lampard – oftmals selbst abschließen. Drogba erzielte zahlreiche Tore, öffnete Räume und an schlechten Tagen des Mittelfeldzentrums würden man eine Art Kick’n’Rush-Fußball mit weiten Bällen auf den körperlich starken Ivorer spielen. Joe Cole und Robben spielten zumeist als klassische Flügelstürmer, tauschten aber in den Spielen öfters die Flügel, um Löcher in die Abwehr zu reißen. Hinten würde Makélélé vor der Abwehr absichern und als Staubsauger fungieren, während R. Carvalho und Terry sich in der Innenverteidigung zwei beinharte Verteidiger rein auf die Defensivarbeit beschränkten. Flankiert wurden sie von einem defensiven und einem offensiven Außenverteidiger. Im Tor stand der tschechische Nationaltorhüter Petr Čech, den Mourinho aus Stade Rennes geholt hatte und der in der Saison 2004/05 zahlreiche Rekorde aufstellte, u.a. 1025 Minuten in Folge ohne Gegentor und die wenigsten Gegentore in einer Saison, nämlich 13 in 35 Spielen.

In der Saison 2005/06 konnte man den Community Shield und eine weitere Meisterschaft holen. Mourinhos wie Abramovichs großes Ziel, die Champions League, verpasste man aber bereits im Achtelfinale. Trotz Abwanderungsgerüchten um Mourinho, hauptsächlich aufgrund Abramovichs großer Freundschaft zu Sportdirektor Arnesen und seinem persönlichen Berater de Visser, wurde die Mannschaft mit Shevchenko, Ballack und Ashley Cole um drei weitere Weltklassespieler verstärkt.

Um von den Gerüchten um seine Person abzulenken, inszenierte Mourinho medial eine Kampagne, die er als „Jagd nach dem Quadruple“ bezeichnete. Sein Vorhaben war es in dieser Saison alle Titel zu gewinnen, doch trotz des FA- und Carling-Cup-Sieges scheiterte man spektakulär und mit viel Spott, als man in der Liga von Manchester United auf Platz 2 verwiesen wurde und in der Champions League dem FC Liverpool unterlag. Am 20. September 2007 verließ Mourinho Chelsea überraschend und nahm sich seine Auszeit vom Trainerjob. Erst im Sommer 2008 bekam er eine neue Trainerstelle: bei Inter Mailand.

Der Messias des Calcio

Von Beginn an konnte man Parallelen zu seiner Zeit bei Chelsea erkennen. Als neuen Assistenztrainer ernannte er Giuseppe Baresi, wie Steve Clarke ehemaliger Spieler des Vereins und vor der Beförderung Jugendtrainer. Auch hier sorgte seine Debütpressekonferenz für Aufsehen, als er in fließendem Italienisch vorstellig wurde und behauptete, er hätte die Sprache in drei Wochen gelernt.

Mit Mancini, Muntari und Quaresma wurden drei Spieler verpflichtet, die ihm eine Systemstellung zu einem 4-3-3 ermöglichen sollten, doch Mancini und Quaresma floppten. Mourinho wechselte auf eine 4-3-1-2-Taktik, welche  an seiner Portozeit orientiert war.

Ibrahimovic war der Freigeist im Sturm, der junge Balotelli kam über die Außen und wurde vom offensivstarken Maicon und von Zanetti unterstützt. Stankovic fungierte als defensivstarker Spielmacher, das Eigengewächs Santon und der Neuzugang Muntari sorgten für die Dynamik auf der linken Seite. Córdoba und Samuel bildeten mit Cambiasso das defensive Dreieck vor Julio Cesar. Die Mannschaft spielte einen sicheren Fußball aus der Defensive heraus und verließ sich hauptsächlich auf Starstürmer Ibrahimovic, national konnte man mit dem Supercup und dem Scudetto Erfolge feiern, doch in der Champions League schied man früh aus.

Mourinho baute seine Mannschaft abermals um, namhafte Spieler wanderten ab, welche Mourinho durch passendere Spieler ersetzte. Chefscout André Villas-Boas verließ seinen Trainerstab. Mit Thiago Motta und Diego Milito kamen aus Genoa zwei neue Stammspieler, im Winter stieß mit Pandev noch einer dazu. Wichtigere Verpflichtungen waren jedoch eher auf Zufall gegründet. Barcelona suchte nach einem neuen Stürmer, da Eto’o Probleme mit Trainer Pep Guardiola nachgesagt wurden und tauschte 70 Millionen € und den Kameruner für Zlatan Ibrahimovic. Wesley Sneijder wurde bei Real Madrid regelrecht hinaus geekelt und wurde für nur 15 Millionen € eine Stütze im Team von Mourinho. Auch der neue Abwehrchef Lúcio kam aufgrund von Problemen mit dem neuen Bayerntrainer Louis Van Gaal.

Zu Beginn der 2009/10-Saison blieb er seinem System aus dem Vorjahr weitgehend treu, als im Winter Pandev kam, wurde das System zu einem 4-2-3-1 umgestellt.

Wesley Sneijder genoss wie Diego Milito alle Freiheiten, während Pandev und Eto’o defensiv mithalfen. Maicon hatte eine Paradesaison, ebenso wie Zanetti und Cambiasso, die ihren x-ten Frühling erlebten. Diese Mannschaft war defensiv extrem stark aufgestellt und hatte in der Offensive hervorragende Individualisten. Nach einem holprigen Start (Niederlage im Supercoppa gegen die Roma) wurde Inter immer stärker, besiegte im Mailänder Derby den AC Mailand mit 4:0 und qualifizierte sich etwas überraschend für das CL-Viertelfinale, nachdem man Mourinhos Ex-Team Chelsea ausgeschaltet hatte.

Man schaltete ZSKA Moskau im Viertelfinale aus und traf im Halbfinale auf den FC Barcelona. In einer beispiellosen Vorstellung konnte man den großen Favoriten im Hinspiel mit 3:1 besiegen und nach einer roten Karte für Motta zu Beginn des Rückspiels wurde die Welt Zeuge eines Defensivfeuerwerks Mourinhos. Das ursprüngliche 4-5-1 wurde zu einem 4-1-3-1-0 umgewandelt und die Katalanen konnten trotz zahlenmäßiger und spielerischer (über 80% Ballbesitz) Überlegenheit nur ein Tor erzielen.

Die Abwehrreihe stand extrem tief und die Außenverteidiger platzierten sich an den Ecken des Sechzehnmeterraumes. Ziel dieser Taktik war es, die Außen aufzugeben, um das Zentrum dicht zu machen, was hervorragend gelang – das 0:1 bezeichnete Mourinho als die schönste Niederlage seines Lebens. Nach dem Schlusspfiff feierte der ehemalige Angestellte des FC Barcelona seinen Sieg frenetisch und zog sich den Unmut der Fußballwelt zu, welche seine Mannschaft als  „Antifußball“, „unwürdig“ und „nur auf Zerstörung aus“ bezeichnete.

Mit dem Erfolg im italienischen Pokal und einem neuerlichen Scudetto war das Triple perfekt und Mourinho trat auf dem Höhepunkt ab, als er nach dem CL-Sieg gegen seinen ehemaligen Lehrmeister Louis Van Gaal seinen Abgang zu Real Madrid verkündete. Die Bilder der weinenden Interisti und seiner Spieler (u.a. Marco Materazzi) gingen um die Welt – nicht nur für die Medien war er „The Special One“.

Ein besonderer Trainer für einen besonderen Verein

Wie in seinen vorhergehenden Vereinen war die Ernennung eines ehemaligen Spielers zum Assistenztrainer eine der ersten Amtshandlungen Mourinhos. Aitor Karanka wurde die Ehre zuteil und ironischerweise war jener wie Steve Clarke bei Chelsea und Giuseppe Baresi bei Inter ein ehemaliger Innenverteidiger. Reals Shoppingtour des Vorjahres wurde unter Mourinho nicht fortgesetzt, es kamen hauptsächliche Spieler mit viel Potenzial für kleines Geld.

Lange Zeit führend in der Primera Division schien es, dass Mourinho seinem persönlichen Intimfeind und Reals Erzfeind Barcelona einen Strich durch die Rechnung machen könnte, doch im ersten Clásico der Saison unterlag man im Camp Nou mit 0:5, was Ehrenpräsident Alfredo di Stefano dazu veranlasste, dieses Spiel als schlimmste Niederlage der Vereinsgeschichte zu deklarieren. José Mourinho ließ sich trotz medialer Kritik nicht aus seinem Konzept bringen, blieb Barcelona auf den Fersen, qualifizierte sich in der Champions League überzeigend für die KO-Phase und schaffte es zum erst zweiten Mal seit dem letzten CL-Sieg ins CL-Viertelfinale, wo man die Tottenham Hotspurs ausschaltete und im Halbfinale auf den FC Barcelona traf.

Da im Copa del Rey-Finale ebenfalls beide Teams standen und das Rückspiel in der Liga günstig lag, durfte sich ganz Spanien über vier Clásicos in drei Wochen freuen, welche Mourinho sehr defensiv begann. Das 1:1 im Santiago-Bernabeu war das Ende der Meisterschaftsträume für Real, doch das Copa-del-Rey-Finale konnte man in der Verlängerung knapp für sich entscheiden. Der Sieg im Copa-del-Rey-Finale zeigt eines deutlich: Mourinhos Matchplan war spielentscheidend.

Der Matchplan basierte auf drei Phasen:

  • erste Halbzeit: Zerstören des Spiels von Barcelona im Mittelfeld, wenn möglich das erste Tor erzielen
  • zweite Halbzeit: tiefstehen und kontern.
  • Verlängerung: Das Tiefstehen sorgte dafür, dass die Spieler Reals in der Verlängerung mehr Ausdauer hatten und wieder das aggressive Mittelfeldpressing nutzen konnten.

Das Ziel und die Umsetzung seiner Taktik war sehr komplex, er versuchte auch Messi und Xavi voneinander und von Iniesta zu isolieren, um den Spielfluss der Katalanen zu zerstören, was in der ersten Halbzeit gelang. In der zweiten Halbzeit musste Pep Guardiola nun sein erfolgreiches System ändern, um mit Mourinho in eine Patt-Stellung zu kommen, doch trotzdem bekam Real kein Gegentor und gewann letztlich in der Verlängerung. Dieser Matchplan führte zum Sieg und wurde chronologisch leicht abgeändert und angepasst an die Begebenheiten des CL-Hinspiels auch im nächsten Spiel gegen die Katalanen genutzt. Einzig die rote Karte, so nach Meinung Mourinhos, verhinderte einen neuerlichen Sieg Reals.

Doch trotz seiner Kritik an der Schauspielerei der Spieler des FC Barcelona, am Schiedsrichter und der UEFA hatten die Medien ein anderes Opfer gefunden – Mourinho selbst. Die Kritik an ihm war ähnlich wie vor einem Jahr, seine Mannschaft spiele destruktiven Fußball, der dem Fußball schade.

Dazu sei angemerkt, dass Mourinho in dieser Saison ein offensives 4-3-3 spielen ließ und mehr Tore als der Erzrivale aus Barcelona erzielte (102 zu 95).

Khedira als box-to-box-player und Xabi Alonso als deeplying-playmaker sorgte für den Spielaufbau und das Grundgerüst dieser großartigen Mannschaft. In der Offensive beackerte Di María die rechte Seite und wurde von Sergio Ramos unterstützt, das Prunkstück war jedoch die linke Seite. Der offensive Marcelo, unter Mourinho erst zum Stammspieler geworden, sorgte mit Cristiano Ronaldo und Mesut Özil für andauernde Gefahr über die linke Seite. Nach der Verletzung Higuains spielten Adebayor und Benzema abwechselnd als Sturmspitze, abhängig vom Gegner. Die Portugiesen Ricardo Carvalho und Pepé bildeten die Innenverteidigung vor Welttorhüter und Kapitän Iker Casillas.

Im Frühjahr wurden Gerüchte laut, Mourinho wollte Real aufgrund Sportdirektor Valdano und den kritischen Medien verlassen, doch Präsident Florentino Pérez dementierte dies. Die Gerüchte erübrigten sich, als Valdano im Sommer entlassen wurde und Zinédine Zidane dessen Nachfolger wurde und mit Nuri Şahin, Hamit Altintop und José Callejón ging man den Weg preiswerter und systemkompatibler Neuverpflichtungen weiter. Für die Zukunft wurde das Riesentalent und Innenverteidiger Raphaël Varane geholt.

Was macht Mourinho so besonders?

José Mourinho gilt als einer der komplettesten Fußballtrainer der Welt. Er machte aus unbekannten Spielern Stars, brachte sie zu konstant starken Leistungen und gewann Titel um Titel. Seine größten Stärken liegen jedoch im Bereich der Mannschaftsführung und Motivation, er verbindet moderne Managementstile und Motivationstheorien, um aus seiner Mannschaft das Maximum zu holen. Loyalität und Ehrlichkeit machen ihn bei seinen Spielern beliebt, außerdem stellt er sich bei jeder Möglichkeit demonstrativ vor sie, sei es beim Vorstand, vor den eigenen Fans oder den Medien. Systematisch nimmt Mourinho die Verantwortung auf sich, stärkt seinen Spielern den Rücken und lenkt die mediale Aufmerksamkeit auf sich. Mourinhos Psychospielchen und über die Presse geführten Auseinandersetzungen sind bereits legendär. Nicht umsonst sagte Everton-Coach David Moyes: „Mourinho hat den Trainerjob sexy gemacht“ und zahlreiche Fans stimmen ihm zu – Mourinhos Auftreten weicht von sämtlichen Trainer ab, er ist kantig und provokativ, stellt seine Eloquenz immer in den Dienst der Mannschaft.

Trotz wiederholter Kritik aufgrund Unsportlichkeit zieht Mourinho sämtliche Register:
Bei Inter Mailand ließ er im Winter seine Mannschaft nach der Halbzeitpause solange in der Kabine, bis die Gegner bereits froren. Bei Chelsea beleidigte er Arsené Wenger als Voyeur, bei Real Madrid seinen Vorgänger Pellegrini und seinen Sportdirektor Valdano. Nach der Niederlage gegen den FC Barcelona unterstellte er der UEFA und den Schiedsrichtern Parteilichkeit und Betrug – ein Skandal; doch über die schlechte Leistung seiner Mannschaft redete niemand mehr.

José Mourinhos legt Woche für Woche, in jeder Pressekonferenz, eine Show hin. Pro Monat gibt es über 20 Artikel mit direktem oder indirektem Bezug auf Mourinho im Onlineportal des Guardian – auch Jahre nach seinem Abschied aus London. Seine Spieler danken ihm für diesen Schutz. Sie sind weitgehend aus der Schusslinie der Medien und können sich auf das nächste Spiel konzentrieren. Auch dafür lieben ihn seine Spieler. Materazzi und Drogba weinten um ihn, Ballack und Khedira nennen ihn den besten Trainer der Welt und für Ricardo Carvalho ist es eine fußballerische Liebesgeschichte. Der Verteidiger folgte seinem Landsmann bereits zu drei Vereinen.

Mourinho profitiert ebenfalls von dieser „Alle-gegen-uns“-Stimmung, die er entfacht. Er nutzt sie geschickt, um seinen Spielern eine Siegermentalität zu verpassen, eine Motivation, um jedes Spiel gewinnen zu wollen. Ihnen wird eingeredet, dass man nie nur gegen den nächsten Gegner spielt, sondern immer gegen die ganze Welt, die nur auf einen Ausrutscher wartet. Für seine Spieler wandert Mourinho demonstrativ durchs Feuer, seine Spieler folgen ihm auf dem Platz, sie gewinnen mit ihrer überlegenen Mentalität und Psyche – nicht umsonst sind Mourinho-Teams zumeist die einzigen, die überlegenen Mannschaften wie Barcelona Paroli bieten können. Mourinho:  „Im Fußball hat der Trainer eine einzigartige Rolle, hier ist er der beste Psychologe.“

Sein Selbstbewusstsein ist jedoch nicht nur gespielt, tatsächlich ist er sehr von sich überzeugt. Laut Mourinho könnte nur George Clooney ihn selbst in einer Verfilmung seines Lebens adäquat verkörpern. Als Nationaltrainer zu arbeiten lehnt er ab, das sei zu langweilig und zu einfach. Über seine Streitereien mit anderen Vereinen sagt er: „auch Jesus wurde nicht von allen geliebt.“

Nicht nur im Presseverhalten ist er ein Vorreiter, auch taktisch gilt er als eine Koryphäe. Seine Mannschaften spielen seit seiner Chelsea-Zeit sehr ähnlich, mit einer massierten und sattelfesten Defensive, die Umschaltmomente und die Unordnung der Gegner dynamisch nutzt. Jedes Spiel wird exakt vorbereitet, seine Spieler bekommen DVDs mit Gegneranalysen, exakte taktische Vorgaben und detaillierte Planung des Trainings. Dicke Ordner zu jedem Team der Welt kann man bei Mourinho finden, alle werden sie Woche für Woche umgesetzt, um seiner Mannschaft die größtmögliche Chance für Triumphe zu bieten; seine Defensivschlachten gegen Barcelona wird kaum ein Fußballfan je vergessen.

Im Training konzentriert er sich zumeist auf den taktischen und den psychologischen Aspekt des Spiels, viel Spiel mit Ball, Unterzahlspiele und Pressingformen sorgen für das Grundgerüst Mourinhos Arbeit. „Wenn jeder einzelne Spieler klare Anweisungen bekommt, was er zu tun hat, ist in seinem Kopf gar kein Platz mehr für andere Gedanken. Die Taktik, das System, die Gegenspieler, die Spielzüge, das ist das Thema. Alles andere ist total unwichtig“, sagt DFB-Sportpsychologe Werner Mickler und man könnte glauben, es spricht Mourinho aus ihm – dessen Erfolge geben dieser Meinung Recht. 16 Titel in zehn Jahren, zwei CL-Siege und der Ruf als weltbester Trainer eilen ihm voraus.

Neun Jahre lang war er in Liga-Heimspielen unbesiegt, erst 2011 konnte ihn wieder jemand besiegen, nachdem Mourinho noch mit Porto zuletzt gegen Beira-Mar verlor. Trainer wie Prandelli, Ranieri, Wenger, Ferguson, Benitez und viele andere scheiterten über all diese Jahre. 150 Spiele, 125 Siege und 25 Unentschieden lang war man unbesiegt, die erste Niederlage gegen Beira-Mar war zu neunt. Die zweite Niederlage setzte es Sporting de Gijón, als jene in der 90sten Minute mit ihrem ersten Torschuss den Siegtreffer erzielten – zuvor war Real ein reguläres Tor aberkannt worden. Nach dem Spiel klopfte es an der Tür und Mourinho gratulierte seinem Gegenüber Manuel Preciado zu diesem Sieg.

Eine sportliche Geste eines unfairen Sportsmannes.

Jürgen Klopp – Der Menschenfänger

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Emotional, authentisch und sympathisch. Das ist Jürgen Klopp, Meistertrainer der Überraschungsmannschaft aus Dortmund, die heute Abend um 20.30 Uhr gegen den Hamburger SV die Bundesligasaison 2011/12 eröffnen wird. Zum Start in die neue Spielzeit gibt es nun ein Porträt des aktuell gefragtesten deutschen Fußballlehrers.

Wie der Vater so der Sohn

Wie bei jeder Fußballerkarriere beginnt auch die Geschichte des Jürgen Klopp zunächst mit einem sportbegeisterten und auch durchaus begabten Kind. Und wie man es so häufig hört, war auch bei Jürgen Klopp sein Vater Norbert Klopp ausschlaggebend für seine Begeisterung für den Sport. Die Faszination beschränkte sich bei Klopp lange Zeit nicht nur auf das runde Leder, vielmehr brachte ihm sein Vater sämtliche Sportarten bei. Besonders begabt war Klopp nach verschiedenen Aussagen im Tennis, doch der junge Jürgen entschied sich irgendwann gegen den Einzelsport und für den Mannschaftssport Fußball.

Seinem Vater hatte Klopp seinen enormen Ehrgeiz zu verdanken. Erbarmungslos sei er gewesen im Wettbewerb gegen ihn, sagte Klopp einmal. Eine Anekdote erzählt, wie der Vater den Sohn im Tennis mit 6:0, 6:0 besiegte. Daraufhin beschwerte sich Jürgen lautstark: „Meinst du, mir macht das Spaß so?“ Vater Norbert konterte: „Meinst du, mir macht das Spaß?“

Jürgen Klopp sagte einmal, er habe zuerst eine riesige Wut auf seinen Vater entwickelt, die sich dann schließlich zu einem unbändigem Siegeswillen entwickelt habe. Auch als er längst gegen Gleichaltrige antrat, bewahrte sich Jürgen diesen Siegeswillen, der ihn als Spieler viel weiter brachte als es seine fußballerischen Fähigkeiten normalerweise zugelassen hätten.

Der lange Weg nach Mainz

Der am 16. Juni 1967 geborene Klopp trat im Jahre 1972 seinem ersten Verein bei, dem SV Glatten. Dem Amateurverein hielt er insgesamt 11 Jahre, bis 1983, die Treue. Dann wechselte er zum TuS Ergenzingen, wo er seine restlichen drei Jahre als Jugendspieler sowie sein erstes Halbjahr als Seniorenspieler verbrachte. Schon im Juli 1986, in seinem ersten Jahr bei den Herren, hatte Klopp auf sich aufmerksam gemacht, als er in einem Freundschaftsspiel gegen Eintracht Frankfurt den Ehrentreffer zum 1:9 erzielte und eine herausragende Leistung zeigte.

Daraufhin stand er in den Notizbüchern der großen Frankfurter Eintracht. Im Winter jedoch wechselte er zunächst zum 1. FC Pforzheim. Der Oberligist überreichte den Verantwortlichen der TuS die ausgehandelte Ablösesumme von 12.000 DM bar in einer Autobahnraststätte.

Zur Saison 1987/88 wechselte Klopp dann schließlich zur Eintracht, jedoch „nur“ in die Reservemannschaft. Der große Durchbruch blieb Klopp auch in Frankfurt verwährt, sodass er nach einem Jahr erneut den Verein wechselte und bei Viktoria Sindlingen anheuerte. Nach erneut einer Spielzeit schloss sich der trotz seiner zahlreichen Wechsel erst 22-Jährige Jürgen Rot-Weiss Frankfurt an. In der Spielzeit 1989/90 erreichte er mit diesen die Aufstiegsrelegation für die 2. Liga. Doch statt den Frankfurtern stieg ein anderer Verein in die zweithöchste Spielklasse auf, der 1. FSV Mainz 05. Obwohl mit dem eigenen Verein nicht erfolgreich, gelang Klopp der persönliche Aufstieg durch einen Wechsel zum vorherigen Konkurrenten, sodass er ab der Saison 1990/91 für die Mainzer stürmte.

In den elf Jahren als Spieler für den Fußballsportverein bestritt Klopp insgesamt 340 Pflichtspiele, dazu erzielte er in der 2. Liga 52 Tore für die 05er.  In beiden Kategorien war er Rekordhalter, als Rekordspieler wurde er von Torhüter Dimo Wache abgelöst, Rekordtorschütze ist inzwischen Sven Demandt mit 55 Toren.

Die Einführung der Raumdeckung

Entscheidend geprägt wurde Klopp wie der gesamte Verein von einem heute fast gänzlich vergessenen Trainer: Wolfgang Frank. Dieser kam in der Saison 1995/96 nach acht Spielen, aus denen die Mainzer einen einzigen Punkt geholt hatten und ein Torverhältnis von 0:14 vorweisen konnten. Er führte als erster in Deutschland die Raumdeckung ein und verschaffte den 05ern dadurch einen riesigen Wettbewerbsvorteil. Mainz wurde zum besten Rückrundenteam, schaffte schlussendlich den nicht mehr für möglich gehaltenen Klassenerhalt und war in der Abschlusstabelle auf dem 11. Tabellenrang zu finden.

In der Folgesaison war der Abstiegskandidat Mainz 05 urplötzlich zum Aufstiegskandidaten geworden. Am Ende der Saison stand der 4. Tabellenplatz, sodass der Aufstieg denkbar knapp verpasst wurde. In den Folgejahren war der FSV zwar nicht mehr direkt am Aufstiegsrennen beteiligt, doch zumindest war man auch nicht mehr der Abstiegskandidat von früher.

Als die 05er in der Saison 2000/01 erneut tief im Tabellenkeller feststeckten, wurde der damals verletzte Klopp an Fastnacht als Nachfolger für den entlassenen Eckhard Krautzun berufen. Mit dieser sehr ungewöhnlichen Aktion bewies der damals noch ehrenamtlich arbeitende Manager Christian Heidel großen Mut, im Nachhinein aber auch eine große Voraussicht. Klopps Team legte einen beeindruckenden Schlussspurt hin und schaffte schließlich den Klassenerhalt.

Aufstiegsdramen und Abschiedstränen

In den folgenden Jahren schwang sich der FSV unter Klopp zu unvermuteten Höchstleistungen auf, doch selbst 64 Punkte reichten in der Saison 2001/02 nicht zum Bundesligaaufstieg. Im Folgejahr war es noch knapper, am Ende fehlte ein Tor gegenüber der Frankfurter Eintracht zum Aufstieg. Dennoch sammelten die mutig auftretenden Mainzer bundesweit Sympathien, gerade auch durch die bitteren Erfahrungen im Aufstiegskampf.

In der Saison 2003/04 sollte es dann endlich mit dem Aufstieg in die 1. Bundesliga klappen. Wieder war es denkbar eng, erst am letzten Spieltag konnten die 05er Alemannia Aachen überholen und den lang ersehnten Aufstieg feiern.

In der Bundesliga angekommen galten die Mainzer sofort als Abstiegskandidat, doch in den ersten beiden Jahren konnte der Verein einen jeweils überzeugenden elften Rang vorweisen. Zur dritten Erstligasaison 2006/07 hatte der FSV namhafte Abgänge zu verkraften und trotz einer großen Aufholjagd in der Rückrunde stand am Ende der bittere Gang in die Zweitklassigkeit. Schon zu Beginn der neuen Saison 2007/08 gab es Gerüchte, dass Klopp seinen Vertrag in Mainz nicht verlängern wolle. Schließlich verkündete Kloppo „seinen“ Fans, dass er bei Nichtaufstieg den Verein endgültig verlasse. Trotz einer überzeugenden Hinrunde wurde der Aufstieg, erneut äußerst knapp verpasst, sodass Jürgen Klopp nach insgesamt 18 Jahren als Spieler und Trainer die Domstadt verließ, um Borussia Dortmund zu trainieren. Circa 15.000 Fans bereiteten ihrem Idol einen unvergesslichen Abschied, bei dem sich der Trainer tränenreich von seinen Freunden und Fans verabschiedete.

Klopp und der BVB – Neu verliebt

Mit der ersten Pressekonferenz in Dortmund hatten Fans wie Verantwortliche gleich das Gefühl, in dem authentischen Klopp genau den richtigen Trainertypen in Zeiten von Sparzwängen und Konsolidierung verpflichtet zu haben. Ganz im Gegensatz zum Hamburger SV, wo der Aufsichtsrat den Vorschlag des damaligen Vorstandsvorsitzen Bernd Hoffmann, Klopp als neuen Cheftrainer zu installieren, aufgrund seines „äußeren Erscheinungsbilds“ verwarf. In Dortmund dagegen machte man sich nichts aus dem „Acht-Tage-Bart“, den langen Haaren und dem emotionalen Auftreten Klopps, mit seinem Äußeren passte Klopp vielmehr sehr gut nach Westfalen.

In der ersten Saison unter Klopp erreichten die Borussen einen ordentlichen 6. Tabellenplatz, der jedoch nicht zur Teilnahme an der Europa League berechtigte. Dennoch überzeugte die mit dem „Kinderriegel“ (bezogen auf die Innenverteidigung, bestehend aus den beiden damals 19-Jährigen Mats Hummels und Neven Subotić) agierende Mannschaft durch ihren erfrischenden Fußball und vor allem durch ihre große Laufbereitschaft. Klopp versuchte anfangs, die allgemeine Laufleistung durch Belohnungen zu steigern. So versprach er dem Team bei insgesamt 120 zurückgelegten Kilometern einen trainingsfreien Tag als Belohnung.

In Klopps zweiten Jahr stürmten seine Spieler auf den fünften Tabellenrang vor, nachdem man sich lange Zeit durchaus berechtigte Hoffnungen auf einen Champions-League-Startplatz machen durfte. Im Vergleich zur Vorsaison hatte sich das Team stark weiterentwickelt, vor allem im Spiel gegen den Ball agierten die Dortmunder nun reifer. Kritiker warfen der Borussia jedoch vor, nach dem Ballgewinn keine Idee zu haben, was mit dem Ball anzufangen sei. Und tatsächlich hatte sich Klopp in seinen ersten beiden Jahren anscheinend vordergründig um die Verbesserung der Defensivleistung gekümmert.

Gerade durch die Einführung eines neuen Defensivkonzepts, dass das heute so BVB-typische Gegenpressing direkt nach Ballverlust vorsah, konnte Klopp seine Mannschaft entscheidend stabilisieren. Doch durch die häufig zu leichtfertigen Ballverluste war man zu schnell wieder defensiv gefordert, sodass am Ende der Saison trotz eigentlich überzeugender Defensivleistungen unbefriedigende 42 Gegentore standen.

Für Klopp war vor der Saison 2010/11 klar, dass diese hohe Anzahl an Gegentoren relativ wenig mit der tatsächlichen Defensivleistung zutun hatten. Stattdessen beschloss er, die Vorbereitung vor allem dafür zu nutzen, neben der schon obligatorischen außergewöhnlichen Fitness vor allem auf das Ballbesitzspiel zu legen.

Und so entwickelte das Trainerteam Spielideen, Strategien zum effektiven Aufbauspiel und verpasste dem BVB ein Offensivkonzept, welches perfekt zur aggressiven Ballrückgewinnungsstrategie passen sollte: Schnelles vertikales Spiel nach Ballgewinn in Mittelfeld oder Angriff, ruhiger Spielaufbau über die Innenverteidiger sowie Sahin gegen tief stehende Gegner. Gerade das vertikale Spiel perfektionierte die Borussia in der abgelaufenen Spielzeit, die offensive Dreierreihe im 4-2-3-1-System tat sich hier entscheidend hervor, schob sehr weit in die Mitte und schaffte hier Anspielstationen für die Aufbauspieler, sodass die im Laufe der Saison immer kompakter spielenden Gegner in den meisten Fällen ausgehebelt werden konnten. Eine detaillierte Analyse der Taktik des BVB in der abgelaufenen Spielzeit liefert Tim Hill auf seinem Blog.

In der Hinrunde war das Offensivspiel der Dortmunder geprägt durch den Japaner Kagawa. Dieser agierte aus dem zentralen offensiven Mittelfeld extrem torgefährlich, stieß immer wieder in die Spitze vor und überzeugte generell vor allem durch sien Spiel ohne Ball, das die gegnerische Defensive in Bewegung hielt und so immer wieder Lücken für die Mitspieler schuf.

Durch die Verletzung Kagawas war Klopp gezwungen sein System zur Rückrunde umzustellen. In den meisten Partien beorderte er den überzeugenden Youngster Götze auf die Spielmacherposition und brachte dafür Błaszczykowski auf der rechten Seite. Götze interpretierte die Position im offensiven Mittelfeld mehr wie ein klassischer Spielmacher, er war Dreh- und Angelpunkt des Offensivspiels und setzte seine Mitspieler gekonnt in Szene.

Der Pole „Kuba“ spielte ebenfalls anders auf rechts als Götze in der Hinrunde, er war mehr ein klassischer Flügelspieler, nutzte immer wieder seine Schnelligkeit um auf rechts durchzubrechen und Flanken in die Mitte zu schlagen. Dafür spielte Piszczek häufig etwas zentraler und nicht mehr so sehr an der Außenlinie wie normalerweise üblich für Außenverteidiger. Weil Götze anders als Kagawa seltener in die Spitze stieß war es Kevin Großkreutz, der von links immer wieder in den Strafraum lief um die jetzt häufigeren Flanken gemeinsam mit Barrios zu verwerten.

Mit der verbesserten Spielweise dominierte der BVB die gesamte Spielzeit klar. Die extrem junge Mannschaft, in der nur Torhüter Weidenfeller älter als 26 Jahre war, setzte sich schnell von der Konkurrenz ab und ließ sich auch durch die verbalen Attacken aus München nicht verunsichern. Die offiziell nie als Ziel ausgegebene Meisterschaft konnte schließlich schon am 32. Spieltag gefeiert werden, am Ende der Saison standen für die Borussia 75 Punkte bei lediglich 22 Gegentoren.

Die Beziehung zwischen Borussia Dortmund und Jürgen Klopp, sie wurde zu einer Liebesgeschichte. Nach 18 Jahren in Mainz wäre es als unwahrscheinlich einzustufen gewesen, dass Klopp schon nach drei Jahren in Dortmund sagen würde, er habe sich „neu verliebt“. Diese emotionale Verbindung zu seinen Vereinen, ist die größte Stärke Klopps, der sich dadurch extrem angreifbar und damit auch menschlich zeigt, und genau dadurch an Stärke gewinnt. Ein BVB ohne Klopp, scheint schon jetzt ähnlich unvorstellbar wie 2008 ein Mainz ohne seinen Kloppo, doch auch in Dortmund wird der Fanliebling nicht ewig die Seitenlinie entlang toben.

Eine besondere Beziehung

Die Entwicklung der Mannschaft ist jedoch nicht Klopp allein, sondern dem gesamten Trainerstab als Erfolg zuzuschreiben. Dabei sticht  ein Mann heraus, der Klopp schon seine gesamte Trainerkarriere begleitet: Željko Buvač. Zusammen mit Klopp spielte er beim FSV, gemeinsam lenkten sie das Geschehen auf dem Rasen. Zwei Seelenverwandte, die sich versprachen, den jeweils anderen mitzunehmen, sollte einer von ihnen eines Tages Profitrainer werden. Früher als gedacht wurde Klopp dann bekanntlich Cheftrainer in Mainz, und umgehend löste er sein Versprechen ein. In der Folgezeit blieb Buvač stets der Schattenmann, der Analytiker im Hintergrund. Ihm kommt wohl eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der Spielphilosophie Klopps zu. Auf dem Trainingsplatz agieren Chef- und Co-Trainer gleichberechtigt, der Bosnier unterbricht häufig und erklärt den Spielern taktische Fehler, während Klopp eher aus der Beobachterrolle agiert.

Zudem stand noch bis 2004 Buvačs Name auf den Spielberichtsbögen, da Klopp bis dahin lediglich die A-Lizenz besessen hatte. Co-Trainer Buvač hat sich in all den Jahren niemals in die Öffentlichkeit gedrängt, er lehnt Interviewanfragen höflich ab. Er fühlt sich ganz anscheinend wohl in seiner Rolle jenseits des öffentlichen Interesses, doch mitten im Profifußball.

Die wenigen Aussagen über Klopps Rechte Hand sind durchweg positiv, in Mainz bedauerte man seinen Weggang zwar, hatte jedoch nie auf einen Verbleib bei einem Weggang Klopps gehofft. Doch jeder seiner Wegbegleiter schwärmt von Buvač, laut Klopp der „Fleisch gewordener Fußballsachverstand und Meister aller Trainingsformen“. Ein ausführliches Porträt widmete das Internetportal Spox dem zweifachen Familienvater.

Der Menschenfänger

Will man verstehen, warum der limitierte Fußballer Klopp zu einem derart erfolgreichen und gefragten Trainer geworden ist, gelangt man früher oder später zwangsläufig zu seinem Umgang mit den Menschen in seiner Umgebung. Für Klopp sind gute und vertrauensvolle Beziehungen zu den Mitarbeitern des Vereins – und damit sind ausdrücklich nicht nur die Spieler gemeint – die Grundlage seiner Arbeitsweise.

Er kann sich fürchterlich aufregen, wenn einer seine Spieler respektlos gegenüber einem Mitarbeiter der Geschäftsstelle auftritt, er selbst sagte einmal, dass er in Mainz „mit allen Spielern bis zur U17 per Du“ sei. Auch außerhalb seines natürlichen Aufgabenfeldes war und ist der Cheftrainer immer wieder aktiv. Zu Mainzer Zeiten war Klopp „Mädchen für alles“, er kümmerte sich um Ausweichplätze im Winter und war bei Sponsorengesprächen häufig anwesend. Auch in Dortmund ruft er am Ende des Tages häufig noch einen zögernden Sponsor an und überzeugt diesen von einem Engagement beim BVB.

Zudem interessiert sich Klopp bemerkenswert intensiv für die Amateur- und Jugendmannschaften des Vereins, beobachtet samstags häufig Spiele der Junioren und schaut auch hin und wieder in der Kabine vorbei. Dadurch gibt er den Jugendspielern das Gefühl gesehen und beachtet zu werden. Zudem lebt er die Verzahnung von Jugend und Profis vor, lässt herausragende Spieler mittrainieren und zeigt ihnen damit eine realistische Perspektive im Verein auf.

Im Umgang mit der Mannschaft ist Klopp autoritärer als gemeinhin angenommen. Seine wohl größte Fähigkeit ist es, mit dem verschiedenen Persönlichkeiten unterschiedlich umzugehen. So bekommt ein Mohamed Zidan eine andere Behandlung als bspw. ein Sebastian Kehl. Klopp schafft es augenscheinlich gut, den einzelnen Typen gerecht zu werden, er findet meist den richtigen Ton im Umgang mit den Spielern und weckt in den Spielern dieselbe Motivation und Begeisterung für ihren Beruf, die auch ihn antreibt.

Treffend beschrieben wurde Klopps Art der Menschenführung wohl von BVB-Geschäftsführer Watzke, als er sagte: „So einen Menschenfänger habe ich noch nicht kennen gelernt.“

Klopp und die Medien

Neben der sozialen Kompetenz zeichnet Klopp aus, dass er sich zu einem wahren Medienprofi entwickelt hat. Seine natürliche Art kam schon immer gut in der Öffentlichkeit an, ebenso seine häufig ungezügelten Emotionen. In ganz Deutschland bekannt wurde Klopp durch seine Tätigkeit als „TV-Bundestrainer“ beim ZDF. Für das Zweite analysierte er gemeinsam mit Johannes B. Kerner und Urs Meier zunächst den Confederations Cup 2005 und im Jahr darauf die WM 2006 in Deutschland.

In den Sendungen vor und nach den Spielen sowie in den Halbzeitpausen verblüffte er die Zuschauer mit kurzen Taktik- und Fehleranalysen. Am elektronischen „Taktik-Tisch“ veranschaulichte er Fehler im Aufbauspiel der Argentinier oder das unzureichende Defensivverhalten der Schweden. Die besondere Stärke seiner Analysen lag in der allgemeinen Verständlichkeit. Ganz Deutschland war von der Aufmachung begeistert, sodass Klopp auch die Spiele der EM 2008 analysierte und anschließend die WM 2010 auf RTL gemeinsam mit Günther Jauch. Seit 2006 ist Klopp damit bundesweit als Taktikexperte anerkannt, was für einen aufstrebenden Trainer nur hilfreich sein kann.

Die Sendungen mit Klopp erhielten 2006 und 2010 den Deutschen Fernsehpreis, zudem wurde er 2007, 2009 und 2011 mit dem alle zwei Jahre vergebenen HERBERT-Award als „Bester Sportexperte“ ausgezeichnet.

Doch seine Tätigkeit rund um die Nationalmannschaft hatte nicht nur positive Seiten. Als Klopp mit Mainz in der Saison nach der Heim-WM tief im Abstiegskampf steckte, musste er deutschlandweit gehässige Kommentare gerade auch aus den Medien ertragen.

Doch insgesamt ist die Beziehung zwischen Klopp und den Medien eine Win-Win-Situation, Klopp liefert den Zeitungen und dem Fernsehen interessantes und teils auch sehr amüsantes Material, im Gegenzug ist die Berichterstattung über Klopp und seine Arbeitsweise fast durchgehend positiv. Besonders seine gehaltvollen und ausführlichen Antworten machen ihn zu einem gefragt Interviewpartner der Print- und Onlinemedien,

Fazit

Auch durch seine kluge Nutzung der Medien ist Klopp heute der wohl beliebteste Trainer Deutschlands. Sein Umgang mit Spielern, Mitarbeitern und Fans ist in dieser Form wohl einmalig, schon nach drei Jahren ist er aus Dortmund nicht mehr wegzudenken. Doch auch taktisch hat Klopp in Dortmund sein Meisterstück abgeliefert und eine Mannschaft aufgebaut, die – sollte sie zu großen Teilen zusammenbleiben – den Bayern über einen langen Zeitraum ernsthaft Konkurrenz machen kann.

Aus Klopps Zeit in Dortmund lässt sich noch eine wichtige Erkenntnis gewinnen: Gibt man einem wirklich guten Fußballlehrer die Zeit, ein Team aus jungen, formbaren Spielern über einen Zeitraum von mehreren Jahren ohne größeren Druck von außen zu entwickeln, kann mitunter eine Mannschaft wie die derzeitige des BVB entstehen, die trotz finanziellen Nachteilen gegenüber den anderen Spitzenvereinen sportlich konkurrenzfähig ist und die bei Zusammenbleiben der Schlüsselspieler dauerhaft um die Meisterschaft mitspielen kann.

So wird auch in der kommenden Saison mit dem BVB im Meisterschaftsrennen zu rechnen sein, gespannt sein darf man auf das Auftreten der jungen Mannschaft in der Champions-League.

Robin Dutt – Von der Bezirksliga in die Champions League

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Robin Dutt fing seine Trainerkarriere in der Verbandsliga Baden-Württembergs an. Rund 15 Jahre später steht er bald bei Champions League-Spielen am Rand. Das Porträt eines Aufsteigers.

Anfänge einer Karriere

Noch vor rund 15 Jahren war die Profiwelt des Fußballs eine unzugängliche Parallelwelt. Nahezu alle Trainer und Manager, die den Spielfeldrand der Bundesliga bevölkerten, waren ehemalige Profispieler. Quereinsteiger gab es in diesem abgeschotteten Geschäft kaum. Heutzutage hat sich der Fußball für Spezialisten geöffnet, und so sind gerade die Scouting-Abteilungen der Ligen voll mit Leuten, die nie als Profis gespielt haben.

Auf der Trainerposition ist das immer noch eine Ausnahme, auch zwanzig Jahre nach Arrigo Sacchis (Erfolgstrainer des AC Milan Ende der 80er/Anfang der 90er) Ausspruch: „Ein guter Trainer muss kein guter Spieler gewesen sein – genauso wenig wie ein guter Jockey ein Pferd gewesen sein muss.“ Eine der großen Ausnahmen in dieser Hinsicht ist Robin Dutt, der in seiner aktiven Zeit nie weiter als in die Verbandsliga kam. Trotzdem war Fußball immer die größte Leidenschaft des jungen Industriekaufmannes. Obwohl seine fußballerischen Fähigkeiten stark limitiert waren, hatte er immer den Wunsch, sein Hobby zum Beruf zu machen.

Seine Karriere begann unscheinbar: Nachdem der Sohn indischer Einwanderer in jungen Jahren von Köln nach Baden-Württemberg zog, tingelte er dort als Stürmer in Jugend- und Amateurmannschaften von Kleinstadtverein zu Kleinstadtverein. Er selbst sagt im Nachhinein, dass ihm die Schnelligkeit fehlte, um als Stürmer für höhere Weihen bestellt zu sein. Seine Defizite in diesem Bereich musste er ausgleichen, indem er mehr auf seine Positionierung achtete. Er entwickelte als Aktiver eine vergleichsweise hohe Spielintelligenz, um trotz seiner körperlichen Nachteile in den höheren Amateurklassen mithalten zu können.

Schon damals achtete er auf die taktischen Details innerhalb eines Spiels. Kein Wunder also, dass der Wechsel vom Feldspieler zum Trainer nahezu nahtlos verlief. Im Alter von 33 fing er als Spielertrainer beim TSG Leonberg an. Nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn wurde er Coach des TSF Ditzingen, bei dem er schnell vom Betreuer der Nachwuchsmannschaft zum Cheftrainer des Oberliga-Teams aufstieg  (wer mehr über diese Zeit erfahren möchte, dem sei der Kommentar von unserem User Stepi ans Herz gelegt).

Die südwestdeutsche Trainergilde

Eine Spielerkarriere in der Bezirks- und Verbandsliga und ein Posten bei einem wenig ambitionierten Oberligisten – das klingt nicht gerade nach einem idealen Start für eine Trainerkarriere. Robin Dutt zeichnete sich jedoch immer durch extremen Fleiß aus. Für ihn war klar, dass er eines Tages sein Hobby zum Beruf machen wollte. Dementsprechend arbeitete er immer ein bisschen mehr als seine Kollegen. Seine Freizeit neben dem Beruf widmete er ganz dem Trainerjob. Er las viele Fachzeitschriften und versuchte, aktuelle Trends in sein Training mitaufzunehmen.

Seine Laufbahn wäre jedoch ohne gehörige Portion Glück nicht möglich gewesen. Robin Dutt war schlicht und ergreifend in vielen Situationen zur rechten Zeit am rechten Fleck. Es beginnt damit, dass Baden-Württemberg Ende der 90er der beste Ausgangspunkt für eine beginnende Trainerkarriere war: Während im Rest von Fußballdeutschland Begriffe wie Viererkette, Raumdeckung und 4-4-2 selbst noch zum Ende des 20. Jahrhunderts kritisch beäugt wurden, war die Fußballszene im Schwabenlande weiter. Beim Württembergischen Fußballverband wurde das ballorientierte Verteidigen schon in den 80er Jahren von Helmut Groß eingeführt und später von Ralf Rangnick übernommen. Die anderen süddeutschen Fußballverbände folgten in den 90er Jahren diesem Vorbild. Nicht umsonst haben viele der heutigen Top-Trainer im süddeutschen Raum ihr Handwerk gelernt – vom erwähnten Ralf Rangnick über Thomas Tuchel bis hin zu Joachim Löw.

Seine Herkunft verschaffte Dutt nicht nur eine sehr gute Ausbildung, sie versorgte ihn zudem mit wichtigen Kontakten. Seinen A-Trainerschein machte er zusammen mit einem gewissen Marcus Sorg, heute Cheftrainer des SC Freiburg. Die beiden freundeten sich an, und als Sorg 2001 das Cheftraineramt beim damaligen Drittligisten Stuttgarter Kickers übernahm, legte er bei den Verantwortlichen ein gutes Wort für den aufstrebenden Robin Dutt ein. So wurde dieser 2002 Trainer der Reservemannschaft der Kickers.

Marcus Sorg blieb nicht lange in Stuttgart. Anfang 2003 wurde er entlassen und von Rainer Adrion abgelöst, der heute die deutsche U21-Nationalmannschaft betreut. Als auch dieser jedoch nach nur einem halbem Jahr im Oktober 2003 entlassen wurde, war die große Stunde des Robin Dutt gekommen: Er bekam seinen ersten Cheftrainerposten bei einer Profimannschaft.

Seine Zeit bei den Stuttgarter Kickers

Seine Aufgabe bei den Stuttgarter Kickers war keine leichte: Vor der Saison als Aufstiegsaspirant gehandelt, war nach einem misslungen Saisonstart keine Rede mehr von der Rückkehr in die Zweitklassigkeit. Zu jener Zeit hatte der frühere Bundesligist wie so viele Traditionsvereine mit finanziellen Problemen zu kämpfen und konnte sich nur durch den Verkauf der Namensrechte am Stadion vor der Insolvenz retten. Er war daher in den kommenden Jahren darauf angewiesen, junge Talente aufzubauen anstatt namhafte Spieler für teures Geld zu verpflichten.

Für Robin Dutt ging trotz der schwierigen Bedingungen ein Traum in Erfüllung: Er hatte es ins Profigeschäft des Fußballs geschafft. Nun galt es zu beweisen, dass seine bisherigen Erfolge nicht nur daher rührten, dass er zur rechten Zeit am rechten Ort war. Er stürzte sich akribisch in seine Arbeit und war besonders an einer Verbesserung des Scoutings und der Trainingsmethoden interessiert.

Nicht nur die sportliche Situation stellte ihn zu dieser Zeit vor eine Herausforderung: Er begann kurz nach Beginn seiner Tätigkeit in Stuttgart die Ausbildung zum Profitrainer an der Hennes-Weisweiler-Akademie. Die dauernden Reisen vom Neckar nach Köln und zurück setzten dem jungen Trainer zu. Dennoch meisterte er beide Aufgaben und schaffte den Abschluss im Juni 2005 sogar als Jahrgangsbester mit einer Note von 1,4. Die Kurse absolvierte er übrigens zusammen mit Jürgen Klopp, mit dem ihn seitdem eine professionelle Freundschaft verbindet.

Trotz der Doppelbelastung und der finanziellen Engpässe stabilisierten sich die Kickers unter Dutt im Tabellenmittelfeld der Regionalliga Süd. Nach drei höhepunktarmen Spielzeiten im Nirgendwo der Tabelle wurde die Saison 2006/2007 zur erfolgreichsten für die Kickers seit Jahren. Zum ersten Mal seit Dutts Ankunft musste der Verein keine Lizenzauflagen erfüllen – ein finanzieller Erfolg, der sich auf den sportlichen Bereich übertrug. Besonders der Achtungserfolg im DFB-Pokal, als man in der ersten Runde den Bundesligisten Hamburger SV mit 4:3 nach Verlängerung besiegte, katapultierte den Coach in das nationale Rampenlicht.

Der Wechsel zum SC Freiburg

Nach seinen feinen Trainerleistungen in dieser Saison war er nicht nur im Blickfeld der Medien, sondern auch im Gespräch bei einigen höherklassigen Vereinen. Bekannt wurde vor allem das Interesse von Bundesligist Hannover 96, die einen Nachfolger für den gefeuerten Peter Neururer suchten, sich letztendlich aber für Dieter Hecking entschieden. Ernst wurde es im März, als der damalige Zweitligist SC Freiburg für die neue Saison einen Nachfolger für den ewigen Volker Finke suchte. Nachdem er sich das Angebot einige Tage durch den Kopf gehen ließ und auch ernsthaft in Betracht zog, den eingeschlagenen Weg bei den Stuttgarter Kickers weiterzugehen, nahm er schließlich an.

Die Idylle, die den SC Freiburg ansonsten zu einem der ruhigsten Profivereine Deutschlands machte, wurde durch diesen Trainertausch erschüttert. Es entwickelte sich schnell eine Initiative, die den Verbleib von Volker Finke forderte. Die Aktion „Wir sind Finke“ fand vor Saisonschluss besonderen Zulauf, als der SC Freiburg nach guten Leistungen in den letzten Wochen der Finke-Herrschaft den Aufstieg nur knapp verpasste. Trotz einiger kritischer Stimmen auch innerhalb des Vorstandes standen die Breisgauer zu ihrer Entscheidung und so trat Dutt seine neue Aufgabe zur Saison 2007/2008 an.

Gerade die Besetzung der neuen Posten wurde zum Drahtseilakt: Zu viele neue Mitarbeiter wäre ein Affront gegen den bei den Fans beliebten alten Trainer – zu wenig neue Mitarbeiter ein Zeichen von Schwäche. Er wählte den Mittelweg: Zum einen wollte er eine größtmögliche personelle Kontinuität erreichen und beförderte unter anderem Damir Burić, der bereits unter Volker Finke arbeitete, zum Co-Trainer. Andererseits zeigte er seine Loyalität zu ehemaligen Weggefährten und legte ein gutes Wort für ehemalige Kollegen ein, so zum Beispiel für seinen Förderer aus Kickers-Tagen, Marcus Sorg, der im Sommer 2008 Trainer der Amateure wurde.

Mit dem SC Freiburg übernahm Dutt erneut einen Verein, der in einem personellen  Umbruch stand. Er musste wie schon bei den Stuttgarter Kickers sich nicht nur als Übungsleiter, sondern auch in der Kaderzusammenstellung hervortun. Im Sommer verließen bereits viele Spieler den Verein, es kamen ebenso viele neue hinzu. In der Winterpause ging der Umbruch weiter und es kam unter anderem Mo Idrissou zu den Freiburgern.

In dieser Spielzeit waren die Anforderungen an den Trainer enorm. Auf der einen Seite stand eine nicht so kleine Gruppe Fans, die den neuen Trainer kritisch beäugten und am liebsten Finke wieder im Amt gesehen hätten. Auf der anderen Seite erhöhte Dutt selber die Erwartungen, als er den Aufstieg eigenmächtig als Saisonziel ausgab. Obwohl der Vorstand einen Mittelfeldplatz ausrief und damit dem Trainer den Druck von den Schultern nehmen wollte, war Dutt der Meinung, dass nach dem vierten Platz der letzten Saison eine bessere Platzierung und damit der Aufstieg das Ziel sein müsse. Damit machte er sich gerade bei den Vereinsverantwortlichen keine Freunde.

Diesen Anfangsschwierigkeiten zum Trotz schaffte der SC Freiburg in der ersten Saison einen respektablen fünften Platz. Den Aufstieg verpasste man aufgrund einer Niederlagenserie zu Beginn der Rückrunde. Außerhalb des Platzes beruhigte er die Anhänger mit seiner unaufgeregten, sachlichen Art und machte Volker Finke schnell vergessen. Aber auch fußballerisch war die erste Saison wichtig für Robin Dutt, der hier das Fundament für die kommenden Erfolge legte.  Er impfte den Spielern eine Taktik ein, die nicht mit den Prinzipien von Volker Finke brach, sondern dessen Spielidee auf eine neue Stufe hob. Er installierte einen ballbesitzorientierten Fußball in einem 4-2-3-1 System, das auf Kurzpassspiel, die volle Ausnutzung der Breite des Platzes und viele Positionswechsel setzte.

Das verflixt gute zweite Jahr

Die Spielidee seines ersten Jahres in Freiburg entwickelte er in der zweiten Saison konsequent weiter. Robin Dutt implantierte nun modernste taktische Ideen in sein Spiel: In der Offensive spielte der SC Freiburg mit einer Dauerrochade, die vier offensiven Akteure tauschten immer wieder die Positionen. Einen etatmäßigen Stürmer gab es dabei nicht, vielmehr verschob sich situationsbedingt ein Akteur der Offensivreihe in die Spitze. Die Dauerrochade war möglich, weil Robin Dutt auf mehrere torgefährliche Offensivspieler zurückgreifen konnte: Idrissou war im zweiten Jahr zwar der herausragende Torschütze mit 13 Treffern, andere Spieler wie Bechmann und Jäger trugen sich aber ebenfalls mit sieben Toren in die Trefferliste ein. Die Freiburger waren mit ihrem variablen System nicht von einem Torjäger abhängig.

Die Vermischung der Aufgaben eines offensiven Mittelfeldspielers und eines Stürmers wurde sonst nur bei Manchester United betrieben, mit Akteuren wie Rooney und Christiano Ronaldo. „Sagen Sie nicht, wir spielen wie Manchester United. Sonst heißt es gleich, der ist größenwahnsinnig“, wies Robin Dutt die Vergleiche von sich. Dennoch bewies Dutt mit dieser taktischen Maßnahme sein Gespür für internationale Taktiktrends.

Auffällig war auch, wie oft die Freiburger den Weg über die Außen suchten. Das Team nutzte damit geschickt aus, dass die Freiburger den kürzesten, aber auch breitesten Platz aller Profimannschaften in Deutschland bespielen. Seine Taktik war damit auf die Platzverhältnisse im Breisgaustadion abgestimmt.

Mit hohen Ballbesitzzahlen und vielen kurzen Pässen dominierte man die zweite Liga. Der SC Freiburg stürmte schnell an die Tabellenspitze und gab den Platz an der Sonne nur noch selten her. Am 31. Spieltag der Saison 2008/2009 konnten sie mit einem 5:2-Auswärtssieg den Aufstieg und die Zweitligameisterschaft perfekt machen – Robin Dutt war angekommen in der obersten deutschen Spielklasse. Beeindruckend war besonders die Dominanz, mit der der Aufstieg erzielt wurde: In der Rückrunde war der Aufstieg zu kaum einer Zeit ernsthaft gefährdet. Am Ende hatte man ein Torverhältnis von 60:36 und fünf Punkte Vorsprung auf den zweitplatzierten FSV Mainz 05.

Harte Zeit in der ersten Liga

Nach dem Aufstieg folgte eine harte Saison für den SC Freiburg: Wirtschaftlich stand man zusammen mit Mitaufsteiger Mainz am Schlusslicht der Tabelle, der direkte Wiederabstieg wurde von vielen Experten prophezeit. Der Kader konnte daher nur punktuell verstärkt werden, dafür blieben bis auf Daniel Schwaab (Wechsel zu Bayer Leverkusen) alle Leistungsträger.

Dutt lernte eine neue Facette des Trainerberufs kennen: Zum ersten Mal in seiner Karriere kämpfte er vom ersten Spieltag an gegen den Abstieg. Nach einer durchschnittlichen Hinrunde stand sein Klub mit 18 Punkten auf einem akzeptablen 13. Rang. In Erinnerung blieb jedoch nicht die passable Platzierung, sondern vor allem die deutlichen Heimniederlagen gegen Bayer Leverkusen (0:5) und Werder Bremen (0:6).

Robin Dutt fasste die erste Zeit in der obersten Liga passend im Gespräch mit der offiziellen Internetpräsenz des SC Freiburg treffend zusammen: „Wir haben in der Anfangsphase versucht, die gleichen Ballbesitzzahlen zu erreichen, wie in der Zweiten Liga. Dafür sind wir bestraft worden, Leverkusen oder Bremen haben sich bedankt, und uns die Tore eingeschenkt. Da mussten wir erst einmal sehen, dass wir uns defensiv besser organisieren.“

Robin Dutt zog seine Schlüsse aus den teilweise desolaten Auftritten und stellte sein System um. Spätestens ab der Rückrunde spielte der SC Freiburg in einem eindeutigen 4-1-4-1 System. Nach und nach veränderte sich die Spielweise des SC Freiburg, weg vom Kurzpassspiel hin zu schnellem Umschalten. Die vielen Positionswechsel und die Ausnutzung der ganzen Breite blieben aber bestehen.

Neu in diesem System waren vor allem die Rollen zweier Spieler: Auf der einen Seite stand der in der Winterpause für eine Rekordablöse von 1,6 Millionen nach Freiburg  gekommene Cisse, der einzige Sturmspitze wurde. Der SC Freiburg hatte nun eine feste Anspielstation vorne, die Bälle halten, ablegen und im Zweifelsfall alleine den Weg zum Tor suchen konnte. Cisse sollte sich nach anfänglichen Schwierigkeiten als großer Glücksgriff erweisen. Seine sechs Treffer in der Rückrunde trugen zum Nichtabstieg bei – sein wahres Potenzial sollte er jedoch erst in der kommenden Saison abrufen.

Die zweite wichtige Personalie war Julian Schuster. Er spielte bereits einige Zeit bei den Freiburgern, ehe  Robin Dutt seinem Schützling mehr Verantwortung übertrug. Im 4-1-4-1 System übernahm er die wichtige Rolle zwischen den beiden Viererketten und sollte dafür sorgen, dass niemand diesen Raum ausnutzt. Noch interessanter als seine Defensivaufgaben war seine Rolle im Spielaufbau der Freiburger. Hier ließ sich Robin Dutt erneut von internationalen Top-Klubs inspirieren und implantierte als erster Bundesligatrainer den so genannten „Libero vor der Abwehr“ in sein Spiel.

Im Spielaufbau fiel Schuster aus der Mittelfeldzentrale zwischen die beiden Innenverteidiger zurück. Hierdurch rückten diese auf die Außenverteidigerposition, wodurch die Außenverteidiger wiederum mit nach vorne rücken konnten. Aus der Viererkette wurde im Spielaufbau so eine Dreierkette. Im Falle eines Ballverlustes kamen die Außenverteidiger schnell wieder zurück, um die alte 4-1-4-1 Ordnung herzustellen. Dass Dutt und Schuster bereits zuvor mit dieser Idee kokettierten, war zu erkennen – deutlich wurde sie erst zu Teilen in der Rückrunde der Saison 2009/2010.

Die zweite Bundesligasaison und der Wechsel zu Bayer

Die Freiburger Spielidee verlangte viel Flexibilität von den Spielern und musste lange eintrainiert werden. Es ist keine Überraschung, dass das 4-1-4-1 System in der Rückrunde noch nicht hundertprozentig harmonierte. Dennoch war eine Steigerung zur Hinrunde zu sehen, da die hohen Niederlagen ausblieben und man sogar die großen Bayern am Rande einer Niederlage hatte. Am Ende erreichte die Mannschaft mit 35 Punkten bereits einen Spieltag vor Saisonschluss den Nichtabstieg.

Dutts komplexes System mit den vielen Positionsrochaden sollte in der darauffolgenden Saison dem SC Freiburg zu ungeahnten Erfolgen führen: Vor der Saison erneut als Abstiegskandidat gehandelt, konnten die Breisgauer am Ende der Hinrunde gar von einem Europa League-Rang träumen. Die zwei Eckpfeiler der Mannschaft, Julian Schuster und Cisse, befanden sich in ausgezeichneter Form und sorgten dafür, dass man sich schon früh in der Saison vom Abstiegskampf verabschieden konnte. Erfolgreich sein und schön spielen – Dutts Prämisse wurde in der Hinrunde 20010/2011 voll erfüllt.

Die Rückrunde der Saison verlief nicht mehr so glanzvoll, so dass am Ende der neunte Rang heraussprang. Gründe für das schwache Abschneiden in der zweiten Saisonhälfte waren einerseits Verletzungen – besonders Julian Schuster konnte nach einer Zwangspause nicht mehr an seine alten Leistungen anknüpfen. Als man sich nach einigen unglücklichen Niederlagen zu Beginn des Jahres im Tabellenniemandsland wiederfand, schlich sich zudem ein kleiner Schlendrian in die Mannschaft ein.

In dieser Phase der Saison machte die Bundesliga besonders außerhalb des Platzes auf sich aufmerksam: Das Trainerkarussell drehte sich in hoher Geschwindigkeit. Am Ende öffneten die zahlreichen Wechsel innerhalb der Liga eine Tür für Robin Dutt: Bayer Leverkusen bot ihm eine Stelle als Cheftrainer an. Nach reiflicher Überlegung nahm er die Chance wahr.

Ausblick auf seine Zeit in Leverkusen

Robin Dutt war angekommen – von der Verbandsliga hat er es in nur 15 Jahren in die Champions League geschafft. In der Bundesliga ist sein Werdegang herausragend, weil er nie Teil der Bundesligamaschinerie war. Er hat es durch harte Arbeit und eine nicht zu leugnende Portion Glück geschafft, als Quereinsteiger Trainer eines Topklubs der Liga zu werden.

Taktisch war Robin Dutt immer ein Verfechter von anspruchsvollem Kurzpassspiel. Erfolg ist kein Selbstzweck, wichtig ist die Frage, wie dieser Erfolg erzielt werden kann. Durch seine Vorliebe für das schöne Spiel zeigt sich seine Liebe zum Fußball, die ihn vom TSF Ditzingen bis hin zu Bayer Leverkusen führte. Auf der anderen Seite ist eine schöne Spielweise auch ein Garant dafür, bei den Fans beliebt zu sein – ein nicht unwesentlicher Faktor, wenn man bedenkt, dass Robin Dutt als Außenstehender zu Beginn seiner Karriere bei seinen Stationen nicht viele Fürsprecher fand.

Mit seinem neuen Verein Bayer Leverkusen hat er nach wenigen Spieltagen bereits eine ganze Handvoll Probleme. Als neutraler Beobachter sollte man jedoch verstehen, dass Dutts Idee vom Fußball eine gewisse Zeit braucht, bis sie bei einem Verein hundertprozentig funktionieren kann – ballbesitzorientierter Fußball ist immer schwerer zu vermitteln als eine Kontertaktik aus einer sattelfesten Defensive. Die Fans sollten ihm Zeit geben, seine Idee vom Spiel zu entwickeln. Schon jetzt zeigt sich, dass taktisch und spielerisch eine große Leverkusener Mannschaft entstehen kann, siehe die großartige erste Halbzeit gegen Dynamo Dresden im Pokal.

Die anderen Probleme, die er teilweise selbst geschaffen hat, lassen sich mit einem Blick auf seine Biographie erklären. So rief er in Leverkusen das Saisonziel Meisterschaft aus und machte sich (wie schon zu seiner Anfangszeit in Freiburg) damit nicht nur Freunde. Diese Aussagen sind jedoch für ihn nur konsequent: Stagnation oder gar Rückschritt waren nie ein Bestandteil seines Aufstieges von unten nach ganz oben. Auf einen zweiten Platz kann bei ihm nur der Erste folgen, das war und ist Teil seiner eigenen Motivation.

Neu ist für ihn auch die Situation, eine Mannschaft zu übernehmen, die nicht in einem Umbruch steckt. Bei den Stuttgarter Kickers übernahm er einen Verein am finanziellen Ende, beim SC Freiburg beerbte er einen Vorgänger, der über 16 Jahre im Amt war. Bayer Leverkusen hingegen hat einen gefestigten Kader und war in der Vorsaison sehr erfolgreich – hier wird zunächst nicht seine Fähigkeit in der Kaderzusammenstellung, sondern seine Kompetenz als Übungsleiter im Vordergrund stehen.

Dass Robin Dutt taktisch zu den besten Trainern der Liga zählt, unterstrich seine hochmoderne und flexible Spielweise in Freiburg. Die Schwierigkeit in Leverkusen ist es, zu akzeptieren, dass das sportliche Prinzip in der Öffentlichkeit anders gewichtet wird. Während er im beschaulichen Breisgau einen Spieler, der nicht in das taktische Konzept passte, ohne großen Aufschrei auf die Bank setzen konnte, gestaltet sich das gerade im Fall Ballack als schwierig. Seine Aussage, man könne Rolfes und Ballack nicht zusammen aufstellen, macht sportlich Sinn – sie nimmt allerdings zu wenig Rücksicht auf die öffentliche Debatte, die sich längst von sportlichen Kriterien gelöst hat.

Robin Dutt stand früher als gedacht in Leverkusen am Pranger. Es ist eine wichtige Station für ihn, denn jetzt hat er die einmalige Chance zu zeigen, ob er zu den besten Trainern der Bundesliga gehört. Wenn er scheitert, wäre es der erste echte Rückschlag in einer Karriere, die bisher nur den Weg nach oben kannte. Die nächsten Wochen werden eine harte Probe für den Quereinsteiger.

Thomas Tuchel – alles andere als bequem

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Er wird als das wohl größte Trainertalent Deutschlands gehandelt und gilt als prominentester Vertreter der „Generation Nachwuchsleistungszentrum“. Innerhalb von zwei Jahren etablierte er sich im Profigeschäft. In diesen zwei Jahren verschaffte er sich in der Branche einen enormen Respekt, eckte aber mit seiner direkten und emotionalen Art immer wieder bei Fans, Medien und Kollegen an, was dafür sorgte, dass er sich schon viele Vorwürfe gefallen lassen musste.

Mangelnde Aufopferung für den Job wird er jedoch niemals zu hören bekommen, denn Thomas Tuchel ist ein akribischer Arbeiter, obwohl er nach einem verletzungsbedingten frühen Ende der Spielerkarriere erst davon überzeugt werden musste, überhaupt im Fußballgeschäft weiterzuarbeiten.

Doch wie hat er es geschafft, mit Mitte Dreißig Trainer eines ambitionierten und entwicklungsfähigen Bundesligisten zu werden, zahlreiche Achtungserfolge zu feiern und seinen Namen auf die Wunschzettel der deutschen Topvereine zu bekommen? Wie wurde er das, was er jetzt ist, nämlich das deutsche Trainertalent schlechthin?

Tuchels Weg zum Profitrainer

Am 29. August 1973 in Krumbach (Bayern) geboren, ging Tuchel als Juniorenspieler zunächst den ganz gewöhnlichen Weg eines talentierten Spielers: Mit vierzehn Jahren wechselte er von seinem Heimatverein, dem TSV Krumbach, zum nicht allzu weit entfernten FC Augsburg. Dort spielte er insgesamt vier Saisons bis zum Ende seiner Jugendzeit. Im Anschluss wechselte er zu den gerade aus der 1. Bundesliga abgestiegenen Stuttgarter Kickers, wo er allerdings in zwei Saisons nur acht Spiele bestritt, sodass er im Sommer 1994 dem Ruf des Jungtainers Ralf Rangnick, damals Trainer beim Regionalligisten SSV Ulm, folgte.

Unter Rangnick absolvierte Tuchel, der sich selbst als „unbequemen“ Spieler beschreibt, insgesamt 69 Spiele (3 Tore), jedoch über einen Zeitraum von insgesamt vier Saisons. Endgültig vorbei mit der Spielerkarriere war es für den schon damals auffällig am Trainerdasein interessierten Tuchel schon im Alter von 24 Jahren, als ihn eine Knieverletzung zur Aufgabe der Karriere zwang.

Im Anschluss zeigte Tuchel zunächst keinerlei Ambitionen, weiter im Fußballgeschäft tätig zu sein. Stattdessen absolvierte er ein BWL-Studium und kellnerte nebenbei in einer Kneipe. Über diese Zeit sagt er im Rückblick: „Am Anfang war es aber nicht einfach, weil ich über meinen eigenen Schatten springen musste. Zuvor war ich es als Fußballer gewohnt, in der Öffentlichkeit zu stehen. Nach einigen Wochen wurde mir jedoch bewusst, dass der Kellner-Job das Beste war, was mir passieren konnte. Ich habe die Zeit sehr genossen und Anerkennung von Leuten gefunden, die gar nicht wussten, dass ich irgendwann einmal ganz gut Fußball gespielt habe.“

Tuchel gewann zunehmend Abstand vom Fußball. Dennoch konnte ihn sein inzwischen beim VfB Stuttgart tätiger Ex-Trainer Rangnick überzeugen parallel zum Studium als Trainer beim VfB zu hospitieren, was dann schließlich zur Trainertätigkeit Tuchels in der U14 der Schwaben führte. Nach insgesamt vier Jahren in U14 und U15 rückte Tuchel als Co-Trainer in die U19 auf, mit der er in der Saison 2004/05 Deutscher A-Jugendmeister wurde. Als seinen größten Mentor zur VfB-Zeit nennt Tuchel nicht wie man vermuten könnte Ralf Rangnick, sondern Hermann Badstuber, den inzwischen verstorbene Vater von Bayern-Profi Holger. Tuchel beschreibt den langjährigen Trainer Badstuber wie folgt: „Ich kenne bis heute kaum einen Trainer, der so viel Fachwissen in sich vereint, gleichzeitig aber so viel Querdenken zulässt, sich ständig hinterfragt, fleißig arbeitet und dabei bescheiden geblieben ist. Er hat mich fachlich und menschlich sehr, sehr geprägt.“

Nach dem Gewinn des Meistertitels wechselte Tuchel zum ersten Mal als Trainer den Verein, um bei seinem Ex-Klub FC Augsburg als U19-Trainer sowie Sportlicher Leiter des Nachwuchsleistungszentrums zu fungieren. Während dieser Zeit absolviert Tuchel die Ausbildung des DFB zum Fußball-Lehrer, welche er letzten Endes mit einer Durchschnittsnote von 1,4 abschließt, womit er zu den Jahrgangsbesten gehört. 2007 übernahm Tuchel die Augsburger U23 in der Landesliga, was jedoch nicht wirklich seinen Ansprüchen entsprochen haben dürfte und so wechselte Tuchel 2008 erneut den Verein und wurde beim 1. FSV Mainz 05  Trainer in der U19. Gleich in seiner ersten Saison hinterließ Tuchels Mannschaft mit dem völlig überraschenden Gewinn der Deutschen Meisterschaft einen imposanten Eindruck.

Dieser Erfolg machte wiederum andere Vereine auf Tuchel aufmerksam und er wäre wohl nur allzu gerne in den Trainerstab Rangnicks in Hoffenheim gewechselt, um den letzten Schritt in seiner eigenen Entwicklung zu gehen. Doch Manager Heidel überredete ihn zum Bleiben, mit dem Hinweis, dass sie seine hervorragende Arbeit sehr wohl registriert hätten und er in Mainz keine schlechten Zukunftsperspektiven habe. So blieb Tuchel in Mainz und sein ganz großer Auftritt kam wesentlich früher als geplant: Noch vor dem ersten Spieltag der Saison 2009/10 feuerten die Verantwortlichen aufgrund schwerwiegender interner Unstimmigkeiten Aufstiegstrainer Jörn Andersen und beförderten Tuchel vier Tage vor dem Bundesligastart zum Erstligatrainer.

In seiner ersten Saison übertraf Tuchel, der mit einem von Heidel und Andersen zusammengestellten Kader arbeiten musste, sämtliche Erwartungen. Er erreichte einen, mit dem mit einem sehr kleinen Budget ausgestatteten Aufsteiger, sensationellen 9. Tabellenplatz. Dieser Erfolg wurde vor allem durch eine eindrucksvolle Heimstärke erreicht.

Den absoluten Höhepunkt der Saison erlebten die Fans dabei bereits am 3. Spieltag, als der Branchenprimus aus München von einem überraschend aggressivem Gastgeber mit 2:1 geschlagen wurde. Es folgten weitere Siege gegen stärker eingeschätzte Gegner, aber auch schlechtere Phasen, die jedoch für einen unerfahrenen Aufsteiger nicht ungewöhnlich sind.

Doch noch wichtiger als die Ergebnisse war den Verantwortlichen das im Vergleich zu Andersen völlig veränderte Auftreten der Mannschaft: Tuchel führte das von Vor-Vorgänger Klopp eingeführte aggressive Pressing wieder ein, forcierte das schnelle Spiel in die Spitze und den schnellen Torabschluss, legte aber zunächst besonders Wert auf eine geordnete Defensive. Schon nach den ersten Spielen rieben sich viele Experten verwundert die Augen, mit wie viel Mut und Kreativität Tuchels Mannen agierten und so für einige Überraschungen sorgten.

Nicht nur, dass Mainz für einen Aufsteiger unerhört mutig spielte, auch außerhalb des Platzes trat allen voran Jungtrainer Tuchel sehr selbstbewusst auf und prägte Begriffe wie „Matchplan“ oder „Gegenpressing“. Er gab mehrere sehr interessante Interviews, in denen er seine Vorstellungen vom Fußball erklärte und so auch unter den Experten zunehmend Anerkennung fand. Dennoch drängte er sich zu keinem Zeitpunkt bewusst in die Öffentlichkeit. So lehnte er beispielsweise nach dem Sieg gegen den FC Bayern eine Einladung ins Sportstudio ab und schickte stattdessen seinen Torhüter Heinz Müller vor.

Spiel- und Trainingsphilosophie

Spricht Thomas Tuchel über seine Spielauffassung, spricht er immer auch vom FC Barcelona. Jedoch schwärmt er nicht wie so viele von einem Messi, Xavi oder Iniesta, sondern vielmehr von der Demut und Bescheidenheit dieser Stars. Zum Beispiel sagte er kurz nach Amtsantritt über den CL-Sieger von 2009: „Ich bin der Meinung, dass es die herausragende Leistung von Barcelona in der vergangenen Saison war, mit welcher Hingabe und Leidenschaft nach einem Ballverlust in der gegnerischen Hälfte die komplette Mannschaft sofort versucht hat, den Ball zurückzuerobern.“ Dieses Zitat verrät eine Menge über die eigene Spielauffassung. Merkmal jeder Mannschaft unter Tuchels Leitung ist das aggressive Gegenpressing nach Ballverlust, bevorzugt schon in der gegnerischen Hälfte.

In seiner ersten Saison bei den Profis ließ Tuchel nach Ballgewinn schnell in die Spitze spielen, Schlüsselspieler war in der Hinserie Andreas Ivanschitz, der immer wieder Vorbereiter und Vollstrecker der Mainzer Hochgeschwindigkeitsangriffe war.

Anders als viele andere Trainer benötigt Tuchel anscheinend keine lange Zeit für die Vermittlung seiner Prinzipien. Stattdessen zeichnete Tuchel in seiner ersten Saison als Profitrainer vielmehr die Fähigkeit aus, einer führungslosen Aufstiegsmannschaft neues Leben einzuhauchen und bei nur vier Tagen Vorbereitung dem Favoriten aus Leverkusen einen Punkt abzunehmen.

Auch wenn Tuchels Trainingsphilosophie die eines Konzepttrainers ist, wäre es unfair, Tuchel gänzlich als solchen zu charakterisieren. Thomas Tuchel vereint ganz verschiedene besondere Fähigkeiten in sich, neben dem ganz eindeutig vom Jugendfußball geprägten Ausbildungsgedanken zeichnen ihn seine Motivationsreden sowie sein besonderer Umgang mit den Spielern aus. Von den Mainzer Verantwortlichen wird seit etwa einem Jahr kommuniziert, dass man sich zu dem primären Ausbildungsverein in Deutschland entwickeln wolle. Inzwischen wird der Begriff „Ausbildungsverein“ sogar mit Stolz getragen, da doch damit die hohe Ausbildungsqualität insgesamt und die guten Chancen für junge Spieler, sich bei den Profis durchzusetzen, suggeriert wird.

Nichtsdestotrotz wäre es vorschnell, Tuchel als Trainer nur für diese Altersstufe abzustempeln. Wie er gerade die Älteren im Mainzer Kader, und das waren in den letzten beiden Saisons mehr als allgemein wahrgenommen, kontinuierlich verbesserte und vor allem taktisch weiterentwickelte, geht häufig unter. Jedoch kann sich Tuchel aufgrund seiner Vergangenheit im Jugendfußball verständlicherweise sehr gut mit dem von Mainz-Manager Heidel verkündeten Ziel, „die Topadresse für Talente von 18 bis 23 zu werden“, identifizieren.

2010/11: Es geht noch höher

Zur Saison 2010/11 wurde der Kader durch Heidel und Tuchel grundlegend verändert. Wie schon in den Jahren zuvor schaffte es Heidel einige hochkarätige Neuzugänge zu präsentieren, auch wenn die meisten nur per Leihvertrag verpflichtet werden konnten. Die Mannschaft wurde vor der Saison als talentiert eingestuft, jedoch sahen die meisten Mainz nach dem guten ersten Jahr eher im Abstiegskampf. Dennoch wurde durchaus registriert, dass Mainz eine leistungsstarke Mannschaft zusammengestellt hatte und so traute etwa der „Kicker“ den 05ern „zeitweise Überraschungen“ zu.

Der Verlauf der vergangenen Spielzeit dürfte bekannt sein: Mainz startete mit einer sensationellen Serie von sieben Siegen in Folge, was die Einstellung des Bundesliga-Startrekordes bedeutete. Plötzlich stand Mainz im Fokus, hierbei wurde vor allem die Arbeit Tuchels genau unter die Lupe genommen und analysiert. Auch im weiteren Verlauf der Saison stand der FSV stärker als gewöhnlich im Blickpunkt, letztlich zogen aber Jürgen Klopps Dortmunder im weiteren Saisonverlauf die größte Beachtung auf sich, sodass Tuchel trotz eines fünften Platzes einigermaßen ruhig weiterarbeiten konnte.

Wie schon im Vorjahr präsentierten sich die Mainzer äußerst flexibel. Zu Beginn der Saison wechselte Tuchel immer wieder – abhängig vom Gegner – die Formation und Ausrichtung, sodass sich der Gegner kaum auf die 05er einstellen konnte. Einzige Gemeinsamkeit in allen Spielen war das aggressive Spiel ohne Ball. Selbst in München attackierten die Mainzer den Gegner extrem weit vorne und verunsicherten so die auf einen tiefstehenden Gegner eingestellten Bayern.

Nach der Anfangsphase, in der Tuchel verschiedene Systeme ausprobierte, legte er sich mehr oder weniger auf ein recht unübliches 4-3-1-2-System fest. Die größte Schwäche dieses Systems ist gleichzeitig seine größte Stärke: Vier zentrale Mittelfeldspieler können zur Spielkontrolle sowie für Überzahl in Ballnähe extrem hilfreich sein, doch diese Konzentration auf die Zentrale bedingt eine chronische Unterzahl gegen Viererketten auf dem Flügel, da normalerweise kaum Druck auf die Außenverteidiger ausgeübt werden kann.

Die Mainzer Mittelfeldspieler schafften es jedoch, neben der Mitte auch den Flügel zu bearbeiten und zwar indem der jeweilige defensive Mittelfeldspieler im Sprint den gegnerischen Außenverteidiger im Ballbesitz attackierte, sodass dieser den zur Verfügung stehenden Raum nicht nutzen konnte. Der offensive Mittelfeldspieler, häufig Lewis Holtby, hatte die Aufgabe, die beiden gegnerischen Sechser anzulaufen und ihnen keine Sekunde Ruhe zu gönnen, was nur mit einer enormen Laufleistung zu schaffen war. In der abgebildeten Grafik des oben erwähnten Spiels gegen Bayern München sind die genannten Punkte noch einmal abgebildet.

Die Formationen beim Mainzer Sieg in München

Darin liegt wohl eine weitere große Stärke Tuchels: durch personelle und taktische Änderungen auf die Taktik des Gegners zu reagieren. Tuchels Mannschaft war vor allem in der zweiten Halbzeit erfolgreich und dort besonders häufig in der letzten Viertelstunde, was zuerst auf eine gute Kondition schließen lässt und außerdem auf gute Auswechslungen. Generell fällt auf, dass Tuchel nicht immer mit den elf stärksten Spielern beginnt, so blieb Schürrle zu Beginn der Saison häufig lange auf der Bank, im Saisonverlauf fand sich auch der zunächst als unverzichtbar eingestufte Holtby immer häufiger nicht in der Startelf.

Dadurch dass der Kader in der Offensive sehr breit aufgestellt war, konnte man immer wieder rotieren und starke, frische Spieler von der Bank bringen. Das Problem einer solchen Philosophie liegt darin, dass muss man es schaffen muss, auch die Auswechselspieler bei Laune zu halten, was Tuchel in der vergangenen Saison eindrucksvoll gelang. Verschiedene Spieler berichteten, dass Tuchel ihnen das Gefühl gab „gebraucht zu werden“. Viele Trainer fordern einen breit aufgestellten Kader, scheitern dann aber an den unzufriedenen Spielern. Bei Mainz war dieses Phänomen in der abgelaufenen Saison nicht zu beobachten, wobei dies auch an dem außerordentlichen Saisonverlauf liegen könnte.

Sollten in der kommenden Saison einige Tiefen zu durchstehen sein, wird sich zeigen, ob es Tuchel weiterhin schafft die Laune im Kader hochzuhalten. Auch wird sich zeigen, wie er mit möglicher Kritik der Medien zurecht kommt. Schon in den zurückliegenden erfolgreichen zwei Jahren legte er sich mehrfach mit Medienvertretern an und machte sich durch seine Art nicht nur Freunde in der Fußballwelt.

Doch egal, wie man zum Auftreten Tuchels steht, niemand kann bestreiten, dass er eindrucksvoll in seine Profikarriere als Trainer gestartet ist. Neben einer flexiblen und am Gegner orientierten Taktik fällt Tuchel durch seine moderne Trainingsgestaltung auf. Gerade in der Trainingsarbeit probiert der Fußball-Lehrer immer wieder neue Sachen aus, ist ein erklärter Gegner von sturem Konditionstraining und lässt stattdessen in „komplexen Spielformen“ üben.

Tuchel spricht davon, seine Spieler „bewusst zu überfordern“, damit sie es dann im Spiel einfacher haben. Bei ihm wird das Gehirn mittrainiert. Die teilweise sehr komplizierten Spielformen sollen den Spielern auf lange Sicht helfen, komplexe Spielsituationen besser zu lösen. Häufig lässt Tuchel Übungen trainieren, bei denen in verschiedenen Feldern verschiedene Regeln gelten. Dies verlangt eine enorme Flexibilität der Spieler, aber auch eine hohe Aufmerksamkeit der Trainer. Tuchel erläutert, dass er bei manchen Übungen den gesamten Trainerstab als Schiedsrichter benötige, jeder sei dann bspw. für die Überwachung eines Feldes zuständig.

Ständige Weiterbildung

Die wohl größte Qualität Tuchels ist trotz seiner herausragenden fachlichen Kenntnisse seine ständige Bereitschaft zur eigenen Weiterbildung und –entwicklung, sowie das ständige Hinterfragen seiner Arbeitsweise. Seine Trainingsprinzipien stellt er tagtäglich auf den Prüfstand, er tauscht sich mit Kollegen und Experten aus, so nutzt er z.B. das Wissen des Gehirnforschers Professor Schöllhorn für die Trainingsplanung. Dieser empfahl, nicht wie häufig üblich in Trainingsblöcken zu trainieren, sondern kontinuierlich alles.

Tuchel ist sich nicht zu schade, bei Kollegen hinzuschauen und gewisse Inhalte oder Prinzipien zu übernehmen. Jedoch hinterfragt er auch diese äußerst kritisch und modifiziert sie, falls notwendig. Er vermischt verschiedene Ideen und Stile und passt sie seiner eigenen Philosophie an.

Im psychologischen Bereich nennt Tuchel immer wieder den FC Barcelona als Vorbild. Eben nicht wegen ihres Erfolgs, sondern weil man dort trotz der herausragenden Erfolge bescheiden und ehrgeizig geblieben ist. Auch macht man dort nicht den Fehler, sich auszuruhen und die eigene Arbeit nicht mehr zu hinterfragen. Genau diese Mentalität schätzt Tuchel.

Wollte man Tuchels Arbeitsweise mit einem Satz beschreiben, es könnte folgender sein: „Wer aufhört sich zu verbessern, hat aufgehört gut zu sein.“

Vicente del Bosque – der Bescheidene

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Ein Trainerporträt des Europameister-Coaches Vicente del Bosque.

Es ist der Morgen des 28. Juni 2012, der Tag des zweiten EM-Halbfinals zwischen Deutschland und Italien. Am Vorabend hat Titelverteidiger Spanien in einem Kraftakt im Elfmeterschießen die Portugiesen geschlagen und ist damit ins Finale vorgerückt. Doch in ganz Europa schreiben die Zeitungen nur über den langweiligen spanischen Spielstil. Trainer Vicente del Bosque ist der Buhmann.

Drei Tage später, 1. Juli 2012, gegen 23 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit: Im Endspiel haben die Spanier sich nach einem furiosen 4:0 über Deutschland-Bezwinger Italien zum „Tricampeon“ gekrönt und die Zeitungen schwärmen von ihrem Spielstil, sprechen gar von einer Sternstunde. Trainer Vicente del Bosque ist der große, visionäre Baumeister mit dem richtigen Fingerspitzengefühl für seine  vielen Stars.

In der heutigen Welt ist es vielleicht nicht ungewöhnlich, dass sich die Meinungen so schnell und so rasant verändern. Auch Vicente del Bosque kennt dies aus eigener Erfahrung nur zu gut. Schon oft schwankte sein Status als Trainer zwischen gefeiertem Held und verklemmtem Alten. Manchmal befand man ihn sogar trotz großen Erfolges als nicht gut genug.

Der Vater und Real Madrid prägen das Leben

Schon in frühester Kindheit spielt der am 23. Dezember 1950 in Salamanca geborene del  Bosque gerne Fußball – und das in der Jugendabteilung von Real Madrid. Neben den Königlichen ist Vater Fermón („ritterlich, aufrecht und frei von Falschheit“) die prägende Persönlichkeit in seinem Leben.

Ganz zusammen passen diese beiden Einflüsse nicht. Auf der einen Seite der Madrider Nobelklub, der immer vom spanischen Diktator Franco, einem regelmäßigen Besucher des Santiago Bernabeu, unterstützt wurde. Auf der anderen Seite Fermón del Bosque, wie so viele in der Familie ein Bahnbeamter, der im spanischen Bürgerkrieg als Linker aber ausgerechnet gegen genau jenes Franco-Regime gekämpft hat. Vicente del Bosque vereint beides – eine Fähigkeit, die er nicht zum Einzige Mal zeigt, die ihn später noch prägen wird.

Anfang der 70er-Jahre gelingt es dem arbeitsamen Mittelfeldspieler, sich nach mehreren Ausleihen an kleinere Klubs wie Castellón und Córdoba bei den Madrilenen einen Stammplatz zu erkämpfen. Für insgesamt weitere elf Jahre wird del Bosque den ruhigen, fleißigen und bescheidenen Arbeiter im Hintergrund geben, der für die offensiven Stars wie Netzer oder Santillana das Klavier trägt und ihnen den Rücken freihält.

Groß auffällig wird er nie, doch wichtig er ist für seine Mannschaft und seine Kollegen zu jeder Zeit. Für die fünf Meisterschaften und vier Pokalsiege, die er als Spieler mit Real Madrid gewinnt, werden oftmals andere gefeiert. Doch immerhin: Neun nationale Titel, elf Jahre bei Real Madrid, 18 Länderspiele für die spanische Nationalelf, darunter ein EM-Einsatz 1980 gegen Belgien, sind eine absolut sehenswerte wie zufriedenstellende Bilanz.

1984 also beendet del Bosque seine aktive Karriere und steigt gleich bei Real Madrid in die Nachwuchsabteilung ein – nicht als Jugendtrainer, sondern schon als Jugend-Koordinator. Es gibt eine gewisse Wertschätzung für die Vereinstreue sowie die fachliche Kompetenz del Bosques, der mit seiner neuen Rolle rundum zufrieden ist. Doch seine Wertschätzung wird ihm gewissermaßen zum Verhängnis – immer, wenn der Schleudersitz der Profi-Mannschaft wieder einmal frei wird, muss del Bosque als Interimslösung übernehmen – wie 1994, wie 1996 und wie 1999. Wirklich angenehm ist ihm das nicht – zu wenig Sicherheit, zu viel medialer Rummel und Aufmerksamkeit.

Vicente del Bosque und die Galaktischen

Bei jenem dritten Engagement, allerdings, gewinnt der eigentliche Lückenfüller im Jahr 2000 die Champions League und bekommt daraufhin von Präsident Florentino Pérez einen längerfristigen Vertrag für den Posten des Cheftrainers angeboten. Vielleicht willigt del Bosque auch deshalb ein, weil das Arbeitspapier eine Klausel enthält, die bei Erfolglosigkeit einen unmittelbaren Wechsel zurück in seine angestammte Aufgabe als Jugend-Koordinator vorsieht.

Doch von Erfolglosigkeit ist weit und breit nichts zu sehen: In seinen nicht einmal vier Jahren als Chef-Trainer der Madrilenen ist del Bosque mit dem Gewinn von zwei Champions-League-Titeln, zwei spanischen Meisterschaften, je einem nationalen wie internationalen Supercup sowie des Weltpokals weit erfolgreicher als irgendein anderer Real-Coach in der Ära der Galaktischen.

Dies kommt natürlich nicht von ungefähr, denn del Bosque versteht es hervorragend, die vielen wild zusammengekauften Weltstars und Individualisten so gut wie nur möglich in ein Gesamtkonzept einzugliedern. Es gelingt ihm, die ihm vorgesetzten Stars allesamt in die Mannschaft zu bringen, diese aber dennoch im Gleichgewicht zu halten und einen taktischen Kompromiss zu finden. Für das quasi aufgezwungene Personal liefert dieser Kompromiss das noch bestmögliche System.

Ein einfühlsamer Improvisationskünstler ist del Bosque nebenbei nicht nur im taktischen Sinne, sondern auch als Coach, der mit Fingerspitzengefühl und Menschenkenntnis seine Stars führt, mit diesen gut zurecht kommt und zwischen den bisweilen schwierigen sowie glamourösen Persönlichkeiten eine Harmonie aufbauen und halten kann. „Mein Beitrag war es, eine gewisse Einfachheit beizubehalten, diese ganze Welt des Marketings zu entdramatisieren“, sagt er heute rückblickend.

Real Madrids taktische Formation im Champions-League-Finale 2000 gegen Valencia (3:0)

Beim ersten europäischen Triumph 2000 ist eine Dreierkette der Schlüssel, da die weiten Vorstöße von Roberto Carlos dadurch sowohl für diesen einfacher möglich sind als auch besser abgesichert werden. Nach zwei derben Pleiten in der Zwischenrunde gegen die Bayern wirft del Bosque die Viererkette über Bord – der offensive Carlos und der ebenfalls sehr vorwärtsverteidigende Hierro hinterlassen für die Bayern riesige Lücken. Auch ein Hybrid aus 3-5-2 und 4-3-1-2 mit Geremi, der als nomineller rechter Halbspieler die Viererkette situativ verstärken soll, bringt nicht den erwünschten Erfolg. So entscheidet sich del Bosque für das klassische 3-4-1-2 – mit Absicherung für Roberto Carlos, aber ohne Hierro, der häufig nur noch auf der Bank sitzt. Auf der rechten Seite muss Michel Salgado deutlich defensiver spielen als Roberto Carlos, weil für McManaman nur noch ein Platz in der Zentrale bleibt und dieser dann schon auf die Außen rochiert. Sein Partner, Weltstar und Kapitän Redondo, bekommt in der Zentrale somit viel Raum um sich zu entfalten, ist dennoch abgesichert und kann leicht mit Raúl kombinieren. Durch die Bewegung um ihn herum kann dieser auch auf der Zehn seine Qualitäten zeigen, wodurch den beiden recht klassischen Endstürmern Morientes und Anelka beiden ein Platz in der ersten Elf zusätzlich zu Raúl eingeräumt werden kann.

Durch das Aufrücken eines der drei zentralen Verteidiger – meistens erfüllt diese Aufgabe Helguera oder Hierro, wenn er spielte – kann die Formation auch zu einem 4-3-1-2-artigen System umgewandelt werden.

Real Madrids taktische Formation im Champions-League-Finale 2002 gegen Leverkusen (2:1)

Dieses System wird man auch beim Titelgewinn zwei Jahre später verwenden, auch wenn man die Raute diesmal in ganz anderer Ausführung, nämlich eher als 4-1-3-2 interpretiert. Mittlerweile sind mit Luis Figo und Zidane zwei neue Stars zur Offensive der Madrilenen hinzugekommen. Eine Dreierkette wäre Ressourcenverschwendung, da sie die freien Plätze in der Offensive verknappen würde, und so wählt del Bosque eine Viererkette, in welcher die offensiven Ausflüge Roberto Carlos´ durch eine defensivere Spielweise von Salgado sowie einen zerstörenden Sechser aufgefangen werden. Dieser Sechser ist Claude Makélélé, ein wenig kreativer, aber offensiv wie defensiv enorm verlässlicher Mittelfeldspieler, der als Wellenbrecher vor der Abwehr agieren und durch seine Wendigkeit sowie Spielintelligenz den großen Raum hinter der Offensive zulaufen kann.

Mit Figo und Solari werden die Halbpositionen der Raute durch recht offensive Spieler besetzt, was allerdings funktioniert, weil beide über eine gute Technik, Spielintelligenz und ein gutes Verständnis für die Absicherung verfügen. Somit arbeiten sie auch Spielmacher Zinedine Zidane zu, dessen Verpflichtung Raúl eine Ebene nach vorne verschiebt – der ewige Madrilene wird in der Spielgestaltung entlastet und kann sich verstärkt auf den Bereich in der Nähe des Strafraumes konzentrieren. Weil Anelka nicht mehr bei den Madrilenen spielt, muss neben Raúl nur noch Morientes in die Mannschaft gebracht werden, während Zidane in einem 4-3-1-2 am besten auf der Zehn spielen kann. Außerdem hat Raúl als hängende Spitze den primären Kreativspieler mit Zidane erneut (wie 2000 mit Redondo) hinter sich und nicht neben sich, wenn Raúl auf der Zehn und Zidane halblinks gespielt hätte.

Erst die enorm moderne Leverkusener Mannschaft in ihrem beweglichen und asymmetrischen 4-1-4-1 ohne echten Stürmer kann das in Kauf genommene Provisorium eines Systems ausnutzen – und dennoch im Finale 2002 nicht gewinnen.

Zur kommenden Saison wird unter großem Medienrummel der WM-Star und –Torschützenkönig Ronaldo verpflichtet – ein weiterer großer Name, der in der Startaufstellung spielen muss. Schon in der Vorsaison hat del Bosque neben dem 4-1-3-2 auch ein 4-2-3-1 spielen lassen, das durch einen zweiten Spieler vor der Abwehr für mehr defensive Sicherheit sorgt. Morientes und Solari müssen nun für Ronaldo und den zusätzlichen Sechser weichen.

Hinter Ronaldo bilden Figo auf rechts, Raúl im Zentrum als hängende Spitze und Zidane eingerückt auf links die Dreierreihe. Diese Aufteilung hat sich in der Vorsaison bewährt, nachdem Zidane in der zentral-offensiven Position mit Problemen zu kämpfen hatte. Im 4-2-3-1 habe er nur einen anstelle von zwei Stürmern vor sich gehabt, wie es in den klassischen 4-3-1-2- und 3-4-1-2-Systemen in seiner Juventus-Zeit gewesen war, so Zidane später. Mit dem Wechsel auf die linke Seite kommt del Bosque den Wünschen seines Stars nach. Nun wird der nach vorne ziehende Raúl für den nach innen ziehenden Zidane zur gewünschten zweiten Anspielstation neben Ronaldo, obwohl sich die Formation effektiv nicht verändert hat – nur der Standpunkt.

Real Madrids bevorzugte taktische Formation in der Saison 2002/03

Nach der Verpflichtung von Ronaldo führt del Bosque nicht nur die doppelte Mittelfeld-Absicherung als Standard ein, sondern forciert auch eine deutliche Asymmetrie im System, dessen Schwerpunkt nun auf der linken Seite liegt. Mit dem eingerückten Zidane, dem leicht abkippenden Ronaldo sowie dem vorstoßenden Roberto Carlos auf dieser dominanten Seite können immer wieder Überzahlen kreiert und Spielzüge durch den Halbraum gestartet werden. In diesem Raum wird die individuelle Klasse einiger Akteure gebündelt und ihre Qualitäten feinfühlig aufeinander abgestimmt, während dahinter auf der Sechs Makélélé oder der junge Esteban Cambiasso absichern.

Als Gegengewicht zum abenteuerlustigen Roberto Carlos muss Rechtsverteidiger Michel Salgado noch etwas vorsichtiger spielen und die starke linke Seite absichern. Dadurch besteht aber die Gefahr, dass der ohnehin auf der schwächeren Seite spielende Luis Figo isoliert werden würde. Doch del Bosque lässt Figo in einer breiten Rolle spielen, der immer wieder von der Konzentration des Gegners auf die linke Madrider Seite zum Beispiel nach Seitenverlagerungen profitieren soll. Um den Raum zwischen dem breiten Figo und dem tiefen Salgado zu schießen, spielt der halbrechte Sechser – für gewöhnlich Flavio Conceicao – etwas offensiver und rochiert auf die rechte Seite, um die dort sowie im Halbraum entstehenden Löcher zuzulaufen. Insgesamt entsteht erneut eine starke, fluid und kreativ spielende Mannschaft, die del Bosque aus den vielen Offensivindividualisten formen kann – auch wenn es erneut ein Drahtseilakt ist.

Im Sommer 2003 reißt das Drahtseil abrupt und es kommt zum Ende der Beziehung zwischen del Bosque und Real Madrid. Das Aus im Halbfinale der Champions League kann durch einige mitreißende Auftritte und den Gewinn der spanischen Meisterschaft scheinbar nicht bei Präsident Pérez „wiedergutgemacht“ werden. Noch in der Meisternacht wird del Bosque zum Dank von seinem Amt entbunden, was Pérez damit begründet, dass man einen Trainer brauche, „dessen Profil besser zu unserem Image passt.“

Die Art und Weise, wie del Bosque nach weit über 30 Jahren aus „seinem“ Verein entfernt wird, hinterlässt tiefe Narben: „Der Bruch hat sich angefühlt, als wäre er mit einem Bruder passiert.“ Immer wieder übt er ungewöhnlich harsche öffentliche Kritik an der Vereinsführung und ist gar so verbittert, dass er jegliche Ehrungen seitens Real Madrid für seine Dienste bisher kategorisch abgelehnt hat.

Selección mit weißer Weste zu zwei Titeln geführt

Nach einer einjährigen Pause und einem ebenfalls einjährigen, wenig erfolgreichen Intermezzo bei Besiktas Istanbul (liegt dies vielleicht darin, dass dies die einzige Station del Bosques ohne wirkliche Stars ist?) nimmt sich del Bosque erneut eine Auszeit, die mehrere Jahre dauert, ehe er mit aufgeladenem Akku im Juli 2008 die spanische Nationalmannschaft von Luis Aragonés übernimmt, der sich mit dem Gewinn der Europameisterschaft aus seinem Amt verabschiedet. Insofern übernimmt del Bosque keine leichte Aufgabe.

Spaniens taktische Formation im Confed-Cup-Halbfinale 2009 gegen die USA (0:2)

„Was nicht kaputt ist, muss nicht repariert werden“, meint del Bosque, lässt sein erfolgreiches Team ohne die wirklich großen Veränderungen einfach weiter spielen und die Dinge laufen. Anfangs mit Erfolg, denn die Spanier eilen von Sieg zu Sieg und stellen Rekorde für ihre Serien auf. Doch dann kommt der Confederations-Cup 2009, die Generalprobe für die Weltmeisterschaft, welche man unbedingt gewinnen will – im Halbfinale scheiden die Spanier verdient gegen den Außenseiter USA mit einem überraschenden 0:2 aus.

Del Bosque meint nun, dass er etwas verändern muss. Die seit der Aragonés-Zeit gespielte Formation – je nach Personal ein 4-1-3-2 oder ein 4-1-4-1 – scheint ihm nicht mehr stabil genug. Alleine kann Xabi Alonso die Räume vor der Abwehr nicht abdecken in diesem Spiel, während der hochstehend zockende  Charlie Davis, der sich in einer Zwischenposition aus zentralem und äußerem Angreifer befindet, durch seine gefährlichen Diagonalläufe Sergio Ramos bindet und Spanien die Breite im Spiel nimmt. Um mehr defensive Sicherheit und mehr Befreiung für Ramos zu erreichen, führt del Bosque einen zweiten Sechser ein.

Spanien im WM-Finale 2010 gegen die Niederlande (1:0 n.V.)

Es dauert nicht lange bis ein junger Mann sich aufmacht, diesen Posten perfekt auszuführen – der Aufstieg Sergio Busquets passt del Bosque haargenau in sein Konzept. Ein spielintelligenter Sechser, der hinter offensiven Künstlern aufräumt ohne spielerisch abzufallen – del Bosque erkennt im neuesten „Produkt“ der berühmten „La Masia“-Ausbildung eine moderne Version von sich selbst. Bis zur Weltmeisterschaft ist das neue System eingeübt und zeigt sich dort auch funktionstüchtig. Nach der Auftaktniederlage gegen die Schweiz folgt nur noch ein einziges Gegentor auf dem Weg zum Titelgewinn. Auf der anderen Seite der Medaille, allerdings, entsteht dadurch offensiv ein Problem, das sich in den zahlreichen 1:0-Siegen manifestiert und auch zwei Jahre später ein großer Gesprächspunkt sein wird.

Innerhalb dieser Zeitspanne – zwischen Welt- und Europameisterschaft – testet del Bosque fast schon wild und nimmt in den Freundschaftsspielen auch einige sehr schwache Ergebnisse in Kauf: 1:4 gegen Argentinien, 0:4 gegen Portugal, 1:2 gegen Italien. Das Ausprobieren reicht von einem enorm fluiden 4-2-4-0 über ein enges 4-2-3-1 mit Fábregas als Zehner bis hin zu klassischen 4-3-3- und 4-4-2-Systemen. In den WM-Qualifikationsspielen wird dieses Experimentieren allerdings nur in erheblich geringerem Umfang durchgeführt, so dass man in der eher schwachen Gruppe ohne Punktverlust Erster wird, und am Ende setzt del Bosque dann wieder auf das Bewährte: Ein 4-3-3 mit seinen vier Spielmachern Busquets, Xabi Alonso, Xavi und Iniesta.

Bei der WM spielten in der Offensive neben Iniesta zusätzlich mit Villa und Torres zwei Stürmer oder Villa sowie ein etwas breiterer Spieler, meistens Pedro. Zur Europameisterschaft ist dann Villa verletzt, wohingegen David Silva durch eine starke Entwicklung bei del Bosque inzwischen absolut gesetzt ist. Um den Posten des einzigen Stürmers streiten sich Torres und Fábregas. Die offensiven Probleme des Systems del Bosque sind aber dieselben geblieben, wenngleich Jordi Alba als Linksverteidiger wie ein Segen wirkt.

Durch gleich vier Spielmacher wird der Ballbesitz in verstärktem Maße provoziert. Unproduktive Passstafetten und eine Redundanz im Spiel sind die Folge – die vielen Zirkulationsstationen in der Tiefe spielen den Ball ewig hin und her, ohne nach vorne zu kommen. Die Spielmacher stehen sich gegenseitig im Weg und füllen die Rolle des jeweils anderen bereits aus, so dass man effektiv einen Spieler zu viel hat, der ohne wirkliche Funktion ist und an anderer Stelle fehlt. Diese Stelle ist meistens das letzte Drittel, in welchem man nicht genug Präsenz entwickeln kann und in welches man zu selten hineinspielt, da sich alle Spielmacher in der Tiefe des Raumes ballen, dort aber beschneiden.

Zusammengenommen ergeben der zurück verlagerte Spielschwerpunkt sowie die verringerte Stärke im Angriff ein langsames, teilweise schleppendes und zu stark auf den Ballbesitz fokussiertes Offensivspiel. Ohne genügend Zug zum Tor und Durchschlagskraft wird es von den Zuschauern zu Recht als nicht attraktiv empfunden.

Spaniens taktische Formation im EM-Finale 2012 gegen Italien (4:0)

So geht das fast das gesamte Turnier hindurch. In der Vorrunde kann das 4:0 gegen das irische Fallobst noch beschwichtigen, doch spätestens mit der Art und Weise des Halbfinal-Sieges gegen Portugal sind alle Zweifler, Kritiker und Skeptiker wieder da. Vicente del Bosque scheint seine Gabe verloren zu haben, alle zur Verfügung stehenden Individualisten unter einen Hut zu bringen, denn aus der Mannschaft heraus nehmen kann er keinen seiner vier Spielmacher.

Doch so sehr Öffentlichkeit und Taktikblogs del Bosque auch für seine Aufstellung und Taktik kritisieren, übersehen sie dabei vielleicht, dass del Bosque eigentlich schon die ganze Zeit auf seine typische Art und Weise die Starspieler, die er spielen lassen muss, so gut wie möglich einsetzt. Für jene Spieler lässt del Bosque im Großen und Ganzen die beste Taktik praktizieren. Dass diese Taktik in der Theorie bei weitem nicht alles aus dem gesamten Kader herausholt, fällt diesmal – beispielsweise im Gegensatz zu seiner Zeit bei Real Madrid – nur besonders auf.

Es gibt wenige Optionen für del Bosque – und so nimmt er dann die offensiven Nachteile seines erzwungenen Systems in Kauf und kann sich wenigstens über die so entstehenden defensiven Vorteile freuen. Sein System sorgt für erhöhte defensive Stabilität, da durch die vermehrte Ballsicherheit Ballverluste minimiert werden, in fast allen Situationen verhältnismäßig viele Spieler hinter dem Ball sind und man generell die Räume im Mittelfeld und vor der Abwehr stärker besetzt und folglich auch stärker verengt als andere Teams. Mit nur einem Gegentreffer im gesamten Turnier werden die Spanier ihre eigene Bestmarke noch einmal unterbieten und wie schon 2008 und 2010 auch 2012 ohne Gegentor in den K.O.-Spielen den Titel gewinnen. Zum zweiten Mal führt del Bosque seine Mannschaft mit weißer Weste zum Fußball-Thron.

Hätte es das fast schon furiose Finale gegen Italien nicht gegeben, hätte diese weiße Weste allerdings wohl nur faktisch, keinesfalls aber im übertragenen, moralischen Sinne existiert. Doch mit dem 4:0 gegen „das neue Italien“ schießt sich Spanien in den Fußball-Olymp und zeigt den Zuschauern endlich, was sie sehen wollen. Einige kleine Anpassungen des eigenen Systems an die Besonderheiten der italienischen Rautenformation genügen zu einer entfesselten Vorstellung. In Wahrheit ist del Bosque von seinem Prinzip aber kaum abgerückt.

Was zeichnet Vicente del Bosque aus?

Das Besondere an del Bosque ist, dass er es hervorragend versteht, eine Balance zwischen Stars und System herzustellen und für die zur Verfügung stehenden Akteure das bestmögliche System kreiert. Er ist kein innovativer Trainer, der in jahrelanger Arbeit die gesamte Mannschaft austauscht, um seinen Plan vom Fußball zu verwirklichen. Vielmehr gelingt es ihm, alle vorgesetzten Starspieler unter einen Hut und in eine funktionierende Taktik zu bringen, auch wenn diese Spieler zunächst kaum zusammen zu passen scheinen.

In seiner Spielerkarriere musste er eine Brücke zwischen der Identität seines Vereines und seiner familiären Ausrichtung schlagen. Als Trainer von Real Madrid musste er alle vorhandenen Starspieler irgendwie in die Mannschaft quetschen, aber das System dennoch funktionstüchtig halten und gleichzeitig Streitereien zwischen den großen Namen verhindern.

Auch als spanischer Nationaltrainer hatte er aufgrund der hohen Erwartungen durchaus einiges zu verlieren und dabei eine schwere Aufgabe. So musste er taktische und offensive Nachteile in Kauf nehmen, um keinen der vier tiefen Spielmacher aus der Mannschaft nehmen zu müssen. Er schaffte es letztlich wieder, den Kompromiss zum Erfolg zu führen.

Schließlich gelang es del Bosque, auch zwischen den Spielern der rivalisierenden Lager aus Barcelona und Madrid jene Harmonie wieder herzustellen, die durch so manchen „Clásico“ beschädigt worden war. Die einstigen Freunde Casillas und Xavi sollen zerstritten gewesen sein, während Ramos und Piqué sich angeblich weigerten, zusammen in der Innenverteidigung zu spielen. Diese Situation konnte del Bosque entschärfen.

Vicente del Bosque ist kein Taktikfuchs und auch kein moderner Innovator. Man sollte ihn aber auch nicht auf den Menschenversteher reduzieren, der für Harmonie unter Starspielern sorgt und sie bei Laune hält. Sein taktisches Improvisationstalent und seine taktische Flexibilität im Zusammenführen einer Unzahl von Topspielern in ein Kompromiss-System verdienen ebenfalls hohe Anerkennung.

Vincent del Bosque ist ein großer Mann, den seine Bescheidenheit prägt. Er weiß, seine eigene Persönlichkeit im Hintergrund zu halten und sich kompromissbereit einer Sache zu verschreiben. Taktisch wie zwischenmenschlich und auch im öffentlichen Auftreten beherrscht er es in Perfektion, den Mittelweg zwischen Extremen zu finden. Dass der spanische Nationalheld in einer schlichten Etagenwohnung eines Madrider Neubaugebietes lebt, steht symbolisch für das, was ihn als Trainer auszeichnet.

Ernst Happel, Grantler & Genie

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 Ernst Happel war nicht nur ein Mann der großen Taktiken, sondern auch der kauzigen Worte. Dementsprechend gehen seine Errungenschaften noch über die Vielzahl an Titel hinaus, die er sammelte, denn er war schlichtweg eine der großen Persönlichkeiten des Fußballs sowie einer seiner größten Vordenker.

„Ein Tag ohne Fußball ist ein verlorener Tag.“

Der Spieler Happel

Ernst Franz Herrmann Happel war ein hervorragender Spieler: als Stopper (Happel spielte links, rechts war Max Merkel, zumeist noch in einem 2-3-5) begeisterte er bei Rapid Wien die Massen. Bereits mit 17 Jahren erhielt er während der Kriegszeit seinen ersten Einsatz bei der Kampfmannschaft, nach seinem Einsatz als Soldat in Russland wurde er nach dem Krieg zum Stamm- und Führungsspieler.

Rapid Wien 1951, welche später ein südamerikanisches 2-3-5/3-2-2-3 adaptierte sowie modern und mit Abseitsfalle spielte

Obwohl er als Verteidiger spielte, war er zumeist der auffälligste Spieler auf dem Platz, welcher durch seine hervorragendes Ballgefühl, seine Spielintelligenz und seine spektakulären Einlagen beeindruckte.

„Als ich mit 13 in den Verein bin kommen, war ich links wie rechts technisch schon perfekt. Als Bub‘ ist man ins Stadion gegangen, hat sich was abgeschaut, und kaum war man wieder draußen, hat man versucht, es nachzumachen, mit einem Tennisball, einer Konservendose. So ging das. Heute? Die Jugendtrainer üben mit den Buben fünf Viertelstunden, davon eine Stunde ohne Ball. Laufen, laufen, aber keiner zeigt den Jungen, was sie machen sollen mit dem Ball.“

Gelegentlich fing er lange Bälle des Gegners mit dem Hintern ab, spielte locker lässig als letzter Mann auf Abseits oder rückte in die Offensive auf. Rapid Wien war zu jener Zeit eine der taktisch und technisch besten Mannschaften Europas, sie tourten auch öfters durch Südamerika, wo sich Happel einiges abschauen konnte.

„Aber was hab‘ ich von einem Wuttke, der nur mit dem Ball spielt, und ohne Ball kommt nichts.“

1951 wurde Rapid – mit Neuverpflichtung Gerhard Hanappi im Mittelfeld und der brasilianischen Variante des 2-3-5/3-2-2-3 – Meister mit einer unglaublichen Statistik. In 24 Spielen erzielten sie 133 Tore und erhielten 40 Gegentore bei nur einer Niederlage.

„Bei der Manndeckung hast du elf Esel auf dem Platz stehen!“

Auch in der Folgesaison wurden sie Meister und fingen sich die wenigsten Gegentore ein. Dennoch war die Saison 1950/51 etwas Besonderes, weil man auch international Erfolge feiern konnte, nämlich den Gewinn des – nur in diesem Jahr gespielten – Zentropacups, dem geplanten Nachfolger des Mitropacups (Vorläufer des UEFA-Cups). Happel erzielte auch das entscheidende 3:2 im Finale.

„Man muss dem Gegner seinen Stil aufzwingen und darf ihn nicht zur Ruhe kommen lassen.“

Seine Torgefahr bewies er auch auf andere Art und Weise: In der österreichischen Nationalmannschaft erzielte er ein Eigentor beim Stand 14:0, weil ihm das Spiel zu langweilig wurde. Dennoch war er eine der Stützen jener Mannschaft, die 1954 Dritter wurde.

„Was bist du? Der Tiger von Glasgow, der Panther von Budapest? Du bist des Oaschloch von Hütteldorf.“ – Happel zu Torhüter Walter Zeman nach dem Eigentor

Seine größte Stunde dürfte er aber 1956 gefeiert haben. Nach zwei Jahren in Paris kehrte er wieder zu Rapid zurück und traf im Pokal der Landesmeister auf Real Madrid. Im Hinspiel in Madrid verloren sie noch klar, doch in Wien erzielte Happel drei Tore und Rapid gewann 3:1. Wegen des Fehlens der Auswärtstorregel gab es aber ein Entscheidungsspiel in Madrid, welches Rapid verlor.

„Den Gegner in dessen Hälfte zurückdrängen, ihn festnageln, am Aufbau behindern“, und als Krönung: „Zerschlagen, was noch gar nicht entstand; sich dann selber entwickeln.“

Weitere große Triumphe blieben Happel verwehrt, seine Karriere beendete er 1959. Ein Jahr nahm war er noch an der Weltmeisterschaft teil, bei der er vor einem Spiel „fensterlte“.

Anfänge als Trainer

Nach zwei überaus erfolgreichen Jahren als Sektionsleiter von Rapid Wien, in welchem die Österreicher sogar das Halbfinale des Landesmeisterpokals erreichten, wechselte er als Trainer zu ADO Den Haag nach Holland. Sechs Jahre sollten es werden, in welchen Happel seine ersten Trainererfahrungen sammelte.

„Im Fußball ist er ein Unbelehrbarer, weil ihm keiner mehr was vormachen kann. Einmal kann der Zufall auch dem einfältigsten Trainer zu irgendeinem Siegspott verhelfen. Aber der Happel räumte überall ab. Das ist Können. Mit Ado Den Haag gewann er Hollands Fußballpokal, mit einer Mannschaft, die der Jupp Derwall zum Schweinehüten geschickt hätte.“ – Max Merkel

Aus dieser Zeit stammt die Anekdote der Dose auf der Latte – Happel schoss sie herunter, seine Spieler schafften es nicht. Ob diese Anekdote stimmt, ob die Geschichte erst Jahre später beim HSV passierte (so abgeändert, dass es auch Beckenbauer schaffte) oder ob Happel dies öfter tat, lässt sich nicht nachvollziehen. Diese Legendenbildung ist aber auch eines der Merkmale von Ernst Happel – wo er auch war, gab es unglaubwürdige Geschichten, absurd klingende Mythen und allerlei schwärmende Spieler.

„Das Spieljahr beginnt mit einem Vorbereitungslager, ideal sind sechs Wochen. Zwei Wochen davon finden intern statt, ohne Außenwelteinflüsse. Dreimal am Tag ist Training. Das wird koordiniert mit fünf bis sechs Spielen. In diesen zwei Wochen kommt es auf die Schleiferei an. Später ist dann alles mehr spielerisch.“

Bei ADO entwickelte er seine Mannschaft in diesen sechs Jahren kontinuierlich. Der ehemalige Abstiegskandidat war ein gefürchteter Gegner, welcher durch seine enorme konditionelle Stärke vielen anderen Mannschaften voraus war.

„Am Ende ließen wir nur noch die Köpfe hängen und fragten uns, welchen Fuchs von Trainer haben die?“ – Günter Netzer nach einem Spiel gegen Feyenoord und deren Abseitsfalle

Feyenoords Mannschaft überzeugte mit Abseitsfalle, Pressing, 4-3-3 (mit verkapptem Libero Israel) und ungeheurer Spielstärke

Allerdings implementierten sie auch ein neues 4-3-3-System sowie ein aggressives Pressing, welches somit als eines der ersten bestätigten organisierten Pressing-Systeme Europas (neben Maslovs und Lobanovskiys Mannschaften in der Sowjetunion) in die Taktikgeschichte einging. Es sprang sogar ein Cup-Sieg heraus, welcher letztlich zu Happels Wechsel nach Rotterdam führte.

Erfolge auf internationaler Bühne

Dort heuerte er bei Topteam Feyenoord an. Bereits im ersten Jahr gewannen sie Meistertitel und siegten sogar in Landesmeister- und Weltpokal. In den folgenden Jahren wurden sie noch einmal Erster, mussten sich aber zwei Mal Rinus Michels‘ Ajax geschlagen geben. Happel ging auf eigenen Entschluss nach Spanien.

„Wir haben so viel erlebt, ich muss aufhören. Mit zu viel Siegen geht die Disziplin zurück. Wir werden zu sehr Freunde. Man leidet und weint, man lacht und gewinnt zusammen. Und das darf nicht zu lang dauern.“ – Ernst Happel zu seinem Abgang von Feyenoord

Bei Betis Sevilla schaffte er den Aufstieg in die erste Liga und qualifizierte sich mit seiner Mannschaft im Folgejahr für den UEFA-Pokal, doch auch in Andalusien blieb er nicht lange. Er wechselte nach Belgien zum FC Brügge, wo er in drei Jahren drei Mal Meister wurde, einmal sogar das Double holen konnte, aber zweimal im Finale scheiterte. Das erste Mal noch im UEFA-Cup, zwei Jahre später gegen Liverpools legendäre 78er-Mannschaft, welche bereits zwei Jahre zuvor Brügge besiegten.

„“Hopp hopp, komm‘, komm‘, Bewegung Bewegung!“ hallt es unvermittelt über die Trainingsplätze in Ochsenzoll fordernd. Dann ein langgezogenes, krächzendes „Mach‘ ma‘ Teeempo!“, das der kurz zuvor noch wie schläfrig im jungen Gras herumstochernde Coach in ein Übungsspiel schleudert. Es kickt die Stammelf gegen die Reservisten, und die Reservisten haben den Ball. Für Ernst Happel genau die Situation, nun seine „Erste“ zum Angriff zu peitschen. Und aus dem Stand heraus gerät das ganze Team urplötzlich in Jagdfieber, wird der Partner gehetzt.“ – Hans-Joachim Noack im Spiegel

Im Sommer 1978 übernahm er die niederländische Nationalelf, mit welcher er bis ins Finale der Weltmeisterschaft kam. Rob Rensenbrink traf in der 89. Minute den Pfosten, in der Verlängerung verloren die Niederländer letztlich – und dennoch ist Ernst Happel in seinem Heimatland Österreich bis heute der „Wödmasta“.

„In Utrecht streckten Zuschauer Messer durch das Sperrgitter. Ich sah gleich, daß die meinen Pelz nicht erreichten und blieb sitzen. Ruhe entschärft die größte Totalität.“

Nach der Weltmeisterschaft wechselte er zu Standard Lüttich, wo er in zwei Jahren einmal den Cup holte,und schließlich landete er beim Hamburger SV.

Der Mythos Ernst Happel entsteht

Ließ er beim HSV wieder die Cola- oder womöglich gar eine Bierdose von der Latte schießen? Zumindest laut Manfred Kaltz machte er das. Tut aber auch wenig zur Sache, denn es war die Art und Weise, wie sich Ernst Happel präsentierte und welche Erfolge er holte.

zwei zentrale Mittelfeldspieler (Jansen und Poortvliet) als Außenverteidiger, ein Außenverteidiger (und zentraler Mittelfeldspieler, wie wohl alle damals) Krol als aufrückender Libero, Flügelstürmer Rep statt des fehlenden Cruijffs im Sturmzentrum: Polyvalenz und Spielstärke an allen Ecken und Enden

In der Ära nach Schleifer Branko Zebec baute Happel auf dem hervorragenden taktischen Grundgerüst auf, verfeinerte es und baute eine der besten Mannschaften Europas. Gegen IFK Göteborg verloren sie 1981 knapp das UEFA-Cup-Finale, zwei Jahre später bezwangen sie überraschend Juventus Turin – eine ganz eigene Geschichte, die wir noch erläutern werden.

„Er wurde ja immer als knurrender Hund hingestellt, aber er war genau das Gegenteil. Nur ein Beispiel: Wir konnten Sonntagmorgen die Kinder mit zum Training nehmen. Happel liebte Kinder, er war verrückt nach ihnen und die Kinder liebten ihn. Er war ein lebensfroher Mensch, Fußballfachmann, einfach ein guter Typ.“ – Horst Hrubesch über seinen ehemaligen Trainer

Noch heute ist dies der große Erfolg in der Geschichte der Hamburger. Felix Magath traf mit einem wunderbaren Linksschuss, die Anzugmänner der Turiner verloren somit gegen Hamburgs „einfache Kerle“ und ihren immer grantigen Trainer Happel. Bis 1987 blieb er bei den Rothosen, holte noch einen DFB-Pokal und diente auch als Berater von Nationaltrainer Franz Beckenbauer.

„Vor dem Endspiel im Europapokal 1983 gegen Juventus Turin hat er einen Spaziergang auf einem Golfplatz anberaumt. Jakobs, Kaltz, Magath und ich waren dabei. Es sollte geklärt werden: Platini in Manndeckung nehmen, ja oder nein? Wir haben das Für und Wider abgewogen. Wir waren der Meinung, dass es nicht Not tut und Happel sagte: ,Gut, dann bleiben wir dabei, spielen wir keine Manndeckung’. Hat ja ganz gut geklappt.“ – Horst Hrubesch im Interview mit welt.de

Er verschwand nach Österreich, übernahm dort Swarovski Tirol und wurde später sogar Nationaltrainer seines Heimatlands. Seine Erkrankung an Lungenkrebs zeigte sich aber schon deutlich, Kritiker sprachen davon, dass man Ernst Happel beim Sterben auf der Trainerbank zusah. Vier Tage vor einem Länderspiel gegen Deutschland starb er und einer der Größten hörte mit nur 67 Jahren viel zu früh zu existieren auf.

„Nach der letzten Analyse hat mir der Doktor aus Wien einen Brief geschrieben, darin stand, es kann bösartig sein. Von dem Brief habe ich nur eineinhalb Zeilen gelesen, dann habe ich ihn wieder in die Tasch“n reingehaut und mir gedacht: Rutscht mir den Buckel runter. Hab ich an Krebs, na dann hab ich an Krebs. Ich kann’s nicht ändern.“

Was war so besonders an Ernst Happel?

Womöglich die schwerste Frage, weil ihre Antwort so vielschichtig und schwierig zu ergründen ist. Günther Netzer sprach einst davon, dass Happel der „menschlichste aller Schleifer“ sei. Dabei war Happel weder ein Schleifer noch ein „Grantler“. Im Gegenteil – Happels authoritäres Gehabe war nur Show, für die Medien und für die Spieler.

„Können Sie sich vorstellen, dass er anordnet, Aerobic zu machen? Zwei Frauen hat er engagiert, uns ins Studio beordert und wir mussten das den Damen nachmachen. Das war neu, faszinierend und passte perfekt als Ergänzung zum normalen Training. Happel hat immer über den Tellerrand geguckt, fragen Sie Günter Netzer.“ – Horst Hrubesch

die Hamburger spielten mit dem verkappten und aufrückenden Libero Hieronymus, mit der personifizierten Bananenflanke Manni Kaltz auf rechts, einer Asymmetrie und Spielgestalter Magath, welcher die gegnerische zona libera nutzte, um den Siegtreffer zu erzielen

Anders als Felix Magath, welcher die Angst seiner Spielern nutzt, verlangte Happel nur Respekt. Doch diesen Respekt brachte er auch seinen Spielern gegenüber; etwas, was mit der Angst nicht möglich ist. Happel stand somit auf einer Stufe mit seinen Spielern, sah sie als ebenbürtig an und ließ sie auch untereinander diskutieren. Die entstandenen Lösungsansätze nutzte er dann zur eigenen Entscheidungsfindung. Ein Konzept, welches mündige Spieler förderte, ohne sie zu fordern.

„Wenn der Spieler nicht den Ball beherrscht, sondern der Ball beherrscht den Spieler, dann ist es vorbei.“

Es ist zwar kein partizipativer Führungstil oder ein demokratischer, unterscheidet sich aber doch von einer autokratischen Führungsart, welche von Branko Zebec oder heute noch von Felix Magath genutzt wird. Ernst Happel nutzte sein Charisma und seine natürliche Autorität, um seine Spieler von sich zu überzeugen und zu beeindrucken. Seine unbestrittene Kompetenz tat ihr übriges.

„Wenn ich mit ihm als Spieler gesprochen habe, vermittelte er nie den Eindruck, er sei der Boss und ich sein Untergebener. Es war ein Gespräch unter Gleichen. Er hatte immer versucht, seine Idee zu vermitteln. Wer eine bessere hatte, der musste sie belegen, dann wurde die genommen.“ – Horst Hrubesch

Am ehesten könnte man ihn diesbezüglich mit Ottmar Hitzfeld vergleichen, wobei Happel seiner Zeit in puncto Professionalität auf dem Trainingsplatz deutlich voraus war, weswegen das Image des Schleifers entstand – Pünktlichkeit, Disziplin, Teamwork waren seine Schlagwörter, die er prinzipiell durchsetzte.

„Was die Spieler wollen, interessiert mich nicht. Man muss in erster Linie Mensch sein. Man kann hart auftreten, ohne Brutalität, aber menschlich. Die Spieler müssen Respekt haben. Ein Spieler kann nur Respekt haben, wenn er überzeugt ist, dass der Trainer ein Fachmann ist und die Materie beherrscht, sonst lachen die Spieler den Trainer aus.“

Allerdings ist es falsch, wenn man ihn nur auf sein Training, seine konditionsstarken Mannschaften und sein Charisma reduziert. Happel konnte alles. Er spielte mit den Medien, hatte immer die Aufmerksamkeit auf sich und hatte in gewisser Weise die Ausstrahlung eines Mourinho ohne dessen antipathischen Züge in die Öffentlichkeit zu tragen – stattdessen schwieg er oder gab seine legendären Kurzantworten. Desweiteren beschäftigte er sich laut eigener Aussage mit moderner Trainingsmethodik, überlegte sich psychologische Tricks und war taktisch wohl der Beste seines Fachs.

„Man muss alle Voraussetzungen mitbringen, die den Fußball betreffen. Erstens einmal der konditionelle Aufbau von die Spieler, zweitens das taktische Vermögen, man muss immer bei der Zeit sein, es ändert sich innerhalb von drei, vier, fünf Jahren, da kommt meistens ein neues System oder neue Varianten. Es ist natürlich nicht gesagt, dass man das anpassen muss, man muss das Spielermaterial dafür auch haben.“

Die Abseitsfalle, welche Rapid in den Fünfzigern aus Südamerika nach Europa brachte, installierte er in all seinen Mannschaften. Ebenso ließ er schon mit Raumdeckung spielen und wandelte das vereinzelte Pressing oder leichte kollektive Aufrücken in ein organisiertes Pressing um, welches zumeist als Angriffspressing mit einem 4-3-3 gespielt wurde. Dieses 4-3-3 hat sich übrigens Rinus Michels abgeschaut, der bis dahin eher den Weg des 4-4-2 nach Lobanovskiy gegangen war. Dieser hatte nicht nur einen Flügelstürmer des 4-2-4 zurückgezogen, wie Brasilien mit Zagallo 1958, sondern beide.

Happel hingegen pfiff darauf, er zog nicht die Außen zurück, sondern einen der Mittelstürmer und hatte somit zwei Flügelstürmer, drei zentrale Akteure und einen Mittelstürmer – zu jener Zeit eine Revolution, wobei Happel wie Lobanovskiy ja auch mit 4-5-1-ähnlichen Systemen zu experimentieren wusste.

„Happel hat ihn nur ziemlich häufig geflachst. Er sagte zu mir mal: ,Zauberer, ich lass‘ den Netzer nachher mit trainieren. Aber ihr spielt ihn nicht ein Mal an’. Haben wir gemacht. Netzer ging nach 15 Minuten auf mich los: ‚Horst, das ist doch auf deinen Mist gewachsen?!’ Happel hat sich totgelacht.“ – Horst Hrubesch

Außerdem konnte er sich hervorragend an die spezifischen Umstände eines Gegners oder eines Spiels anpassen. Über Juventus sprach er 1983 vor dem Finale von einer „großen Mannschaft mit kleinen Schwächen“, gegen Celtic im Finale 1970 ließ er ein aggressiveres Pressing mit Mannfokus auf Johnstone spielen, welcher außerdem im Abwehrpressing gedoppelt wurde. Moulijn sollte sogar Pässe Hays auf Johnstone versperren, auch andere Spieler wurden zum richtigen Zustellen von Passwegen instruiert – es dürfte wohl die erste dokumentierte organisierte Nutzung der Deckungsschatten sein.

„Ich bin für offensiven Fußball, von hinten raus, daß ist das totale Spiel. Bei einem starken Gegner muß man jedoch auch zunächst defensiv spielen und dann schnelle Konterangriffe führen. Immer muß der Gegner früh angegriffen werden, alles zusammen nenne ich Pressing.“

Happel trainierte übrigens auch so, wie es später Volker Finke „erfinden“ sollte: Entdeckungslernen statt rezeptivem Lernen im Training. Darum waren seine Mannschaftsansprachen auch so kurz (á la „Geh‘ ma raus. Und’s Pressing ned vergess’n“), weil seine Spieler schon vom Training her genau wussten, wie sie sich auf dem Platz zu verhalten hatten. Große Ansprachen waren dabei nicht nötig, denn die Bewegung auf dem Feld war vorherbestimmt und kein Zufallsprodukt. Die wunderbare Arbeit gegen den Ball  entstand in den Stunden, Wochen und Monaten auf dem Trainingsplatz, nicht an der Taktiktafel oder dem Reißbrett.

„Happel konnte jedem Spieler erklären, was er von ihm wollte. Nicht mit Worten, gesprochen hat er ja nicht. Seine Übungseinheiten waren so, dass es den Spielern in Fleisch und Blut über ging.“ – Max Merkel

Ob Medien, Psychologie, Trainingslehre, Taktik oder Philosophie – Ernst Happel war ein Visionär, ein Theoretiker und Praktiker, ein Romantiker und ein Pragmatiker. Dazu war er auch so einfach und simpel, dass er für die nach Komplexität schreienden Experten schlichtweg paradox wurde; und er ist es bis heute.

„Wunder gibt es keine, höchstens Merkwürdigkeiten. Bei der letzten Weltmeisterschaft in Argentinien trainierte ich die Holländer. Kurz vor dem Turnier spielten wir gegen Österreich. Da haben wir mit dem verdickten Mittelfeld operiert, wie es die Mannschaft vor meiner Zeit getan hatte. Fünf Mann im Mittelfeld, nur einer in der Sturmspitze. Wir siegten 1:0. Später im WM-Turnier spielten wir wieder gegen die Österreicher, aber nun mit meinem Pressing, drei Sturmspitzen. Die Österreicher dachten noch an Hollands alte Masche und griffen selber an. Wir hatten viel Platz und siegten 5:1.“

Unter diesem Link findet ihr übrigens einen kleinen Nachruf von RM zu Ernst Happel sowie über seine Symbolträchtigkeit für den österreichischen Fußball.

Rinus Michels – Der General

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„Es ist eine Kunst für sich eine Startformation zu entwerfen, die Balance zwischen kreativen Spielern und denen mit zerstörerischen Kräften zu finden, und zwischen Verteidigung, Aufbau und Angriff – ohne dabei die Qualität des Gegners und die spezifischen Zwänge eines jeden Spiels zu vergessen.“ – Rinus Michels

Portrait: Rinus Michels

In der Fußballgeschichte gibt es zahlreiche erfolgreiche Mannschaften, die lange in Erinnerung geblieben sind. Oft wurden diese Mannschaften von großen Trainern geformt. Jeder Trainer schreibt dabei seine eigene Geschichte. Der Erfolg von Rinus Michels sticht besonders hervor, denn der Niederländer wurde zu einer der zentralen Personen im europäischen Fußball.

Michels formte nicht nur irgendeine erfolgreiche Mannschaft, er baute das berühmte Ajax-Team der 60er und 70er Jahre auf, er „erfand“ 1974 mit der holländischen Nationalelf den Totaalvoetbal, den totalen Fußball, und wurde 1988 Europameister. Dazu legte Rinus Michels zusammen mit seinem Schützling Johan Cruyff die Basis des heutigen Fußballs beim FC Barcelona.

Der junge Rinus und das englische Ajax

Marinus Jacobus Hendricus Michels wurde am 9. Februar 1928 in Amsterdam einige hundert Meter vom Olympiastadion entfernt geboren. Der kleine Rinus war ständig am kicken und durfte, auch zur Freude seines Vaters, im Alter von 12 Jahren der Jugendabteilung von Ajax Amsterdam beitreten. Joop Köhler, ein Funktionär von Ajax, hatte das Talent auf den Straßen von Amsterdam spielen sehen und, ohne es zu wissen, eine der wichtigsten Persönlichkeiten im zukünftigen europäischen Fußball entdeckt. 1946 war es für den Amsterdamer Jungen so weit, Rinus Michels lief erstmals für die A-Mannschaft von Ajax auf. Er war zwar nicht der Spieler mit der besten Technik, aber ein gefährlicher Angreifer und bekannt für seinen Arbeitseifer und auch als Spaßmacher.

Auf der Weltkarte des Fußballs waren die Holländer bisher nicht aufgefallen, taktisch hatte man sogar das WM-System lange Zeit verschlafen. Die teilweise Professionalisierung des Fußballs in den 50ern war ein erster Schritt um den holländischen Fußball aus der Bedeutungslosigkeit zu holen. Dazu wirkten die Rivalitäten zwischen Clubs aus den verschiedenen Städten wie ein Katalysator für die Entwicklung in den 60er Jahren.

Ajax Amsterdam hatte seine erste Hochphase in den 1930er Jahren, als unter Jack Reynolds fünf Meisterschaften gefeiert werden konnten. In den 50er und Anfang der 60er Jahre hatten vor allem Vereine aus Eindhoven, Tilburg und Rotterdam die Nase vorne, auch wenn unter dem Österreicher Karl Humenberger 1957 und dem Engländer Vic Buckingham 1960 Meisterschaften gewonnen werden konnten.

Englische Trainer hatten einen großen Einfluss auf den Verein und damit auch auf Rinus Michels. Acht Trainer hatten diese Nationalität, und einige brachten es auf mehr als eine Amtszeit. Besonders Jack Reynolds war prägend für den Verein, insgesamt dreimal war Reynolds zwischen 1915 und 1947 Trainer bei Ajax. Dazu gesellten sich, bis Michels den Posten übernahm, ein Ire, ein Schotte, ein Ungar, zwei Österreicher und tatsächlich auch zwei Niederländer (die aber nur im Krieg von ´41 bis ´42 etwas zusagen hatten).

Durch Jack Reynolds und Vic Bukingham wurde Rinus Michels schon als Spieler das Flügelspiel und Angriffsfußball eingeimpft. Reynolds legte Wert auf die technischen Fähigkeiten der Spieler und dazu auch den Grundstein für eine Jugendausbildung bei Ajax.

122 Liga-Tore schoss Michels in seiner aktiven Karriere bis 1958 für Ajax, mit denen er 1947 und 1957 niederländischer Meister wurde; ´57 in der gerade erst gegründeten Eredivisie. In der Nationalmannschaft durfte Michels nur fünfmal Auflaufen, ohne dabei ein Tor zu erzielen.

Nach dem Ende der Spielerkarriere aufgrund einer Rückenverletzung, studierte Michels Sportwissenschaften und ließ sich zum Masseur und Krankengymnasten ausbilden. Neben seiner Arbeit an einer Schule für taubstumme Kinder, durchlief er die gerade erst eingeführte Trainerausbildung beim niederländischen Fußballverband und trainierte bis 1964 die Amateure von JOS Amsterdam. Nach einem Jahr beim AFC Amsterdam trat Rinus Michels bei Ajax Amsterdam seinen ersten Trainerjob bei einer Profimannschaft an.

Mit Ajax an die Spitze

Der Trainer Rinus Michels übernahm seinen Heimatclub Anfang 1965 und verhinderte zunächst den drohenden Abstieg. So wie einst Jack Reynolds mehr als nur die Aufstellung festlegte, hatte auch Michels einige Baustellen erkannt. Besonders im taktischen Bereich und bei der Disziplin sah der Trainer Handlungsbedarf: „Die Situation ist die: Wir müssen bei null anfangen. Gewiss ist ein gutes Spielerkontingent vorhanden, aber was Disziplin und Taktik angeht, liegt manches im Argen.“

Michels kümmerte sich darum, dass seine Spieler Vollprofis werden konnten, um sich ganz auf das Training und die Spiele konzentrieren zu können. Dazu konnte er taktisch und strukturell auf die von Reynolds und Buckingham gelegten Grundlagen aufbauen: vom erstgenannten die Jugendabteilung und das Flügelspiel, vom direkten Vorgänger die Idee vom ballbesitzorientierten Fußball. Die beiden Engländer hatten im Angriff bzw. im Ballbesitz die beste Art der Verteidigung gesehen.

Der damalige Ajax-Präsident Jaap van Prag, und die Investoren Wim und Freek van der Meijden und Maup Caransa, waren ein weiterer Glücksfall für den Verein, denn sie trieben Geld für den Kader auf. So wurde Johan Cruyff der zweite Vollprofi in Holland, nach Piet Keizer.

Der Europapokal war in den ersten Jahren unter Rinus Michels ein auf und ab. Liverpool wurde 1966 mit 5:1 und 2:2 geschlagen. Dem folgte aber das Ausscheiden gegen Dukla Prag, welches der damalige Kapitän Frits Soetekouw, der zum 1:2 ins eigene Tor getroffen hatte, damit bezahlte, dass er seinen Namen prompt auf der Transferliste lesen durfte und nie wieder für Ajax spielte.

Michels sortierte in den ersten Jahren immer wieder Spieler aus (auch Nationalspieler), die den Ansprüchen im Europapokal nicht gewachsen waren und baute um Cruyff, die schon etwas älteren Angreifer Piet Keizer, Sjaak Swart und die Verteidiger Wim Suurbier und Barry Hulshoff eine neue Mannschaft auf.

Ein weiterer wichtiger Spieler war Velibor Vasovic, der schon mit Partisan Belgrad 1966 das Landesmeisterfinale gegen Real Madrid verloren hatte. Er war erfahren und selbstbewusst, und sollte neben Verteidiger Barry Hulshoff als offensiver Libero spielen. Verpflichtet wurde der Jugoslawe aber auch wegen seiner Siegermentalität: „Ich war der beste Fußballer des ehemaligen Jugoslawiens und brachte viel Erfahrung mit. […] Wenn man das Trikot überstreift und die Schuhe schnürt, muss man gewinnen, sonst sollte man lieber zu Hause bleiben und Fernsehen gucken. Mit dieser Einstellung konnte ich den holländischen Fußballern sehr helfen, weil sie nicht von Natur aus so waren.“

Zunächst wurde das System auf ein 4-2-4 umgestellt, diese Formation war durch die Brasilianer schon 1958 populär gemacht worden und Ajax hatte mit Piet Keizer, Johan Cruyff, Sjaak Swart und Henk Groot eine formidable Angriffsreihe.

Disziplin und Motivation

War er als Spieler zwar ein harter Arbeiter aber auch ein Scherzkeks gewesen, so verdiente sich Michels als Trainer den Ruf eines Disziplinfanatikers und das natürlich mit Absicht. Er hatte nämlich das Problem, noch so manchen Spieler des Teams aus seiner aktiven Zeit zu kennen. Also entschied er sich die Zügel besonders stramm anzuziehen. Dabei schreckte der General, wie er auch genannt wurde, nicht vor radikalen Entscheidungen zurück.

Den Spitznamen verdankte Michels, nach eigener Aussage, auch der Tatsache, dass er anfangs wenig mit den Spielern diskutierte, weil sie im Taktischen nicht reif genug waren. Später habe er dann mehr mit seinen Führungsspielern geredet.

Die Härte war für Michels ein notwendiger Schritt die Distanz zur Mannschaft zu halten. Es funktionierte für ihn einfach am besten. Neben dem Platz war er umgänglich und freundlich zu seinen Spielern, beim Training oder im Stadion waren Spieler nur Nummern, die kommandiert und beleidigt wurden.

Sogar sein Co-Trainer bei Ajax Bobby Haarms fühlte sich wie von einem Tierdompteur behandelt. Und Toni Schumacher sagte über ihn: „Michels war ein knochenharter Kerl, abgrundtief gehasst und geachtet zugleich. … Das Training war eine einzige Quälerei: Gymnastik, Laufen bis zur Erschöpfung, ‚angefeuert’ durch beleidigende Bemerkungen wie ‚Kriecher’, ‚Flaschen’, ‚Idioten’, ‚Dilettanten’. Meine Freunde Pierre Littbarski und Klaus Allofs waren zutiefst gekränkt, glühend vor Wut, fühlten sich wie Sklaven behandelt. Es drohte ein regelrechter Aufstand. … Rinus Michels konnte nie nett sein; wie kein anderer konnte er seinen Spielern auch noch den letzten Rest an Humor austreiben, sie erniedrigen.“

Es war nicht ungewöhnlich, dass Spieler demontiert wurden, die in einem Spiel enttäuscht hatten. Gleichzeitig brachte er anderen ein enormes Vertrauen entgegen und stärkte sie auf mentaler Ebene. Ruud Krol erinnerte sich, wie Michels ihm sagte, „Vergiss van Duivenbode: Du bist besser“, und fügte selber an: „Wenn ein Trainer den Linksverteidiger der Nationalmannschaft verkauft und dich auf seine Position stellt, erlebst du eine Explosion des Selbstbewusstseins.“

Ajax Amsterdam im Landesmeisterfinale 1969

Ajax Amsterdam im Landesmeisterfinale 1969

Im ersten Versuch im Finale des Europapokals der Landesmeister scheiterte Ajax am AC Mailand. Zu beginn spielte Cruyff noch neben Groot und Pronk im Mittelfeld, schob sich aber immer weiter nach vorne. Nach dem frühen Rückstand durch Prati (7.) verlor Ajax die Linie und musste sich am Ende mit 4:1 geschlagen geben.

Die Idee des 4-2-4 war, dass ein Verteidiger ins Mittelfeld stoßen konnte, um dort als dritter Spieler Unterzahlsituationen zu verhindern. Der Offensivdrang der Verteidiger, für den Ajax berühmt werden sollte, war schon klar zu erkennen und auch Positionswechsel in der Offensivreihe gab es schon. Nur war Ajax nicht kompakt und presste nicht im Kollektiv, so entstand ein Bruch zwischen Abwehr und Angriff im 4-2-4 und Milan konnte das Mittelfeld leicht überbrücken.

Die schmerzhafte und verdiente Niederlage gegen den AC Mailand sollte Ajax stärken. Die Spieler hatten nun ein großes Finale bestritten und erkannt, dass sie noch nicht gut genug waren. Sie mussten noch lernen in einem Spiel die Taktik anpassen zu können. „Es heißt, dass man manchmal ein Finale verlieren muss, um ein Finale zu gewinnen, und das ist wahr“, bemerkte Hulshoff später. Für Michels gab es aber noch zwei weitere Spiele, die ihm zeigten was noch verändert werden musste.

Das größte Ärgernis der Finalniederlage von ´69 war, dass der holländische Doublegewinner Feyenoord Rotterdam unter Ernst Happel im nächsten Jahr im Landesmeisterpokal antreten durfte und ihn auch noch gewann. Ajax musste im Messe-Pokal spielen. Dort verloren sie mit 3:0 gegen Arsenal in Highbury und wenig später spielten sie 3:3 gegen Feyenoord.

Happel hatte ein Team mit geringerer kreativer Qualität als Ajax aber dafür mit einer geschlossenen Taktik zur Verfügung. Sie spielten 4-3-3 (1970 übrigens mit Theo van Duivenbode den Michels abgeschoben hatte), waren zweikampfstark, diszipliniert und hatten eine enorme Moral. Ajax wurde wieder im Mittelfeld geschlagen und Michels stellte auf 4-3-3 um, in dem er zunächst Johan Cruyff ins Mittelfeld zurückzog.

Den Unterschied zwischen den beiden Taktikern von Ajax und Feyenoord erklärte Theo van Duivenbode, der nacheinander unter beiden trainiert hatte: „Michels war ein Experte darin, die Taktik vor dem Spiel zu planen und die Spieler physisch und mental vorzubereiten, aber Happel sezierte das Spiel. … Er [Happel] las das Spiel so schnell, dass er nach wenigen Minuten von der Bank eingreifen konnte.“

Das Mittelfeld war nicht Michels’ einziges Problem. Nach den Serienmeisterschaften von 1966 bis 1968 wurde es mit dem Titel 1970 schwerer die zunehmend defensiv agierenden Gegner zu bezwingen. Als Lösung bekamen die Verteidiger bei Ajax die Anweisung sich am Spielaufbau und an Angriffen zu beteiligen. Um nicht die Abwehr zu entblößen, mussten nun im Gegenzug die offensiveren Spieler mehr für die Defensive tun; ging ein Verteidiger nach vorne musste ein anderer Spieler absichern. Daraus entwickelten sich die Positionswechsel, die heute immer mit dem totalen Fußball in Verbindung gebracht werden und die zunächst strikt auf die vertikalen Linien bezogen wurden. Die Außenverteidiger gingen nach vorne und wurden von ihren Vorderleuten abgesichert. Vasovic war weiterhin der Libero, der den Gegner Abseits stellte, sich ins Mittelfeld schob und damit ein 3-4-3 System erzeugte. Michels hatte mit seiner Mannschaft einen Stil entwickelt bei dem anscheinend jeder Spieler auf jeder Position spielen konnte.

Ajax Amsterdam im Landesmeisterfinale 1971

Im zweiten Anlauf klappte es mit dem Landesmeistertitel, diesmal im 4-3-3

Triumph in Europa

1971 bekam Ajax gegen Panathinaikos Athen die nächste Chance auf Europas Krone. Bei Amsterdam spielte Neeskens, 19 Jahre alt, rechts in der Verteidigung und beteiligte sich, wie auch Suurbier am Offensivspiel. Keizer und Cruyff waren die wenigen Spieler, die sich auch horizontal auf dem Feld verschoben. Cruyff, weil ihm eigentlich alles erlaubt war, er ließ sich links wie rechts blicken und spielte auch im Mittelfeld. Keizer verschob gerne nach links wenn Cruyff seine Position verließ. Die vakante Mittelstürmerposition konnte van Dijk dann besetzen.

Was sich in den zwei Jahren seit dem verlorenen Finale gegen Milan geändert hatte, war aber vor allem das Pressing und Überzahl im Mittelfeld. Die ganze Mannschaft spielte wesentlich kompakter, ging die Gegenspieler früh an um den Ball zu erobern, und auch die Stürmer arbeiteten in der eigenen Hälfte in der Verteidigung mit.

Neeskens war später im Mittelfeld bei Ajax und Oranje der Schlüssel für das Pressing. Er verfolgte den gegnerischen Spielmacher oft tief in dessen Hälfte und die Abwehr rückte einfach nach. Es war ein natürlicher Prozess, wie bei den Positionswechseln in der Offensive.

Es gibt aber auch eine andere Begründung für die hohe Abwehrlinie, die der Brasilianer Marinho Peres von Johan Cruyff später bei Barcelona erklärt bekam: „Die holländischen Spieler wollten den Raum reduzieren und alle in ein enges Band bringen. Die ganze Logik der Abseitsfalle besteht darin, das Spiel einzuengen. Das war völlig neu für mich. In Brasilien dachten die Leute man könne den Ball einfach über die Abwehr spielen, irgendwer stößt durch und hebelt die Abseitsfalle aus, aber so funktioniert das nicht, weil du keine Zeit [am Ball] hast.“

Blankenburg und Haan kamen im Finale 1971 nach der Pause für Rijnders und Swart. Haan sorgte kurz von Schluss für den 2:0 Endstand, nachdem van Dijk schon in der fünften Minute die Führung erzielt hatte. Michels hatte eine Gruppe mit Talenten und Künstlern zu hart arbeitenden Gewinnern gemacht und mit Ajax Amsterdam den ersten Europapokal gewonnen, nach sechs Jahren Entwicklung seiner Mannschaft. Sjaak Swart sagte Jahrzehnte später: „Wir waren alle Sieger. Wir haben nicht versucht, Künstler zu sein.“

Neuanfang in Barcelona

Nach diesem Triumph suchte Rinus Michels die Veränderung und wechselte zum FC Barcelona. Der spanische Traditionsverein hat wie Ajax eine englische Vergangenheit. Zwei Gründungsmitglieder waren Engländer und im Vereinswappen findet sich das Kreuz von St. Georg, der in England und Katalonien als Schutzpatron verehrt wird.

Der FC Barcelona stand sportlich bisher im Schatten von Real Madrid. Ironischerweise übernahm Michels den Posten als Cheftrainer vom selben Mann wie sechs Jahre zuvor bei Ajax: Vic Buckingham, der ´71 noch die Copa del Rey gewonnen hatte. Barças Titelsammlung war noch recht dünn und besonders in den 60er Jahren lief es nicht. Dazu hatte die Mannschaft bis zu Buckinghams Einstellung 1969 elf Trainer gesehen seit der letzte Meistertrainer Helenio Herrera 1960 den Verein verlassen hatte.

Dreimal wurde in Europa bis 1966 der Messe Pokal gewonnen. Trotzdem musste sich Barça nach den erfolgreichen 50er Jahren regelmäßig hinter Real Madrid einordnen. Auch ganz große Spieler, wie Kubala, Kocsis und Czibor, konnten den größten europäischen Pokal nicht gewinnen. Der Verein sah sich zu Sparmaßnahmen genötigt, darum enthielt der Kader 1971 einige selbstgezogene Talente (was Michels sicher zusagte).

Formation: FC Barcelona 1974

Die Formation des FC Barcelona beim 5:0 gegen Real Madrid 1974

Vom neuen Trainer wurde nun nicht weniger erwartet, als eine Spielweise zu etablieren wie sie von Ajax Amsterdam bekannt war: offensiv und dominant. Das 4-3-3 einzuführen war kein Problem, weil Barcelona schon vorher mit Flügelstürmern spielte. Schwieriger war es gerade in der Offensive das richtige Personal zu finden. Michels konzentrierte sich zunächst auf die Verteidigung und schaffte es mit seiner Mannschaft in den ersten drei Spielzeiten jeweils die wenigsten Gegentore in der Liga zu kassieren.

Probleme hatte Michels eher mit der taktischen Disziplin einiger Spieler, die gerne mehr machten als ihre Basisaufgaben zu erfüllen und damit die Balance in der Mannschaft gefährdeten. Die spanische Mentalität unterscheidet sich in diesem Punkt einfach von der holländischen und das ungleich höhere Medieninteresse in Spanien wirkte verstärkend, in dem es einen größeren Druck auf die individuelle, für die Öffentlichkeit sichtbare Leistung aufbaut und mannschaftsdienliches Spiel oft unterschätzt.

In den ersten beiden Jahren unter Michels erreichte Barcelona den dritten und den zweiten Platz in der Liga und hatte dabei vor allem Probleme Tore zu schießen. Der Trainer hatte zwar früh auch den schnellen Spielaufbau mit schnellem Nachrücken und Pressing ins Training aufgenommen und immer wieder üben lassen um die Fehleranfälligkeit einer hoch stehenden Abwehr auszumerzen. Es fehlte im Angriff aber die individuelle Klasse, die bei Ajax noch im Überfluss vorhanden gewesen war.

Dies änderte sich im Sommer 1973 als Johan Cruyff sich zum FC Barcelona transferieren ließ. Dem Wechsel ging in Amsterdam angeblich ein Streit ums Kapitänsamt voraus, dessen genaue Umstände hier nicht von großer Bedeutung sind. Cruyffs Schwiegervater hatte den Millionendeal mit Barça eingefädelt, nur der niederländische Verband verweigerte zunächst seine Zustimmung und Barcelona musste in den ersten sechs Ligaspielen auf den Erlöser warten.

Cruyff war das fehlende Puzzlestück im Angriff der Katalanen, er schlug sofort ein und führte Barcelona zum nationalen Titel. Dabei erhöhte die Mannschaft die Torausbeute von 41 Toren in der Vorsaison auf 75 Treffer, ohne wesentlich mehr Gegentore hinnehmen zu müssen. Ein weiterer Höhepunkt der Saison 73/74 war ein 5:0 Sieg im Auswärtsspiel bei Real Madrid.

Nach der Weltmeisterschaft in Deutschland folge auch Johan Neeskens Michels nach Barcelona, wo er bis 1979 spielte (Cruyff erklärte ´78 seinen ersten Rücktritt) und im letzten Jahr auch den Europapokal der Pokalsieger gewann. Michels dagegen ging nach der verpassten Titelverteidigung 1975 in Richtung Amsterdam, kehrte aber nur ein Jahr später zurück. In den letzten beiden Spielzeiten in Barcelona erreichte er jeweils den Vizetitel und gewann 1978 noch die Copa del Rey. Danach machte Michels bis 1980, wie er es selber bezeichnete, „bezahlten Urlaub“ in Amerika bei den Los Angeles Aztecs.

Der Bondscoach

Vier Mal war Rinus Michels Nationaltrainer seines Heimatlandes. Der am wenigsten erfolgreiche Abschnitt umfasste drei Spiele im Jahr 1984. Danach blieb Michels bis 1986 technischer Direktor beim Verband, während Leo Beenhakker der Trainerposten übernahm.

Aber der Reihe nach: Die Niederländer, bzw. der königliche niederländische Fußballbund KNVB ging mit dem Posten des Bondscoach zuweilen etwas, sagen wir mal, unorthodox um. Es war durchaus nicht ungewöhnlich einen Trainer zu haben, der dann pünktlich zu einem Turnier von einem großen Namen ersetzt wurde. Ernst Happel und Jan Zwartkruis lieferten sich ein seltsames Wechselspiel vor der WM 1978, ehe Happel für das Turnier übernahm. Und auch Michels Vorgänger Frantisek Fadrhonc wurde nach überstandener Qualifikation pünktlich zum Turnier zum Co-Trainer degradiert. Die Erklärung für diese kurzen Anstellungen liegt darin, dass Michels, wie auch Happel, an Vereine gebunden waren und in der Regel auch kein großes Interesse an einem langfristigen Job als Nationaltrainer hatten. Es kam aber auch vor, dass Trainer von Spielern gestürzt wurden.

Formation: Holland 1974

Hollands Stammelf bei der WM ´74

Holland erlangt weltweite Anerkennung…

Als Michels das Amt des Bondscoach erstmals übernahm hatten die Niederlande international bisher keine Bäume ausgerissen. Für eine EM hatte man sich noch nie qualifiziert und an einer WM hatte Holland letztmals vor dem zweiten Weltkrieg teilgenommen. Dagegen stand, dass Feyenoord und Ajax von 1970 bis ´73 alle Titel im Landesmeisterwettbewerb gewonnen hatten. Michels hatte zur WM ´74 also sein altes Team wieder am Start, das unter Stefan Kovacs zweimal den Europapokal verteidigt hatte und dabei von Kovacs’ weniger harten Mannschaftsführung profitierte.

Ein paar Veränderungen waren aber notwendig. Die Ajax Mannschaft hatte sich weiterentwickelt und nicht alle Spieler standen zur Verfügung. Die nicht verfügbaren Ausländer und die Holländer, die aus persönlichen Gründen die WM absagten, ersetzte Michels vor allem durch Spieler von Feyenoord. Wim van Hanegem und Wim Jansen gingen ins Mittelfeld und Arie Haan musste den Posten des Liberos neben Innenverteidiger Wim Rijsbergen übernehmen. Dazu kam Rob Rensenbrink aus Anderlecht, der Piet Keizer auf die Ersatzbank verdrängte, und im Tor wurde tollkühn auf Jan Jongbloed gesetzt. Der hatte sein bisher einziges Länderspiel 1962 bestritten und verloren. Er war aber dafür bekannt mit dem Ball am Fuß etwas anfangen zu können und Michels brauchte einen Torwart der hinter einer hoch stehenden Defensive den Libero geben konnte.

Für Michels war es vor allem wichtig, dass seine Spieler hinter dem taktisch riskanten Kurs standen, denn er wollte nicht nur den dominanten Fußball von Ajax spielen lassen, sondern auch aggressives Angriffspressing (jagen in der gegnerischen Hälfte). Zunächst testet die Nationalelf gegen Amateurteams, die natürlich tief in der eigenen Hälfte standen und somit zum Pressing einluden. Es war wichtig immer wieder über dieses System zu reden, um es zu verbessern und die richtige Abstimmung zu finden.

Michels sagte zu seinen Spielern vor der WM, dass die Entscheidung für diesen dominanten und aggressiven Stil die schwierigste Entscheidung sei. Die Spieler müssten es auf dem Feld umsetzten und auf einzelne Spieler könne keine Rücksicht genommen werden. Dafür sei diese Art Fußball zu spielen aber auch etwas für echte Liebhaber.

Das erste Testspiel vor der WM gegen Österreich ging schief und das 1:1, einschließlich  nachfolgender Kritik in den Medien, war die Bewährungsprobe für die Mannschaft. Ein 4:1 Sieg gegen Argentinien bestärkte Michels aber darin an seiner Strategie festzuhalten.

Das Turnierformat bestand aus zwei Gruppenphasen, denen sich das Finale direkt anschloss. In der Vorrunde gab es zwei Siege und ein unterhaltsames 0:0 gegen Schweden. Und in der zweiten Gruppenphase wurde Argentinien mit 4:0 aus dem Parkstadion in Gelsenkirchen geschossen. Dann folgte ein 2:0 gegen die DDR und das, nach Aussage Ruud Krols, vielleicht beste Spiel der Holländer bei diesem Turnier gegen Brasilien.

Auch wenn dieses Spiel Bestandteil der Gruppenphase war, hatte es dennoch den Charakter eines Halbfinals, in dem beide Teams um den ersten Platz und die Finalteilnahme spielten (wie beim anderen „Halbfinale“ zwischen der Bundesrepublik und Polen). Im ersten Durchgang hatte Holland in der einen oder anderen Szene noch Glück, ließ die Brasilianer aber immer wieder ins Abseits laufen. Das frustrierte den Titelverteidiger, der zu ein paar harten Fouls griff. Holland verschob sich komplett über das ganze Feld, alle Spieler machten den Raum eng in der Verteidigung und wenn nicht auf Abseits gespielt wurde, fand man alle Holländer in ihrer Spielhälfte. Bei Ballbesitz schob das ganze Team nach vorne. Neeskens und Cruyff sorgten für die Tore in der zweiten Halbzeit.

… und scheitert auf der Ziellinie

Auch im Finale gegen den Gastgeber lief zunächst alles nach Plan. Schon in der zweiten Minute traf Neeskens per Elfmeter zur Führung, die Deutschen hatten zu diesem Zeitpunkt noch nicht eine Ballberührung.

Doch was ein optimaler Start in ein Finale sein sollte, wird heute von einigen ehemaligen Spielern als Ausgangspunkt der Niederlage betrachtet. Johnny Rep sagt in David Winners Oranje brilliant: „Für uns war es nicht gut, in der ersten Minute ein Tor zu machen. Wir haben angefangen, die Deutschen lächerlich zu machen. Wir haben es nicht bewusst getan, aber wir haben es trotzdem gemacht. Den Ball hin und her gepasst. Und dabei haben wir vergessen, das zweite Tor zu schießen.“

Dafür wurden die Holländer bestraft. In der 25. Minute glich Paul Breitner aus, ebenfalls per Foulelfmeter, und Gerd Müller erzielte noch vor der Pause die Führung für den Europameister. Danach bissen sich Cruyff, Rep und Co. die Zähne an Sepp Maier aus.

Der Spielverlauf warf einige Diskussionen auf, denn auf beiden Seiten kam es zu fragwürdigen oder knappen Entscheidungen des Schiedsrichters. Die pikantesten Schlagzeilen machten aber eine angebliche Nacktparty im Hotelpool der Holländer (noch vor dem Brasilien-Spiel). Die Veröffentlichung dieser Affäre durch die Bild Zeitung wurde lange Zeit als eine Erklärung für die Niederlage im Finale herangezogen. Von einem stundenlangen nächtlichen Telefonat Cruyffs mit seiner Ehefrau war die Rede. Was davon der Wahrheit entspricht ist bei unzähligen und teilweise unterschiedlichen Aussagen nicht nachzuvollziehen. Michels war aber zumindest so verärgert, dass er sich weigerte auf Pressekonferenzen Deutsch zu sprechen.

Das Verhalten der holländischen Spieler im Trainingslager bei der WM entspricht überhaupt nicht dem Ruf des Bondscoach ein harter Hund zu sein. Aber Michels war schon in der Vorbereitung zum Turnier für ein paar Tage nach Spanien gereist um den FC Barcelona zu betreuen. Die Leitung des Teams hatte er auch in die Hände seiner Führungsspieler gelegt, besonders von Johan Cruyff der schon als junger Spieler ein Trainer auf dem Feld gewesen war. Michels hatte die alte Ajax Truppe als mündige Gruppe von Spielern in Erinnerung, die sich in vielen Belangen selber coachte. Ohne den öffentlichen Eklat in der Bild Zeitung wäre auch kein Zweifel an der Disziplin der Truppe aufgekommen. (Die deutschen Spieler wagten beim gleichen Turnier den Aufstand weil sie wie Schuljungen behandelt wurden.)

Der Schmerz dieser Niederlage beschäftigte die Holländer wahrscheinlich länger als sie es zugeben wollten. Auch Aussagen, wie die von Johan Cruyff, „Es gibt keine höhere Auszeichnung, als für seinen Stil gelobt zu werden“, können nicht über die ständig wiederaufkeimenden selbstzerstörerischen Kräfte der niederländischen Nationalmannschaft hinwegtäuschen. Andererseits brachte erst das WM Turnier, mit seiner internationalen Fernsehpräsenz, dem Totaalvoetbal die fast grenzenlose Bewunderung, die noch heute anhält.

Beim EM-Endrundenturnier 1976 scheiterte Holland im Halbfinale an der Tschechoslowakei, weil es sich wahrscheinlich schon im Finale gegen die Deutschen wähnte. 1978 erreichte die Niederlande unter Ernst Happel erneut das WM Finale und unterlag Argentinien. Von 1982 bis 86 nahmen sie an allen drei großen Turnieren nicht teil und auch in den 90ern bremsten interne Querelen Oranje immer wieder aus. Aber Michels zweites Turnier als sportlicher Leiter und eine neue Spielergeneration brachten den lange ersehnten Erfolg.

Der Erfolg mit van Basten, Gullit und van Breukelen

Nach dem schon erwähnten kurzen Intermezzo auf der holländischen Trainerbank 1984, kehrte Rinus Michels 1986 endgültig zur Nationalmannschaft zurück. Die Zeit des totalen Fußball war zwar vorbei, doch Mitte bis Ende der 80er stand eine neue Generation talentierter Fußballer bereit. Der PSV Eindhoven hatte 1988 den Landesmeisterpokal gewonnen und Ajax im selben Jahr das Finale des Pokalsiegerwettbewerbs erreicht, ´87 hatten sie den sogar gewonnen. Das Fußballjahr 1988 war also orange.

Michels konnte, im Vergleich zur WM ´74, nicht auf einen Stamm bauen, den er selber schon einmal im Verein trainiert hatte. Dafür hatte er einige der besten Fußballer der 80er Jahre zur Verfügung und viele dieser Spieler kannten sich von Ajax oder PSV.

Im Angriff Marco van Basten und Ruud Gullit, beide spielten seit 1987 beim AC Mailand. Das Mittelfeld bildeten, von rechts nach links, Gerald Vanenburg, Jan Wouters, Arnold Mühren und Erwin Koeman. Mühren hatte 1974, mit 23 Jahren, als Teil des Kaders kein Spiel bei der WM gemacht, wurde 14 Jahre später aber von Rinus Michels wieder für ein Turnier berufen. Vanenburg nahm gerne zentrale Positionen ein und verstärkte so das Mittelfeldzentrum mit Gullit.

Wenn Vanenburg den Flügel frei gab, versuchte Berry van Aerle von der Position des rechten Verteidigers nach vorne zu stoßen, um für Gefahr vom Flügel zu sorgen. Auf der anderen Seite spielte Adri van Tiggelen etwas zurückhaltender, weil Erwin Koeman mehr über die Außenbahn kam.

Erwins jüngerer Bruder Ronald Koeman und Frank Rijkaard bildeten das Duo in der Innenverteidigung: Ronald Koeman als Libero und Frank Rijkaard als Mischung aus Innenverteidiger und 6er vor der Abwehr. Im Tor stand Hans van Breukelen. Schaut man die Abwehrkette an, dann beinhaltete sie einen offensiven Außenverteidiger, einen gelernten Mittelfeldspieler und zwei Liberos, neben Koeman war auch van Tiggelen im Verein oft Innenverteidiger oder Libero.

Rijkaard interpretierte seine Rolle offensiv und auch Ronald Koeman war ein aktiver Part im Spielaufbau. Dieser Offensivdrang von drei der vier Verteidiger musste ab und an auch mal von Jan Wouters abgesichert werden.

Im Angriff war Marco van Basten ein Fixpunkt. Nur im ersten Gruppenspiel gegen die Sowjetunion spielten John van ’t Schip und John Bosman für Erwin Koeman und van Basten. Die Partie war auch die einzige Niederlage und der Grund warum man als Zweitplatzierter der Gruppe im Halbfinale auf Deutschland traf.

Holland im EM Finale 1988

Im EM Finale 1988 spielte Holland ein 4-4-1-1

Michels ließ nicht mehr im 4-3-3 spielen, sondern verzichtete auf die hoch spielenden Flügelstürmer. Cruyff spielte in den 70ern das, was man heute als false 9 bezeichnet. In der Offensive blieb die Position des Mittelstürmers auch mal frei, um dann dynamisch besetzt zu werden. Defensiv standen meist mindestens zwei Stürmer vor dem Mittelfeld.

Die neue holländische Mannschaft spielte Kompakter im Mittelfeld. Van Basten aber blieb vorne. Gullit zog sich manchmal sogar bis zur Abwehr zurück, dann stand er wieder neben seinem Sturmpartner. Vanenburg rückte nach innen. So wurden im Mittelfeld die Anspielstationen für den Gegner zugestellt. Dazu agierte die Abwehr weiterhin hoch und verengte den Raum.

Zwei fragwürdige Elfmeter in der zweiten Halbzeit und ein Tor von van Basten besiegelten die deutsche Niederlage im Halbfinale. Für die Holländer war der Sieg in diesem hitzigen Spiel eine Erlösung nach der Schmach im WM Finale ´74.

Im Finale von München siegten die Holländer mit 2:0 gegen die Sowjetunion. Gullit stand bei seinem Kopfballtor völlig frei und van Basten schoss das Tor des Turniers, nach einer Flanke von Mühren, die er aus spitzem Winkel direkt im Tor versenkte.

Trotz des Erfolges, über den sich natürlich die ganze Nation freute, war das 88er Team wesentlich pragmatischer als die Vorbilder aus dem Jahrzehnt zuvor. Gegen England und Irland in der Vorrunde war man im Glück gewesen und wäre fast ausgeschieden. Taktisch wurde geradliniger gespielt, mit van Basten als Stoßstürmer. Natürlich hatte diese Mannschaft eine Reihe kreativer Spieler und eine Achse mit Koeman, Rijkaard und Gullit, die keinen Vergleich zu scheuen braucht. Außerdem belegten van Basten, Gullit und Rijkaard die ersten drei Plätze zur Wahl von Europas Fußballer des Jahres (Ballon d´Or). Aber ein Fußballfeuerwerk hatten die Holländer selten geboten. Michels hatte wieder ein Team von Gewinnern geformt.

Oranje 90 & 92

Wie wichtig der Zusammenhalt in einer Gruppe für den Erfolg sein kann zeigt die Weltmeisterschaft in Italien als das Team unter Leo Beenhakker intern nicht harmonierte und sich aus dem Turnier verabschieden musste. Michels hatte zur WM den Vorsitz in der Trainerfindungskommission inne und wählte Beenhakker und nicht Cruyff, der Wunschkandidat einiger Spieler war. Dem neuen Bondscoach wurde die Aufgabe mit dem Berater Michels im Nacken auch nicht leichter gemacht.

Rinus Michels beschrieb die Situation selbst etwas anders. Die Grüppchenbildung und mangelnder Respekt in der Mannschaft hatte auch er erkannt. Doch behauptet er, dass er bewusst als Feindbild für die Mannschaft herhalten musste. Den psychologischen Effekt den Beenhakker damit erreichen wollte, konnte Michels sogar nachvollziehen. Die Leistung stimmte nicht und Michels Anwesenheit beim Training schien den Mangel an Loyalität zum Trainer bei einigen Spieler zu verstärken, so dass sich Beenhakker dazu gezwungen sah die Mannschaft zusammen zufalten um die Bindung zu Michels und der EM ´88 zu lösen. Der holländische Kader wuchs nie zu einer Mannschaft zusammen und im Spiel gegen Deutschland schied Holland aus.

Zur EM ´92 ließ sich Michels noch einmal überreden die Mannschaft zu betreuen. Wieder trafen die Holländer auf Deutschland, diesmal in der Gruppenphase, und siegten mit 3:1. Neu im Team waren Spieler wie Dennis Bergkamp, Bryan Roy, Rob Witchge und Frank de Boer. Im Halbfinale war aber im Elfmeterschießen Schluss gegen die Überraschungsauswahl aus Dänemark, die im Finale auch Deutschland besiegen konnte.

Teambuilding Teil 1: Taktik

Auf dem totalen Fußball, den Ajax unter Michels entwickelte und mit dem die holländische Nationalelf bei der WM ´74 die ganze Welt verzauberte, begründet sich Michels Ruf als taktischer Visionär. Die Grundlagen seines Denkens sollen hier beschreiben werden, zunächst mit dem Blick auf die Taktik.

Alle Mannschaften von Rinus Michels haben eine starke zentrale Achse. Bei der WM in Deutschland wurde sie von Arie Haan, Johan Neeskens und Johan Cruyff gebildet, bei der EM 14 Jahre später von Ronald Koeman, Frank Rijkaard, Ruud Gullit und Marco van Basten. Der Rest des Teams wurde wie die Fassade eines Wolkenkratzers um diese Achse herum aufgebaut.

Dabei darf diese Achse, zu der man genau genommen auch den von Michels immer als spielstark geforderten Torwart zählen muss, nicht als statisches Konstrukt verstanden werden. Cruyff ließ sich nicht auf einer Position festnageln und Neeskens hatte zu viel Energie um nur aus dem zentralen Mittelfeld zu agieren. Auch Rijkaard und Koeman konnte man nicht in der Abwehr anbinden, aber das wollte Michels auch nie. Verließ ein Spieler in der Offensive seine Position, dann schuf dies Platz für einen anderen Spieler. Freigewordene Positionen mussten also neu besetzt werden und mit der daraus resultierenden Bewegung wurden die Gegner oft überfordert.

Michels benötigte für diesen Stil vor allem Mittelfeldspieler mit der Fähigkeit Räume in der Vertikale zu besetzen, sei es als Absicherung für einen stürmenden Verteidiger oder um in die Spitze nachzurücken. „Total Football bedeutet, dass ein Angreifer in der Verteidigung spielen kann – er kann es, mehr nicht.“, erklärt Hulshoff, „Die Mannschaft ist stärker, wenn die Spieler auf ihrer angestammten Position spielen, deshalb ist jeder Positionswechsel nur vorübergehend, und man kehrt möglichst schnell auf die alte Position zurück.“ Daraus ergaben sich ständige Positionswechsel der Spieler, die sich wieder in die Grundpositionen verschoben sobald sich eine Spielsituation wieder auflöste. Jeder Spieler hatte in seiner Mannschaft seine Basisaufgaben zu erfüllen, auch wenn er im totalen Fußball die Freiheit hatte mehr zu machen. Wurden die Basisaufgaben und die Absicherung vernachlässigt, entstand ein Ungleichgewicht und die Mannschaftsbalance wurde gestört.

Die Abwehr bestand bei Rinus Michels aus mindestens zwei offensiven Spielern, die auf den Außenbahnen Druck erzeugen konnten. Besonders gerne nutzte Michels auch den Libero dafür im Mittelfeld Überzahl zu erzeugen. Dazu wurde situativ die Abseitsfalle genutzt. Es ging aber nicht nur darum einen Spieler abseits zu stellen, sondern auch durch das Aufrücken der Verteidigung Überzahl in Ballnähe zu erzeugen und den Raum für den Gegner eng zu machen.

Am 4-3-3 hielt Rinus Michels nicht fanatisch fest. Mitte und Ende der 80er war er der Meinung die Entwicklung im internationalen Fußball würde auch in Holland den Formationswechsel zum 4-4-2 notwendig machen. Mit dieser Meinung positionierte er sich gegen Cruyff, der in Holland nur van Basten mit den Fähigkeiten für ein 2-Stürmer-System ausgestattet sah. Bei der EM ´88 war es dann ein 4-4-2 ohne Flügelstürmer, aber mit einer hängenden Spitze, die Holland zum Titel führte.

Teambuilding Teil 2: Psychologie

Fußballmannschaften werden nicht nur durch eine Taktik zusammengehalten, das wusste auch Rinus Michels. Für ihn stand die psychologische Bildung einer Mannschaft auf der gleichen Ebene wie die teamtaktischen Prozesse.

Ziele, Harmonie und Absprachen

Um eine Mannschaft aufbauen zu können, braucht es zunächst einmal ein gemeinsames Ziel. Das allgemeine Ziel „schön Fußballspielen“ ist für eine Mannschaft zu wenig. Ziele müssen konkret formuliert werden, erreichbar sein und von den Teammitgliedern gemeinsam angestrebt werden.

Die Weltmeisterschaft 1974 ist hier ein gutes Beispiel, weil Michels seine Mannschaft damals fragte ob sie den dominanten Pressingfußball spielen wolle. Daraus resultierte eine gemeinschaftliche Entscheidung, nicht nur erfolgreich sein zu wollen, sondern auch wie der Erfolg erreicht werden sollte.

Ein wichtiger Punkt für einen Trainer ist die Harmonie in seinem Team, aber auch im ganzen Verein. Michels musste unzählige kleine und große Konflikte mit Spielern, Funktionären und der Presse austragen. Innerhalb eines Teams darf es aber keine Störfeuer geben, auch wenn es immer zu kleinen Unzufriedenheiten kommt. Der Trainer hat die Aufgabe seine Mannschaft und das Umfeld genau zu beobachten und Eskalationen zu verhindern.

Gerade die niederländische Nationalelf war oft ein Bandherd. Neben den mündigen, manchmal auch aufmüpfigen Spielern gab es Funktionäre, die sich gerne im Licht der Elftal sonnen wollten und die damit Michels Autorität untergruben. Dazu kam die Presse mit der Michels umgehen musste. Er war hier auch Pragmatiker und versuchte ab und an den Zusammenhalt in der Mannschaft mit äußeren Feindbildern zu stärken.

Vor der EM in Deutschland wollte Michels zunächst nicht Nationaltrainer werden. Erst nachdem Leo Beenhakker den Posten mangels Rückendeckung vom Verband räumte um zu Real Madrid zu gehen, wechselte Michels vom Posten des Technischen Direktors auf die Trainerbank. Trotzdem gab es immer wieder Konflikte mit Funktionären, die zum Teil auch über die Presse ausgetragen wurden. Während des Turniers sollten dann laut Michels täglich Gespräche über die Mannschaft zwischen dem Bondscoach und dem Vorsitzenden Jaques Hogewoning stattfinden. Michels löste dieses Problem der versuchten Einmischung in dem er als einzigen freien Termin das Gespräch zum Frühstück um 8 Uhr anbot. Zu mehr als einem dieser Gespräche ist es dann nicht gekommen.

Für ein gutes Mannschaftsgefüge sind dazu Verhaltensregeln unerlässlich. Dabei geht es in erster Linie nicht darum wer bei Tisch als erster von der Suppe nehmen darf, sondern, dass Absprachen verlässlich eingehalten werden und wie mit Kritik umgegangen wird. Michels‘ Umgang mit den Spielern war auf dem Trainingsplatz zum Teil sehr hart, förderte bei Ajax aber die Kritikkultur. Es wurde normal völlig frei über taktische Ideen und Probleme zu sprechen, diese Freiheit Kritik zu äußern befruchtete das kreative Klima innerhalb der Mannschaft.

Geplante Konflikte

Das Konfliktmodel fand bei Michels Anwendung, wenn es innerhalb der Mannschaft zu harmonisch zuging. Bei Ajax Amsterdam wurde vor Spielen regelmäßig gemeinsam ein Film gesehen. Wenn in der Mannschaft die Spannung nachließ, dann wählte das Filmkomitee einen Kriegsfilm, waren die Spieler übermotiviert, eine Komödie. Ein Filmkomitee ist natürlich noch keine Umsetzung eines Konfliktmodels, zeigt aber die Bedeutung der richtigen mentalen Einstellung vor einem Spiel. Michels provozierte in der Kabine auch gerne Diskussionen mit Führungsspielern um die Spannung zu erhöhen. Im Training steuerte der Trainer die Stimmung in der Mannschaft in dem er zum Beispiel seine Co-Trainer absichtlich eine Fehlentscheidung im Trainingsspiel pfeifen ließ. Die Emotionen kochten hoch und die Spannung erhöhte sich.

Dieses Vorgehen ist nichts für jeden Trainer. Michels war mit seinem autoritären Stil dafür besser geeignet als ein Trainer, der nahe an seinen Spielern dran ist. Am wichtigsten ist es für einen Trainer nicht die Glaubwürdigkeit vor seinen Spielern zu verlieren. Michels war immer als Fußballfachmann geachtet, manchmal wegen seiner Methoden auch gehasst. Der entscheidende Punkt war, dass er sich nicht verstellte um seine Spieler zu erreichen.

Wie wichtig Rinus Michels das Teambuilding auf taktischer und psychologischer Ebene war zeigt sein Buch Teamcoaching – Der weg zum Erfolg durch Teambuilding, in dem er die Aufgaben eines Trainers und seine persönlichen Erfahrungen beschreibt.

Rinus Michels in Deutschland

Nach seinem Abstecher in die amerikanische Liga, kehrte Rinus Michels im November 1980 nach Europa zurück und heuerte beim 1. FC Köln an. Seine Bilanz war durchwachsen. In der Liga wurden die Kölner zunächst nur achter. Dafür schlugen sie im UEFA Pokal in der zweiten Runde den FC Barcelona, nach einer 0:1 Hinspielniederlage, im Camp Nou mit 4:0. Michels schrieb später, er habe seinen Spielern vorausgesagt, dass die Spieler von Barcelona ihre Basisaufgaben vernachlässigen würden, wenn Köln in Führung ginge. Endstation in Europa war erst im Halbfinale der spätere Titelträger Ipswich Town.

1982 wurden die Kölner Vizemeister (hinter dem Hamburger SV von Ernst Happel) auch weil der Verfechter des Offensivfußballs mal wieder die Abwehr mit den wenigsten Gegentoren formte. Dazu konnte er auf Tony Woodcock, Pierre Littbarski und die Neuzugänge Klaus Aloffs und Klaus Fischer im Sturm setzen. Ein Jahr später wurde der 1.FC Köln nur fünfter in der Bundesliga, der Höhepunkt der Saison war das Pokalfinale im Müngersdorfer Stadion gegen den Lokalrivalen Fortuna Köln. Die Kölner lieferten eine schwache Partie, gewannen aber dank Pierre Littbarski mit 1:0.

Seinen zweiten Abstecher in die Bundesliga wagte Rinus Michels 1988 mit einem Engagement beim amtierenden UEFA Cup Sieger Bayer 04 Leverkusen. Bayer belegte am Ende Platz 9 und Michels wurde bereits im April ´89 entlassen.

Wie gut sich Michels mit einigen Stars verstand, zeigt das Zitat von Harald Schumacher im Abschnitt über die Disziplin. Littbarski sagte über Michels, er sei für Individualisten tödlich. Und Michels fasste seine Probleme in Deutschland folgendermaßen zusammen: „In Köln bin ich an den Stars gescheitert. In Leverkusen daran, dass keine Stars da sind. Die Spieler hier sind viel zu brav für das Fußballgeschäft. Die Mannschaft ist einfach nur Mittelmaß.“

Als weiteren Grund für das Scheitern in Leverkusen gibt Michels zu taktische Fehler gemacht zu haben. Er habe dem Wunsch des Managements nachgegeben und versucht offensiven Fußball nach holländischem Vorbild spielen zu lassen, obwohl das Spielermaterial nicht zu dieser Strategie gepasst habe. Das Resultat war eine verunsicherte Mannschaft, die taktisch überfordert war und nicht ihren Stärken entsprechend eingesetzt wurde.

Der Jahrhunderttrainer

Die Bedeutung von Rinus Michels für den Fußball in seinem Heimatland und für den Fußball in Europa ist schwer mit anderen Trainern zu vergleichen. Fachlich zählt er zu den besten Trainern aller Zeiten. Was ihn von den großen Kollegen seiner Zeit abhebt, sind die Mannschaften um Johan Cruyff. Die Entwicklung von Ajax Amsterdam zur europäischen Großmacht und die Erfindung des totalen Fußballs, der dank des Mythos um die Elftal bei der WM ´74 die ganze Welt in seinen Bann zog. Über Jahrzehnte war diese Nationalelf der Maßstab für den schönen, fast perfekten Fußball. Viele waren ähnlich erfolgreich. Einige spielten genauso schön, um dann früh zu scheitern.

Die FIFA zeichnete Rinus Michels 1999 als Trainer des Jahrhunderts aus und der niederländische Fußballverband vergibt jährlich den Rinus Michels Award in mehreren Kategorien an Trainer und Nachwuchszentren. Dass Michels in seiner Karriere kein bequemer Trainer war wurde in diesem Artikel nicht unterschlagen, denn es war Voraussetzung für seinen Erfolg. Disziplin und harte Arbeit sind die Grundlage für jeden der etwas Großes erreichen will.

Zum fünfzigsten Jahrestag der Einführung des Profifußballs in den Niederlanden 2004, wurde Rinus Michels als bester Trainer in dieser Epoche ausgezeichnet. Bei diesem Anlass sagte er:

 „Ich bin besonders froh über die Tatsache, dass ich dazu beitragen konnte die niederländische Art des Fußballspielens auf der ganzen Welt berühmt zu machen. Wenn ich ein Hund wäre, würde ich mit dem Schwanz wedeln.“

Am 3. März 2005 starb Rinus Michels weniger Wochen nach einer Herzoperation im belgischen Aalst. Michels’ größter Schüler Johan Cruyff hatte am Ende doch Recht: „Es gibt keine höhere Auszeichnung, als für seinen Stil gelobt zu werden.“


Josep Guardiola i Sala, der moderne Visionär

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Pep Guardiola wird in der kommenden Saison der Trainer des FC Bayern München. Wer ist dieser Mann? Was zeichnet ihn aus? Ein Porträt.

Anmerkung: Dieser Artikel erschien im Original am 30. April 2012, kurz nachdem Pep Guardiola seinen Abschied vom FC Barcelona bekannt gab. Da Pep Guardiola ab der kommenden Saison den FC Bayern München trainieren wird, haben wir ihn auf die Startseite gestellt.

Kindheit – und der Weg zum FC Barcelona

Aufgewachsen in Katalonien und am 18. Jänner 1971 in Santpedor geboren, war Josep Guardiola immer etwas Besonderes. Seine Eltern sind sehr bescheiden, seine Großväter lernte er nie kennen. Jener mütterlicherseits versteckte sich in der Nachkriegszeit vor dem Franco-Regime. Eine Gemeinsamkeit mit seinem politischen Großvater ist bis heute seine größte Stärke: Leidenschaft, die teilweise in Besessenheit ausartet.

Mit seinen Freunden spielte er ununterbrochen Fußball und galt auf und neben dem Platz als Anführer. Allerdings blühte er abseits des Freundeskreises und dem Fußballplatz nur selten auf. Er war ein ruhiger und sehr introvertierter Junge, eine weitere Gemeinsamkeit mit seinem älteren Ich. Bei einem dieser Spiele des Gimnàstic de Manresa entdeckte ihn Jorge Naval, ein Scout des großen FC Barcelona. Der ehemalige Schiedsrichter bezeichnete seine Spielweise als „jene eines Engels“ und wollte das „Wunder“ unbedingt in die Cantera der Katalanen holen.

Jaume Oliver, der damalige Headscout, scheiterte jedoch an Peps Mutter. Ihrer Meinung nach war der elfjährige Engel noch zu jung, um ihr „weggenommen“ zu werden. Dieses Gefühl sollte sie allerdings zwei Jahre später durchleben, als Guardiola dem Ruf Barcelonas folgte und in die vereinseigene Akademie wechselte. La Masia, damals noch nicht ganz so legendär wie heute, bot ihm eine Möglichkeit, die es zuhause nicht gab: Sobald er aufstand, hatte der fußballbesessene Junge den Fußballplatz vor sich.

Schmächtig, unauffällig, schwach und: genial. Diese Attribute verpassten ihm seine Jugendtrainer allesamt. Einst soll ihn Johan Cruijff persönlich spielen gesehen haben, damals noch als Halbspieler oder gar gänzlich auf der rechten Außenbahn. Die Ursache dahinter war, dass er mit seinem Passspiel die Stürmer auf die Flügel schicken könnte, in einem Spiel mit meist nur neun Spielern ein taktisches Mittel früherer Zeiten. Die Position eines rein zentralen Spielers gab es nicht, der Trainer des ersten Teams, Cruijff, forderte die Jugendtrainer zu einer taktischen Anpassung. Als „pivote“, eine Position als spielmachender Sechser, sollte er fortan das Kommando übernehmen.

Verbal tat er es ohnehin. Die mangelnde Athletik machte er mit Führungsstärke, Kommunikation und Handlungsschnelligkeit weg. Im B- oder C-Team Barcelonas sollte er dennoch nicht spielen. Er war körperlich nicht ausgereift genug, um gegen die teilweise extrem ruppig agierenden Gegner anzutreten und blieb bis zu seinem 18. Lebensjahr im „Juvenil A“-Team. Direkt von dort aus sollte Cruijff ihn rekrutieren. Bereits mit siebzehn Jahren kam er in einem Freundschaftsspiel zum Einsatz, zwei Jahre später folgte das Pflichtspieldebüt für den schlaksigen Katalanen. Sein Jurastudium schmiss er hin, das Schicksal bot ihm eine größere Möglichkeit.

Der Spieler Josep Guardiola

Im Jahr 1990 verließ Luis Milla, der bisherige Pivote, den Verein. Zu hohe Ablöseforderungen hatten Cruijff dazu gebracht, sich bei Carles Rexach nach einem internen Ersatz zu erkundigen. Josep Guardiola spielte fortan im B-Team und erhielt einige Einsätze im Dreamteam des niederländischen Startrainers. Als Guillermo Amor gesperrt war, rückte Pep Guardiola als Pivote in die Mannschaft, also exakt auf jene Position, die Cruijff als Vorgabe an die Jugendtrainer erst geschaffen hatte. Im Interview sagte Guardiola vor seinem Debüt noch, er könne als „Nummer Vier oder Nummer Sechs“ spielen, als tiefer Spielmacher vor einer Dreierkette oder gar als Halbspieler vor einer Viererkette.

das Dreamteam mit Pep Guardiola als Spieler im Jahre 1992

In dieser Rolle als der spielgestalterische der Halbspieler sollte er im Finale der Champions League 1992 stehen. Im Wembley-Stadion bezwangen die Katalanen Sampdoria Genua nach einem Treffer Koemans, der im 3-4-3 hinter Guardiola, dem nominellen Sechser, agierte. Es sollte eine Ansage des Angriffsfußballs sein, der Start in ein neues Zeitalter mit Spielern, deren Fähigkeiten im Kopf und in ihrer Technik liegen, nicht in ihrer Athletik. Spielern wie Pep Guardiola.

Dieser Aufwind sollte allerdings nicht lange währen. Im Laufe des Jahrzehnts gab es einige weitere Mannschaften, welche mit den Blaugrana dem Ideal des totalen Fußballs nacheiferten, allen voran der AC Mailand in der Post-Sacchi-Ära sowie Ajax‘ Jungspunde in den Händen des Kindergärtners Louis van Gaal. Für Cruijff sollte der CL-Pokal sein letzter sein, im Finale 1994 verloren sie gegen den übermächtigen AC Mailand. Nach vier Titeln in der Liga in Folge begann das schleichende Ende. Zwischen 1994 und 1996 feierte das Dreamteam keine Erfolge mehr, Vizepräsident Joan Gaspart entband Cruijff seines Amtes.

Für Guardiola ein Schlag ins Gesicht. „Der beste Trainer, den er je hatte“ wurde von einem anderen Trainerstar ersetzt, Sir Bobby Robson. Sie gewannen alle Titel abgesehen von der Liga und Luis Enrique sollte fast fünfzehn Jahre später das Starensemble um sich selbst, Guardiola und Ronaldo als „beste Barcelona-Mannschaft aller Zeiten“ bezeichnen. Über 100 Tore hatten sie erzielt, lediglich die bisweilen anfällige Defensive war die Ursache für die zwei Punkte Rückstand auf Meister Real Madrid.

Dennoch näherte sich das Ende Guardiolas beim FC Barcelona. Der Kapitän und Leitwolf fühlte sich nicht genug von der Vereinsführung wertgeschätzt, welche den Spielern aus der eigenen Jugend weniger zahlte. Sie spekulierten darauf, dass sie den Verein nicht verlassen und im Gegensatz von den teuer eingekauften Neuzugängen spielerisch profitieren würden. Das Bosman-Urteil sowie die Aufhebung der Ausländerbeschränkung verschob jedoch die Kräfteverhältnisse. Nachdem Guardiola im Jahre 1998 einen Dreijahresvertrag unterschrieb, gab er vorerst Ruhe.

Doch die Jahrtausendwende hatte eine Abkehr vom spielgestaltenden Sechser gebracht. Spieler wie Fernando Redondo und Josep Guardiola wurden langsam zur Ausnahme, die Zeit der Makelélé und Dungas sollte beginnen. Eine Zeit von Spielern, die technisch nicht zwingend schwach waren, sich aber auf die simplen Sachen konzentrierten – simpler noch als Guardiola, der diese Einfachheit an sich selbst am meisten wertschätzte (getreu Cruijffs Aussage, dass der einfache Fußball am schwersten zu spielen sei). Hier fand sich jedoch eine neue Bedeutung des Wortes Einfachheit und so begannen Guardiolas Abwanderungsgedanken.

Eine schwere  Verletzung der dorsalen Oberschenkelmuskulatur setzte ihn beinahe ein Jahr außer Gefecht. In dieser Zeit zog er sich noch mehr zurück. Der introvertierte Guardiola konnte sich nicht mehr am Fußballplatz verwirklichen und mit seiner Heilung gab es zahlreiche Probleme. Zuerst fehlte eine richtige Diagnose, danach fanden die Ärzte keine einheitliche Meinung über eine effektive Therapie. Seine Rückkehr verlief enttäuschend und nach 17 Jahren beim FC Barcelona nahm er Abschied. 479 Spiele auf höchstem Niveau und der Reiz einer neuen Herausforderung gingen Hand in Hand mit der Aussortierung durch Gaspart und van Gaal. Er wurde der erste Spieler aus der eigenen Jugendakademie, welcher einmal einen Stammplatz hatte und dann den Verein ins Ausland verließ.

Bald darauf unterschrieb er bei Brescia, wo er mit Roberto Baggio in den Niederungen der Serie A spielte. Innerhalb von zwei Wochen wurde er zweimal positiv auf Nandrolon gestestet, was eine mehrmonatige Sperre und 50.000 Euro an Bußgeld zur Folge hatte. Nach dem Blutdoping-Skandal der großen Juve-Mannschaft der 90er hatte der Weltfußball abermals ein Problem. Auch Edgar Davids, Jaap Stam, Fernando Couto und Ronald de Boer fielen durch die Dopingprobe – allesamt Nandrolon.

Josep Guardiola beteuerte seine Unschuld vor dem italienischen Verband. Sein Mittel hatte er nach eigener Auskunft vom FC Barcelona erhalten und es war absolut legal, eine Mischung aus Vitaminen und Nahrungsergänzungspräparaten. Er saß seine Sperre ab und führte seine Karriere normal weiter, doch dieses Urteil wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Hier stand nämlich etwas auf dem Spiel, was ihn sowohl als Spieler als auch später als Trainer auszeichnen sollte: seine knallharte Ehrlichkeit und Integrität. Nach langem Kampf hatte er letztlich Erfolg, 2007 wurde er freigesprochen. Eine Beschwerde des Italienischen Olympischen Nationalen Komitees (CONI) führte jedoch zu einer neuerlichen Öffnung des Falles, 2009 wurde Guardiola abermals freigesprochen. Sogar seine Frau hatte die Hoffnung aufgeben und riet ihrem Mann, den Kampf aufzugeben, seine Wesensart stand hier im Weg.

Nach einem Abstecher beim AS Rom wechselte er schließlich zu Al Ahly in das Königreich Katar. Trotz zahlreicher Angebote, unter anderem von beiden Teams aus Manchester und vom FC Chelsea (hier wäre José Mourinho sein Trainer gewesen), wechselte er schließlich nach Mexiko.

Mentoren

Bei Dorados de Sinaloa unterschrieb er einen Vertrag, welcher letztlich ein halbes Jahr lief. Nebenbei besuchte er die Trainerschule in Axopocán, womit er das Angenehme mit dem Nützlichen verband. Das Angenehme war hierbei die Arbeit mit seinem Freund und Trainerkollegen Juan Manuel Lillo. Dieser gilt bis heute als einer der Visionäre im modernen Fußball. Mit zwanzig Jahren trainierte er einen Verein in der dritten spanischen Liga, mit 26 Jahren etablierte er bei Cultural y Deportiva Leonesa die hochmoderne 4-2-3-1-Formation als allererster im Weltfußball. Im folgenden Jahr wurde er Trainer UD Salamancas, 1995 stieg er schließlich mit ihnen auf.

Hier geschah dann das schicksalhafte Aufeinandertreffen mit Guardiola. In der Saison 1996/97 spielte Lillos Real Oviedo gegen Guardiolas Barcelona – der eine als Trainer, der andere auf dem Platz. Letzterer suchte dennoch nach dem Spiel das Gespräch. Bereits gegen Salamanca und nun ein weiteres Mal war es dem jungen Josep aufgefallen, wie viel mehr Pässe und Ballbesitz die Gegner ihr Eigen nennen durften. Er suchte das Gespräch und eine Freundschaft entwickelte sich.

Guardiola beendete seine Karriere, auch aufgrund vieler kleiner Verletzungen in seiner Mexiko-Zeit. Er reiste durch Südamerika, traf Marcelo Bielsa und den großen Cesar Luis Menotti. Sie teilten eine ähnliche Spielauffassung. Zusätzlich soll sich Guardiola ein paar Tricks von „El Fluppe“ La Volpe abgeschaut haben, dem extrovertierten Ex-Coach der mexikanischen Nationalmannschaft. Ausgestattet mit zahlreichen Ideen und Theorien über den Fußball meldete sich Guardiola beim FC Barcelona zurück.

Trainer des FC Barcelona

Bereits 2003 wäre Pep Guardiola beinahe Trainer des FC Barcelona geworden. Luis Bassat, damaliger Präsidentschaftsanwärter, wollte ihn für den Posten. Nach einem langen Gespräch war er zwar noch beeindruckter, besetzte dann aber doch die hypothetische Stelle mit jemand anderem: Juan Manuel Lillo. Guardiola, ohne Trainerschein und Erfahrung, sollte die Position des Sportdirektors besetzen. Den einzigen Strich durch die Rechnung machte Joan Laporta, der knapp vor Luis Bassat gewann.

Im Jahre 2007 entschied sich jedoch auch Joan Laporta dafür, der ehemaligen Vereinslegende einen Posten anzubieten. Sportdirektor Txiki Beguiristiain, Ehrenpräsident Johan Cruijff und Evarist Murtra, ein einflussreiches Vorstandsmitglied, empfahlen ihn für die Aufgabe als Trainer der zweiten Mannschaft. Guardiola nahm nach kurzer Rücksprache mit der Familie und seinem Freund Lillo an.

mit diesem System spielte Guardiola in der B-Mannschaft – ob es im Folgejahr wirklich größere Unterschiede gab?

Umgehend veränderte er zahlreiche Positionen in der Startaufstellung und im gesamten Kader. Die Unkenrufe, dass er seine offensiven Vorstellungen von Fußball nicht mit diesen Spielern in einer körperlich harten Liga umsetzen könnte, sah er nur als weiteren Ansporn. Schon beim ersten Training hörten ihn die Spieler schreien, dass fortan nur noch gepasst und nicht gedribbelt werden solle. Damit hatten die Blaugrana Erfolg. In Guardiolas erster Saison gewannen sie die Liga und stiegen auf. Mit einem Lauf von 21 ungeschlagenen Spielen erarbeitete sich Guardiola viel Respekt im Verein.

Die taktischen und trainingstechnischen Maßnahmen Guardiolas bewirkten scheinbar Wunder, die meisten seiner Spieler kamen später in der ersten oder zweiten Liga unter. So trainierte er zu der Zeit unter anderem Sergio Busquets und Pedro; Ersterer wurde gar vereinzelt als Mittelstürmer in bestimmten Partien eingesetzt. Doch normalerweise spielte man mit einem 4-3-3 und natürlich ungemein modern: Der linke Flügelverteidiger agierte sehr hoch, auf rechts übernahm der Außenstürmer mehr Aufgaben bezüglich Breite im letzten Spielfelddrittel. Im Mittelfeld ist die Einteilung in einen Sechser, einen Achter und einen Zehner erkennbar, Busquets ließ sich auch oft nach hinten fallen und es wurde eine Dreierkette mit aufgerückten Außenverteidigern gebildet.

Als Frank Rijkaard in Ungnade fiel, wurde der Perfektionist Guardiola Trainer der ersten Mannschaft. Gemeinsam mit seinem Co-Trainer Tito Vilanova strebte er nach der optimalen Kaderzusammenstellung für sein komplexes System. Dazu bedurfte es hoher Disziplin, Laufstärke, Dynamik und natürlich einer hervorragenden Technik. Viele Spieler, darunter Legenden wie Ronaldinho, Deco und sogar Samuel Eto’o wurden ausgemustert. Lediglich Eto’o konnte sich mit hervorragendem Einsatz im Training die Gunst Guardiolas zurückerobern.

In seinen ersten Trainingseinheiten offenbarte er seinem neuen Kader mit Verstärkungen wie Alves, Pique, Keita und Hleb, dass sie sämtliche Titel gewinnen würden, wenn sie ihm folgen würden. Sein Enthusiasmus sollte sie überzeugen, und nach zwei sieglosen Spiele ging der Knoten auf. Die folgenden neun Spielen der Primera Division gewannen sie und trafen ganze 38mal. In der Zwischenzeit erlegte sich Pep ein Interviewverbot auf, lediglich bei Pressekonferenzen gab er über sich und seine Mannschaft Informationen preis.

Am Ende der Spielzeit gewannen sie sämtliche sechs Titel, dazu gesellte sich ein Clásico im Bernabeu, wo sie das Spiel mit 6:2 in herausragender Manier für sich entscheiden konnten. Auf der Suche nach Perfektion ruhte sich Guardiola aber nicht auf den Erfolgen aus. Thierry Henry wurde von Pedro verdrängt und einige Neuverpflichtungen geholt. Hauptantrieb war das Fast-Ausscheiden gegen den physisch starken Chelsea FC im Halbfinale. Deshalb kamen mit Keirrison und Ibrahimovic zwei körperlich starke Angreifer, Maxwell war als offensivere Variante zu Eric Abidal vorgesehen und mit Dmitro Chygrynskiy wurde ein weiterer passstarker Verteidiger geholt. Kein einziger dieser Spieler ist heute noch beim FC Barcelona und es dürfte die schwächste Transferperiode der Ära Guardiola gewesen sein.

Insbesondere finanziell glich sie einem Desaster. Ibrahimovic kostete über 40 Millionen € und Inter erhielt zusätzlich Weltklassestürmer Samuel Eto’o, der eine tolle Saison spielte und die Champions League mit den Italienern unter José Mourinho holte. Lediglich Maxwell erwies sich als Schnäppchen, seine fünf Millionen € an Transfersumme spielte er bald wieder ein. Flop Chygrynskiy kostete hingegen das Fünffache.

Im Halbfinale schieden die Katalanen gegen Inter aus, Ibrahimovics Zwist mit Guardiola war in der Zwischenzeit sehr groß geworden. Nach seiner Zeit beim FC Barcelona äußerte sich der lange Schwede sehr negativ und sagte, Guardiola hätte ihn gemobbt und von den anderen isoliert. Xavi habe sich angeblich gegen ihn eingesetzt, und überhaupt seien er, Iniesta und Messi nichts weiter als brave Schuljungen.

2010/11 korrigierte Guardiola seine Transfer-Fehler. Mit David Villa kam ein Ersatz für den nun ausgemusterten Ibrahimovic. Die Belohnung: Das Double aus Liga und Champions League. Javier Mascherano war hierbei ein essentieller Baustein, auch für die darauffolgende und am wenigsten erfolgreiche Saison. In dieser hatten sie mit vielen Verletzungen zu kämpfen, besonders mit jener von David Villa. Die Neuen Alexis Sanchez und Cesc Fabregas spielten unkonstant und einige Veränderungen an der Formation und im Mannschaftsgefüge sollten das Aus für Guardiola etwas zu unrühmlich kennzeichnen.

Inventor, Innovator, Insigne

Guardiola hatte abermals versucht, sich und seine Mannschaft neu zu erfinden. Er setzte unter anderem ein 3-4-3, ein 3-3-4, ein System mit einem und ohne Stürmer sowie dem üblichen 4-3-3 ein sowie ein im Herbst sehr gelobtes und im Frühjahr sehr kritisiertes „3,5-3,5-3“ beziehungsweise ein adaptives 3-1-3-3-System. Sergio Busquets spielte hierbei eine Hybridposition aus defensivem Mittelfeldspieler und Innenverteidiger, am ehesten vergleichbar mit einer modernen und ballstarken Variante früherer Vorstopper.

Generell schien Guardiola ein Faible für Hybridpositionen zu besitzen. Beim 3-4-3/3-3-4 spielten die Innenverteidiger in den Halbpositionen wie eine Mischung aus Außen- und Innenverteidigern. Die Spieler in den Halbpositionen beim 3-4-3 hatten sowohl die Aufgaben zentraler Spielgestalter als auch klassischer Flügelspieler. Die Stürmer beim 3-3-4 sorgten für die Breite und halfen hinten teilweise wie Wing-Backs aus, was besonders Dani Alves im Laufe dieser Saison immer öfter in die vorderste Angriffsreihe verfrachtete.

Am interessantesten dürfte die Einführung der falschen Neun sein, welche Lionel Messi perfektionierte. Diesem hatte Guardiola bei Amtsantritt versprochen, dass er unter ihm irgendwann in jedem Spiel „mehr als nur ein Tor“ erzielen würde – sicherlich etwas übertrieben, aber die unglaublichen Torquoten Messis geben Guardiola im Nachhinein Recht.

Schon im Finale der Champions League 2008/09 oder beim legendären 6:2-Clásico spielte er als falsche Neun, doch wirklich augenfällig war er zum ersten Mal im Hinspiel gegen Real Madrid in der Saison 2010/11 als falscher Neuner ins Auge getreten. Er traf zwar nicht ins Netz, konnte aber zwei hervorragende Assists aus dem Mittelfeld geben. Als falsche Neun verband er hierbei Aspekte eines klassischen Mittelstürmers und einer Nummer Zehn, beides aber mit mehr Freiheiten. Er sorgte im Mittelfeld für Überzahl, konnte seine tödlichen Pässe spielen und entledigte sich seiner Gegenspieler. Dadurch nahm er an Fahrt auf, setzte öfter zu seinen Soli an und schraubte seine Torgefahr in ungeahnte Höhen. Mit dem ungemein offensiven Rechtsaußenverteidiger Alves hatte er zuvor auf dem rechten Flügel zwar einen kongenialen Partner gefunden, durch seine neue Freirolle konnte er diese Verbindung aber beibehalten, ohne andere zu kappen.

Daraus resultierte eine weitere Hybridposition der Katalanen, jene der Flügelstürmer im 4-3-3. Durch Messis tiefere Position rückten sie zumeist ein, spielten nicht mehr so breit und besetzten den Raum zwischen Innen- und Außenverteidiger des Gegners. Diese wurden vom Aufrücken abgehalten, die Stürmer standen näher zum Spielgeschehen und hatten mehr Räume für das Empfangen vertikaler Pässe. Kein Wunder also, dass Samuel Eto’o Guardiola sogar als besseren Taktiker als Mourinho bezeichnete. Die wahre Stärke lag nämlich nicht in den klassischen Bereichen der Taktik, trotz aller Errungenschaften Guardiolas.

Die Stichwörter hier lauten „Makrotaktik“ und „Mikrosystem“. Letzteren Ausdruck gebrauchte Pep selbst, als er die Faszination des Fußballs beschreiben wollte. Diese zwei Begriffe prägen seine Arbeit als Trainer. Er sah sich selbst als „den untersten“ in der Hierarchie, nicht den oberen. Er hänge von den Spielern und ihren Leistungen mehr ab als sie von ihm und deswegen müsse er sich penibel um jeden einzelnen von ihnen kümmern. Dazu fügte Guardiola an, dass es die größte Lüge in Mannschaftssportarten sei, wenn die Trainer behaupten, „alle wären gleich“. Im Gegenteil, seiner Meinung nach sei niemand gleich und jeder anders. Jeder einzelne Spieler benötige einen anderen Trainer, eine andere Person, die anders mit ihm redet. Somit schnitt er sein Verhalten auf jeden einzelnen Spieler zu – ein weiteres Merkmal des Perfektionisten.

Mit dem ersten Begriff, „Makrotaktik“ kommen wir zum Geheimnis des FC Barcelona: Jenen Dingen, die Analysten bereits mit Passmustern, geometrischen Formen und Statistiken untermauern und ergründen wollten. Guardiola hauchte seinem Team die Interaktion und Kommunikation miteinander ein. Jene Attribute also, die ihn als Spieler auszeichneten. Sie halfen einander und verschoben auf dem Feld deutlich disziplinierter und kompakter. Er führte Regeln für Ballgewinne und das Pressing ein, drillte seine Starspieler dazu und jeder verrichtet Defensivarbeit. Wohl der Hauptgrund, wieso Ronaldinho und Co. gehen mussten.

Die übriggebliebenen Spieler zeigten unaufhörliche Horizontal- und Diagonalläufe, sie rochierten und pressten im Kollektiv. Der totale Fußball war wiedergeboren, dieses Mal lag der Fokus allerdings auf dem Ball und dem Raum anstatt der Geschwindigkeit und dem Raum. Ballbesitz diente dem Selbstzweck der aktiven Verteidigung und der Erhöhung qualitativer statt quantitativer Chancen. Guardiola, der seine Mannschaft als „furchtbar ohne Ball“ bezeichnete, legte wohl deswegen einen dermaßen großen Fokus auf diese Attribute. Um einen Paradigmenwechsel zurück zu den passenden und spielstarken Mittelfeldspielern hervorzurufen, mussten ihre Schwächen kaschiert werden. Ihre Stärken wurden mit seinem Training weiter verstärkt.

Wie in La Masia forcierte er das Spiel auf Sichtfeld. Im Idealfall spielten die Spieler nur Pässe dorthin, wo sie den Raum kannten. Falls sie sich vor der Ballannahme nicht umgeschaut hatten, durften sie somit nur Pässe in den ihnen gerade zugänglichen optischen Bereich spielen. Nach diesem Muster attackierten sie auch die Gegner. Das Kollektiv presste und falls der Gegner dieses Forechecking überwand, zogen sie sich zurück. Die nächste Pressingwelle folgte, wenn einer der Gegner den Ball unsauber stoppte und dadurch das Sichtfeld aufgab. Er musste zum Ball blicken und verlor damit die Übersicht über das Feld. Beim FC Barcelona wurde deswegen in der Jugend verstärkt gelehrt, den Ball richtig anzunehmen: Die Spieler müssen den Ball mit dem vom Gegner entfernteren Fuß annehmen, dabei vor der Ballannahme und während der Ballmitnahme das Feld im Auge behalten.

Hierbei zeigte Guardiola, was ihm wichtig war: Messi verbesserte sein Dribbling, indem er Maradonas Gambetta kopierte. Das bedeutet, dass er sein Spiel noch mehr auf die Bewegungen des Gegners ausrichtete und entgegen ihrer Laufrichtung dribbelte oder eine Körpertäuschungen zu einer schwächeren Balance nutzte. Mental gab es weitere Aspekte, die Guardiola im Verein veränderte: Die talentiertesten Jugendspieler wurden der Tradition üblich früh hochgezogen, allerdings nach einiger Trainings- und geringer Spielzeit beim ersten Team wieder zurückgeschickt. Guardiola wollte damit bezwecken, dass sie zurück zu ihren ehemaligen Kameraden kamen und dort nun eine Führungsrolle beanspruchten. Sie sollten aus den Schatten ihres Talentstatus entwachsen und zu Führungsspielern heranreifen. (Dies ist einer der Gründe, wieso Thiago teilweise azyklisch zwischen erstem und B-Team pendelte.)

Dieses gesamtorientierte Denken zeigte ebenfalls, was Guardiolas eindrucksvollste Stärke ist: das Einschwören auf die gemeinsame Sache.

Motivation, ein Schlüsselwort zum Abschied

Bereits in seiner Zeit beim B-Team schwärmten die Spieler von ihm, nicht nur von seinen Fähigkeiten als Trainer, sondern vielmehr von seinen menschlichen Qualitäten. Wie kaum ein anderer versteht er es, den Spielern den Geist Barcelonas einzuhauchen. In jedem Training, jeder Minute auf dem Trainingsplatz, will er seinen Spielern klar machen, was es bedeutet, für Barcelona spielen zu dürfen. Kein anderer bleibt dabei so authentisch und bringt so viel Enthusiasmus mit. Seine romantische Betrachtungsweise des Fußballs, „der schönsten Sache auf der Welt“, verband er mit einem wissenschaftlichen Ansatz über Raum, Ballbesitz und Pressing mit intelligenten Sekundenregeln.

Besonders wichtig war allerdings, dass er seinem Starensemble neben Disziplin auch Konstanz beibrachte. Jedes Spiel war wichtig, über keinen Gegner verlor er ein schlechtes Wort und stilisierte sie teilweise sogar zu überlegenen Gegnern.

In dieser Beziehung ähnelt er stark Jürgen Klopp, der vor jedem Spiel seine Mannschaft auf die Stärken des Gegners einschwört und sie motiviert. Bei Guardiola sind es Motivationsvideos, die er vor den ganz großen Duellen gerne nutzt. Angeblich soll das Video „inch by inch“ bereits vorgekommen sein, andere Videos sind sogar bestätigt. Vor dem Saisonfinale mit der B-Mannschaft zeigte er ihnen das Video des Triathletenduos „Team Hoyt“, welches die Spieler zu Tränen rührte. Im Verbund mit dem katalanischen Fernsehen wurde vor dem CL-Finale 2009 eine Mischung aus den besten Szenen der Saison und einem bekannten Hollywoodblockbuster gemixt. Doch auch ohne erstellte Videos gehört er zu den besten Motivatoren seines Faches. Exklusive Szenen wie vor der Verlängerung im europäischen Supercup belegen dies ebenso wie zahlreiche Aussagen von Spielern, welche er „wortlos beeindrucken und anspornen konnte“ (Xavi).

Allerdings könnten es dieser Enthusiasmus und die typische Besessenheit sein, welche ihn letztlich auffraß. Er begann im Schlaf über Fußball zu sprechen, sein Haarausfall verschlimmerte sich und die Angst vor Langzeitkontrakten wuchs stetig. Er ist ein Trainer, der als Spieler das Wort „Berühmtheit“ mit der Beschreibung „beschissen“ gleichsetzte. Jemand, dessen mediale Aussagen maximal aus Huldigungen an die Konkurrenz, Glückwünschen und generellen Auskünften bestanden.

In den letzten zwei Jahren schienen zudem die Duelle mit José Mourinho etwas an den Nerven geknabbert zu haben. Seine Bescheidenheit, seine Fairness und sein Sportsgeist blieben bestehen, aber ein etwas sehr trockener Humor kam ans Licht. Auf Fragen nach Wechselgerüchten zu Chelsea wurde er zunehmend sarkastisch und bezüglich Real ebenfalls bissiger. Einst ließ er sich sogar, aus reinen Psychospielchen, zu Formulierungen gegenüber Mourinho hinreißen, welche der neutrale Beobachter eigentlich nur dem Portugiesen zugetraut hätte. An sich kein Problem, doch die Veränderung Peps war schleichend, unmerklich und doch vorhanden.

Die Selbstzweifel und der Druck, den er sich aufgrund des von ihm gewünschten Erfolges Barcelonas selbst auferlegte, forderten ihren Preis. Die langen Stunden vor jeder einzelnen Partie, wo er sich in einen Keller mit gedämmtem Licht einschloss und den Gegner studierte, brachten weniger Erfolg. Einst sagte er, diese Momente waren am schönsten gewesen. Wenn er sich das Spiel vorstellte und die Schwächen und Stärken des Gegners auseinander nahm, bis der „Aha“-Moment kam. Jener Moment, wo er wusste, sie würden siegen und wieso. Wie das Spiel aussehen würde und was er als Trainer tun musste.

Früher hatten seine Spieler diese Visionen öfter umgesetzt – diese Momente waren es, die ihm seinen Antrieb als Trainer gaben. In der vergangenen Saison wurden sie seltener. Der atheistische Pep Guardiola, der Maradona und Messi als Götter bezeichnete, verlor seinen Fußballglauben. Angebliche interne Zwiste zwischen Villa und Messi, Pique und Guardiola oder Alexis und Co. scheinen aus der Luft gegriffen, ein Fünkchen Wahrheit mag wohl trotzdem dran sein. Es war auffällig, wie oft die Presse bereits im Vorfeld des Spiels über die Aufstellung Bescheid wusste. Insbesondere beim Rückrundenklassiker gegen Real Madrid wartete Pep mit einer überraschenden Nominierung auf – die allerdings bereits jeder zu kennen schien.

Ein Mann, der bei der höchsten Vergabe „seines Landes, dem Land Katalonien „, vor dem gesammelten Parlament über Fußball sprach; ein Mann, welcher zahlreihe Zitate von katalanischen Philosophen wie Jaume Perich zitieren und die schnulzigen Lieder von Lluis Llach singen kann; ein Mann, der in seinem Leben alles ausprobieren wollte, von einem Gang auf dem Catwalk bis zu einer Fußballmannschaft ohne Stürmer oder Verteidiger, verlor ansatzweise die Verbindung zu seiner Mannschaft – und konnte damit nicht mehr weiterarbeiten.

Es war wohl die Summe aller kleinen, vielleicht sogar unwichtigen, Problemchen, seiner physischen wie psychischen Belastung und den mannschaftsinternen Wehwehchen, welche ihn zur Resignation zwangen. Mit Tito Vilanova übernimmt einer, der die gleichen Ideen und Ideale verkörpert. Gemeinsam waren sie das Mastermind, für welches Guardiola Symbol stand. Nächste Saison muss sich dieser dem Druck beugen, der Pep Kopfzerbrechen einbrachte und ihn von seiner Haarpracht erlöste.

Carlo Ancelotti – Stoischer Maestro

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Gefühlsregungen sind nicht sein Markenzeichen. Selbst die hochgezogene Augenbraue scheint mehr in das Poker Face eingemeißelt zu sein, als dass sie wirklich Auskunft über seinen Gemütszustand gibt. Der oft etwas spröde wirkende 54-Jährige aus der Emilia-Romagna zeichnet keinen besonderen Trainertypus aus.  Er ist weder ein großer Redner, noch ein Philosoph im modernen Fußball oder der Charismatiker, der das Blitzlichtgewitter in seine Richtung zieht.

Dafür ist Carlo Ancelotti einer der erfolgreichsten Trainer seiner Zeit. Er war als Spieler nicht nur zweifacher Europapokalgewinner der Landesmeister und Weltpokalsieger, an der Seitenlinie dirigierte er AC Milan dreimal in ein Champions-League-Finale und führte nun die Blancos von Real Madrid in das Endspiel der Königsklasse.

Lange Zeit galt Ancelotti als klassischer Trainer, der vor allem ein Augenmerk auf die hohe individuelle Qualität legt. Doch der Sacchi-Schüler kann noch viel mehr.

Karriere auf dem Feld – Schüler von Arrigo Sacchi

Insbesondere Ancelottis Leistungen als Spieler sind heutzutage fast vergessen. Dabei finden sich in seiner Karriere einige Hinweise auf die Spielweise seiner Mannschaften. Ancelotti war in der großen Mailänder Mannschaft der späten 80er unter Arrigo Sacchi, welche als letztes Team den Meisterpokaltitel (jetzt Champions League) verteidigen konnte (1989) und auch später eine gesamte Ligasaison in der hochqualitativen Serie A in der Saison 1991/92 ohne Niederlage blieb. Bis heute wird dieses Milan unter Arrigo Sacchi immer wieder als eine der besten Mannschaften aller Zeiten bezeichnet. Dies liegt nicht nur an ihren Erfolgen, sondern auch an ihrer Spielweise.

In den 80ern lag der Fußball taktisch in gewisser Weise am Boden; die Manndeckung und der Libero hatten sich flächendeckend durchgesetzt, in vielen Ligen kam noch ein enormer Defensivfokus hinzu. Arrigo Sacchi hingegen verband „alte“ Aspekte wie die Viererkette, die Raumdeckung und das Pressing mit der Athletik des modernen Fußballs und einer starken Ballorientierung im Verschieben, was im Gesamtpaket oftmals als „Raumverknappung“ bezeichnet wird. Diese hohe Intensität und Kompaktheit, die daraus entstand, machte den AC Mailand zur spielerisch und taktisch stärksten Mannschaft Europas zu jener Zeit und zu einer Blaupause für den modernen Fußball.

AC Milan 1989

AC Milan 1989

In diesem System spielte Ancelotti lange Zeit eine Schlüsselrolle. Mit Frank Rijkaard, aber auch anderen Partnern auf der Doppelsechs im 4-4-1-1, kümmerte er sich defensiv um die Balleroberung und das Absichern des Pressings vorne und offensiv um das Einleiten von Angriffen und die Ballzirkulation. Häufig wird nämlich bei der Spielweise des AC Mailand und dem Fokus auf ihre defensiven Errungenschaften ihr hervorragendes Ballbesitzspiel vergessen, an welchem Ancelotti maßgeblich beteiligt war.

Allrounder und Mittelfeldstratege

Ebenso wie Rijkaard war Ancelotti die ideale Besetzung einer überaus komplexen Position. Beide waren offensiv und defensiv sehr gut, konnten sich im direkten Zweikampf die Bälle holen, versperrten Passwege gut, hatten eine tolle Technik und waren sehr aktiv im Vorwärtsgang, wo sie mit viel Laufarbeit und intelligentem Freilaufen die Mitte besetzen konnten. Rijkaard war hierbei der körperlich (noch) stärkere Akteur, der über seine Physis extrem viel abräumen konnte. Ancelotti hingegen war eher der Spielbestimmer und der primäre Ballverteiler im Aufbauspiel.

Ursache dafür war nicht unbedingt eine mögliche Überlegenheit gegenüber Rijkaard, sondern schlicht die leicht unterschiedliche Verteilung ihrer Stärken. Ancelotti war herausragend im Anvisieren der richtigen Räume in seinem Passspiel, konnte sehr empathische und intelligente lange Bälle spielen, welche auch die Dynamik der gegnerischen Bewegung und seiner Mitspieler berücksichtigten. Dies ermöglichte ihm seine sehr gute Ball- und Passtechnik; auch unter Druck konnte er den Ball behaupten, legte sich den Ball bei der Ballannahme sofort in den freien Raum weg vom Gegner und spielte dann den aus dieser Position bestmöglichen Pass.

„Zu Anfang hatte er Probleme. Berlusconi meinte, dass wir einen Orchesterdirigenten hätten, der keine Noten lesen könne. Ich erklärte ihm, dass ich ihm schon beibringen würde, im Takt mit unserem Orchester zu singen. Ich ließ ihn jeden Tag eine Stunde vor dem Training mit ein paar Jungs aus der Jugendmannschaft antreten, und wir gingen alles durch. Am Ende sang er perfekt im Takt mit.“ (Sacchi über Ancelotti)

Obwohl er nicht der dynamischste war – wie zum Beispiel Rijkaard –, konnte er sich durch seine intelligente Ballverarbeitung, seine Spielintelligenz, sein antizipatives Freilaufen und seine starken Fähigkeiten in der Drehung mit Ball am Fuß oftmals aus engen Drucksituationen befreien. Nach diesen Befreiungen war er im Stande strategisch geschickte Optionen zu wählen: Er wechselte stabilisierende Rückpässe auf die Innenverteidiger, Kurzpässe auf ballnahe Spieler, horizontale Seitenverlagerungen auf die Außenverteidiger mit Schnittstellenpässe ins letzte Drittel, langen Diagonalbällen auf die Flügelstürmer oder auch Distanzschüssen von ihm selbst ab. Dadurch konnte er zwischen Raumgewinn mit sicheren Pässen oder versuchten Angriffsabschlüssen durch tödliche Zuspiele variieren, was ihn als Sechser sowohl für eine Konter- als auch eine Ballbesitzmannschaft prädestinierte. Letzteres lag ihm dank seiner intelligenten Suche nach offenen Räumen im Spielaufbau allerdings mehr. Dadurch und insgesamt mit seinem Fähigkeitenprofil ähnelte er sogar in gewisser Weise einem Spieler, welcher unter ihm aktuell zum Schlüsselspieler bei Real Madrid geworden ist.

Der Modrić der 80er

Noch in der vergangenen Saison galt der kroatische Spielmacher Luka Modrić als Flop und Fehleinkauf. Unter Carlo Ancelotti nimmt er nunmehr eine Schlüsselrolle ein und ist für viele der beste zentrale Mittelfeldspieler der Welt in dieser Spielzeit. Interessant ist hierbei, dass sich Modrić und Ancelotti in vielen Aspekten ähneln. Dies betrifft einerseits ihre strategische Entscheidungsfindung, wo sie häufig ähnliche Lösungswege in schwierigen Situationen wählen. Viel stärker zeigt es sich aber in ihren Aktionsradien.

Im ersten Drittel ließ sich Ancelotti beispielsweise gerne nahe zwischen die beiden Innenverteidiger zurückfallen, drehte dabei sein Gesicht und somit sein Sichtfeld dem größeren Teil des Feldes horizontal zu und konnte dadurch Bälle direkt in der Drehung verarbeiten und auch die heranrauschenden Gegner beobachten. Ballverluste – selten. Auch kommen beide tief und holen sich die Bälle vor den Innenverteidigern ab, aber kippen selten zwischen diese und spielen eigentlich nie als situativer Libero, wie es zum Beispiel Bastian Schweinsteiger gerne macht.

Bei den Bewegungen im zweiten Spielfelddrittel ist es ähnlich. Ancelotti und Modrić gehen beide gerne in den defensiven Halbraum und in eine intelligente, ambivalente Position. Sie können dann mit den Außenverteidigern kombinieren, diese bei aufrückenden Bewegungen absichern oder sich schnell in die Spielfeldmitte drehen, um gefährliche Vertikalpässe oder lange Verlagerungen zu spielen. Des Weiteren entziehen sie sich auch hier dem Zugriff des gegnerischen Pressings und überladen lokal. Bei Ancelotti hatte dies unter Sacchi auch den Effekt, dass sich Gullit und Rijkaard zentral positionieren oder gar die Positionen tauschen konnten.

Teilweise ist die Ähnlichkeit sogar bei der Lauf- und Dribbeltechnik zu erkennen; Ancelotti nutzte gerne viel Effet im Passspiel und setzte sich im Dribbling oft mit einer Körpertäuschung nach innen und darauffolgendem Auswärtshaken durch. Beides kennt man von seinem Spieler Modrić ebenso. Natürlich gibt es aber auch kleinere Unterschiede.

Im Defensivzweikampf und dem Attackieren des Gegners definierte sich Ancelotti eher durch seine Wucht und Kraft, als über die Dynamik und Geschicklichkeit wie Modrić, wobei beide hier für spielmachende Sechser enorm stark und effektiv sind beziehungsweise waren. Der größte Unterschied ist jedoch im Dribbling zu finden. Zwar war Ancelotti ebenfalls sehr ruhig und überaus pressingresistent, dabei aber nicht so dynamisch, raumgreifend und im Stande mehr als einen oder zwei Spieler stehen zu lassen, wie es Modrić vermag. Ein undynamischer Modrić quasi, der heutzutage im modernen Gegenpressing des Gegners nach Balleroberungen nicht ganz so pressingresistent wie der Kroate wäre, aber fast schon perfekt als „80er-Version“ zu bezeichnen ist.

Es war auch das intensive und offensive 4-4-1-1/4-4-2 Sacchis, das Ancelotti bei seinen ersten beiden Cheftrainerstationen (AC Reggiana und AC Parma) ausprobierte. In Parma war er stark darauf bedacht, das System mit kollektivem Aufrücken und mannschaftstaktischen Abläufen in der Defensive weiterzuentwickeln. In dieser Zeit soll er sein 4-4-2 sehr dogmatisch verfolgt haben. Angeblich wurde auch deshalb der italienische Altmeister Roberto Baggio nicht verpflichtet.

Zwischenzeitlich schloss Ancelotti seine Ausbildung zum Trainer ab. Seine Abschlussarbeit trug den Titel „Il futuro del calcio. Piu dinamicita” („Die Zukunft des Fußballs. Mehr Dynamik“). Er legte darin seine Ansichten dar. Einige Auszüge: „Es gibt ständig ein hohes öffentliches Verlangen nach einem Produkt, das spektakulärer und aufregender ist. […] Die Öffentlichkeit möchte Unterhaltung und diese Unterhaltung kann durch schnelle Lösungen, einer variablen Offensive, mit dem finalen Ziel vor das Tor zu gelangen, geschaffen werden. In den letzten Jahren, speziell in Italien, wurde viel Zeit der Taktik des Spiels gewidmet. […] Um das Spiel effizient zu machen ist es unabdingbar, dass die Bewegungen fernab des Balls sowie das Passspiel perfekt synchronisiert sind. Dafür sind Konzepte von Raum und Zeit sehr wichtig für Taktik im Angriffsspiel. Falls zwischen der Person, die den Pass spielt, und der Person, die den Pass empfängt, keine Synchronisation herrscht, schlägt das Konzept der Dynamik fehl. […] Ich glaube, dass die zukünftige Entwicklung des Spiel von der Verbesserung offensiverer Lösungen abhängt, wobei mehr Zeit taktischer Ansätze geschenkt wird und zugleich eine Balance zwischen Defensive und Offensive vorherrschen sollte.“

Nach einer starken Vizemeisterschaft mit Parma und weiteren überzeugenden Leistungen wechselte Ancelotti zu Juventus, konnte mit den Turinern aber den Scudetto nicht gewinnen. Dafür stieg er vom 4-4-2 auf 3-4-1-2 um. Zinédine Zidane, heute sein Co-Trainer, war der freie Spieler vor einer Viererkette. Da Alessandro Del Piero oftmals nach links abkippte, bildete sich schon eine Art Vorläufer der Tannenbaumformation, mit der er später bei Milan auftrumpfte. Nachdem die Gruppenphase der Champions League 2000 nicht überstanden wurde, setzte man Ancelotti im darauffolgenden Sommer auf die Straße.

Milan-Zeit: Aller Anfang ist schwer

Am 7. November 2001 begann dann für ihn eine lange und von vielen Erfolgen geprägte Phase seiner Karriere. Er übernahm seinen früheren AC Milan von Fatih Terim und führte die Lombarden recht schnell wieder aus einer Krise heraus. Den deutschen Fans sollte zum Beispiel das Halbfinal-Duell mit Borussia Dortmund in dieser Saison in Erinnerung geblieben sein.

Anfangs stand der damals noch eher unerfahrene Trainer vor allem bei der schwierigen Milan-Führungsfigur Silvio Berlusconi in der Kritik. Allerdings brachte Ancelotti Stabilität in das Gefüge, spielte zu Beginn oft nur mit einem Stürmer, was dem exzentrischen Präsidenten „zu defensiv“ war. Interessanterweise vertraute Ancelotti dem damals vorgefundenen personellen Grundstock über viele Jahre hinweg und es wurden in den Transferperioden oft nur einzelne Ergänzungen, natürlich dann im hohen Millionen-Bereich, wie es in Italien üblich war, vorgenommen.

Führungsspieler Paolo Maldini, Mittelfeldstratege Andrea Pirlo, Abräumer Gennaro Gattuso, Abstauberkönig Pippo Inzaghi und andere gehörten bereits zum Kader. Das Grundsystem von Terim wurde übernommen. Milan spielte zu dieser Zeit in einer Raute der 4-3-1-2-Prägung. Terim ließ allerdings zuweilen noch defensiver spielen, positionierte vier gelernte Innenverteidiger in der Viererkette und eigentlich eher für die Außenverteidigung geeignete Spieler auf den Halbpositionen.

In weiten Teilen war Konterabsicherung und die kompakte Besetzung des zweiten Drittels ein Hauptaugenmerk, das Ancelotti gerade in seiner ersten Saison auch nicht änderte. Allerdings nahm der Neu-Trainer Verbesserungen in puncto Aufgabenaufteilung vor. Spielte Milan gegen einen tiefstehenden Gegner, kam beispielsweise der offensive Serginho als Linksverteidiger zum Einsatz. War man mehr auf Stabilität bedacht, sollte Kakher Kaladze die Außenbahn als zusätzlicher Manndecker verteidigen.

Insgesamt ließ sich bei Milan in der Saison 2001/02 und auch noch später ein hohes Maß an Mannorientierungen ausmachen. Dadurch entstanden zahlreiche Übergabemomente innerhalb der letzten Reihe. Vor allem wenn mehr als zwei Manndecker aufgeboten wurden, wechselte die Grundposition im Gefüge häufiger, sobald ein gegnerischer Angreifer verfolgt wurde.

BVB-AC-Milan-UEFACup-Halbfinale2002

Borussia Dortmund – AC Milan 4:0, 4. April 2002

Gerade bei der katastrophalen 4:0-Hinspielniederlage gegen den BVB im April 2002 konnte die Mannschaft von Matthias Sammer diese Defensivorganisation ausnutzen. Die vier vorderen Spieler, aber vor allem Marcio Amoroso und Jan Koller, pendelten ständig zwischen mehreren Positionen. Beim Verfolgen wurden Maldini und Co. in die Irre geführt, Abseitsfallen zunichte gemacht und Räume zwischen dem eigentlich kompakten Mittelfeld und der Abwehr geschaffen.

Im eigenen Spielaufbau war Ancelotti zu jener Zeit sehr orthodox und zurückhaltend eingestellt. Er vertraute vornehmlich auf die individuellen Qualitäten seiner nominellen Offensivkräfte. Die Doppelneun bestand meistens aus Inzaghi und Andrij Ševčenko. Dahinter agierten auf der klassischen Zehnerposition Rui Costa oder der aufstrebende Andrea Pirlo, dessen Fähigkeiten als tiefer agierender Aufbaudirigent erst später richtig zum Tragen kamen.

Durchbrüche gegen massierte Defensivreihen gab es weniger über strukturiertes Passspiel als vielmehr über längere Schläge in die Spitze, wo der Ball festgemacht wurde, während die Halbspieler nachrückten und die Außenverteidiger weite Wege überbrücken mussten. Im letzten Drittel wurde dann das Spielgerät entweder sofort durch eine Schnittstelle gepasst oder nach der Verlagerung auf den Flügel hinein geflankt. Außergewöhnliche Offensivstrukturen waren in diesen Tagen nicht zu erkennen. Die Rossoneri schlossen die Saison in der Serie A auf dem vierten Tabellenplatz ab.

Die Lombarden und der Feldzug durch Europa

Ob es nun der öffentliche wie vereinsinterne Druck oder doch eine Selbsterkenntnis Ancelottis war, ist wohl nicht überliefert. Allerdings änderte er in der darauffolgenden Saison seine komplette Ausrichtung doch ein Stück weit. Milan sollte offensiver agieren, nicht mehr derart auf Zentrumskompaktheit fokussieren. Unter anderem wechselte Clarence Seedorf nach Mailand und konnte in den nächsten Jahren die halblinke Position besetzen. Hauptsächliche Grundformation blieb die Raute, wenngleich kein Dogma vorherrschte. Durch den Transfer von Weltmeister Rivaldo hatte Ancelotti im Angriff neue Optionen, konnte auch auf ein 4-4-1-1 umstellen, wo der Brasilianer eher Freispieler war. Hinzu kam die Umfunktionierung Pirlos, der nun als spielmachender Sechser eingesetzt wurde und auf dieser Position die Ära Milans mit prägen konnte.

Insgesamt wurde das Gefüge dynamischer. Die beiden Angreifer sollten trotz ihrer höheren Positionen mehr auf die Außen ausweichen und Räume für die aufrückenden Akteure wie Seedorf und Rui Costa schaffen. Damit wurden auch die Außenverteidiger bei der Flügelbesetzung etwas entlastet. Es gab mehr Überladungssituationen. Ancelottis System brach aus dem starren Abdecken der Grundräume aus.

Doch die Defensivarbeit wurde keineswegs verlernt. Zu jener Zeit hätte Milan allein aus den Innenverteidigern im Kader eine Startelf formieren können. Darunter waren erfahrene Abwehrrecken. Der Ruf einer Altherrentruppe sollte sich in den folgenden Jahren noch mehr zementieren. In der Serie A belegte Milan nur den dritten Platz. Dafür fuhr Ancelotti das Double mit Coppa- und Champions-League-Triumph ein und sicherte auch so seine eigene Zukunft.

In der Königsklasse schlug man Stadtrivale Internazionale im Halbfinale durch ein 1:1 „auswärts“. Darauf folgte das intensive, aber nicht unbedingt hochklassige Endspiel gegen Juventus. Beide Mannschaften hatten großen Respekt voreinander. Wurde Ancelotti 2001 noch bei der Alten Dame vor die Tür gesetzt und durch Vorgänger Marcelo Lippi ersetzt, konnte er im Old Trafford von Manchester an Juventus Revanche üben.

In diesem Finale wich der Milan-Trainer von der Raute ab und setzte auf ein 4-4-2. Pirlo und Gattuso bildeten die Doppelsechs. Dabei sprintete ersterer immer wieder vertikal nach vorn, wurde dabei von dem einrückenden Rui Costa unterstützt. In der Verlängerung übernahm die Verbindungsaufgabe im Mittelfeld Massimo Ambrosini. Bekam Milan kein Übergewicht in der gegnerischen Hälfte, erfolgten zumeist längere Zuspiele auf Ševčenko, der seinerseits auf die Flügel leitete. Insgesamt neutralisierten sich beide Teams im Endspiel in vielen Phasen. Es gab zahlreiche lose Bälle im Mittelfeld, um die gekämpft wurde und wo die Zweikampfführung nicht immer eindeutig war. Ansonsten wurde den Zuschauern viel Mannorientierung und Abschirmung geboten, sodass sich zeitweise Fehlpass an Fehlpass reihte.

Ancelotti schien während der Partie nicht den progressiven Weg einzuschlagen. Er ließ Rivaldo, der in dieser Saison auch nicht vollends überzeugte, auf der Bank, nahm sogar Andrea Pirlo nach rund 70 Minuten vom Platz. Über die Flügel entwickelte sich nur Druck, wenn Seedorf oder Rui Costa ihrerseits Einzeldurchbrüche initiieren konnten. Dahinter fanden sich mit Kaladze, Costacurta und im Spielverlauf auch noch Roque Junior limitiertere Spieler, die sich vornehmlich auf die Absicherungen gegen Mauro Camoranesi und Co. konzentrierten. Eine Meisterleistung war dieser Finaltriumph von Ancelotti nicht. Trotzdem brachte der 3:2-Sieg im Elfmeterschießen den ersten Titel als Trainer in der Königsklasse.

In der Saison 2003/04 gewann der Milan-Trainer dann den ersten Scudetto mit seiner Mannschaft. Die Weiterentwicklung war aus teamtaktischer Sicht eher unspektakulär. Dafür konnten zwei Transfers eingetütet werden, die große Wirkung auf die Durchschlagskraft hatten. Cafu, schon 33-jährig, kam aus Rom in die Lombardei. Kaka wurde ebenfalls verpflichtet. Die beiden Brasilianer belebten insgesamt das Offensivspiel. Cafu war perfekt dafür geeignet, über den rechten Flügel viel Druck auszuüben. In diesem Zusammenhang fand Gattuso auf der halbrechten Position in der Raute auch eine wichtige Aufgabe, die ihm auf den Leib geschneidert war: Absichern.

Kaka trat langsam in die Fußstapfen von Rui Costa. Der junge Offensivspieler vom Zuckerhut verkörperte auf seine Weise eine wichtige Komponente, die Milan im Schatten der Angreifer noch fehlte. Er war vielmehr Trequartista als klassischer Zehner, stieß unnachlässig in den Raum vor, den Ševčenko und Inzaghi vorher öffneten.

Neben dem nationalen Titel gab es auf europäischer Bühne eine herbe Enttäuschung. Gegen Deportivo La Coruna konnte Milan einen 4:1-Vorsprung im Riazor nicht verteidigen und verlor noch mit 4:0. Eigentlich verdient dieser Einbruch gegen die Mannschaft von Javier Irureta eine genauere Ausführung. Allerdings folgte mehr als ein Jahr später ein noch historischerer Einbruch der Rossoneri. Dieses Mal lag nur ein Kabinengang dazwischen.

Das Drama am Bosporus und die Revanche

Zu dieser schon legendären Finalbegegnung gegen Liverpool erschien auf Spielverlagerung bereits eine zweiteilige Retroanalyse, die sehr gut aufschlüsselt, warum Milan womöglich eine der besten Halbzeiten in der Ancelotti-Ära spielte. Gerade gegen das relativ starre 4-4-2, kam die Raute der Rossoneri dermaßen stark zum Tragen, dass die Reds ein ums andere Mal ausgehebelt wurden.

Zudem konnte in der ersten Halbzeit verdeutlicht werden, wie gewinnbringend die vertikale Staffelung von Pirlo und Kaka war. Der Brasilianer hatte einen großen Aktionsradius und musste entweder vom zentralen Mittelfeld abgedeckt werden, wodurch Pirlo enorme Freiräume für seine grandiosen Pässe und Verlagerungen bekam, oder aber der „architetto“ wurde angegangen und über die Halbräume oder auch den sehr aktiven Cafu gelangte das Spielgerät zu Kaka.

Vielleicht wurde besonders in diesem Fall deutlich, wo in der damaligen Zeit die Stärke des Ancelotti-Systems lag: Die pendelnde Bespielung der Zwischenlinienräume. Die beiden Halbspieler, vor allem Seedorf, konnten immer dahin verlagern, wo der Ball war, oder aber die Zwischenräume überlagern, in denen Milan Präsenz schaffen wollte. Dies in Kombination mit den stets an der Abseitsgrenze lauernden Angreifern, Hernan Crespo wurde eine Alternative zu Inzaghi, ergab ein vertikal angelegtes Offensivspiel, wo der tödliche Pass noch zelebriert wurde.


(Treffer zum 3:0: Überhastetes Anlaufen von Riise – freie Position von Kaka – raumschaffender Lauf von Ševčenko – Weltklasse-Pass auf Crespo)

In der Analyse von damals heißt es: „Doch warum hatte Pirlo so viel Zeit und Raum? Zunächst einmal gab es kein nennenswertes Rückwärtspressing von Baros und Kewell. Im Mittelfeld musste Riise den vorstürmenden Cafu im Auge behalten, rechts hatte Luis Garcia Probleme damit, dem Wechselspiel zwischen Maldini und Seedorf standzuhalten. Gerrard und Xabi Alonso kümmerten sich um den Sechserraum, in dem Kaka lauerte. Ganz vorne beschäftigten Ševčenko und Crespo die komplette Viererkette der Engländer, indem sie häufig in die Schnittstellen zwischen Innen- und Außenverteidiger starteten. So waren Liverpools hintere acht Spieler gebunden und konnten es sich eigentlich nicht leisten, auf Pirlo herauszurücken. […] Löste sich dann entweder Gerrard oder Alonso aus der vorderen Viererkette, um den italienischen Dirigenten anzulaufen, mussten die verbleibenden drei Akteure sehr eng zusammenrücken, um die Schnittstellen nicht zu weit zu öffnen – Kaka und die beiden Stürmer wären sonst zu leicht anspielbar gewesen. […] Folglich waren Cafu und Maldini auf den Flügeln frei. Während Letzterer etwas enger agierte und weiterkombinierte, nutzte der Brasilianer diese Räume zu gefährlichen Vorstößen im Stile Dani Alves´ zu besten Zeiten.“

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1. Halbzeit: AC Milan – Liverpool, 25. Mai 2005

Allerdings folgte in der zweiten Halbzeit innerhalb von einer Viertelstunde der Einbruch Milans. Liverpool schoss drei Tore und war auf einmal wieder im Spiel. Rafa Benitez stellte in der Halbzeit auf ein 3-4-2-1 um, bespielte durch viel höhere Zentrumspräsenz die Raute Ancelottis. Zudem verhielten sich die Mailänder Angreifer laissez-faire im Pressing, Kaka verrichtete nicht mehr derart viel Defensivarbeit.

Die Liverpooler Wing-Backs hatten keine direkten Gegenspieler, Milans Zentrum verschob ständig auf den Flügel, wurde durch die höhere Präsenz der Liverpooler in den mittigen Ballverteilungszonen aber mehr und mehr in Bewegung gebracht, bis sich Lücken ergaben. Nach den drei Treffern blieb Ancelotti nahezu stoisch an der Seitenlinie stehen, reagierte erst kurz vor Schluss mit der Umstellung auf eine Dreierkette, um die müden Engländer zu knacken. Allerdings blieb Liverpool recht abgeklärt in der tiefen Staffelung. Das Elfmeterschießen brachte dieses Mal die Entscheidung zuungunsten Milans.

In der darauffolgenden Saison wurden die Rossoneri nur Drittplatzierter der Serie A. In der Champions League schied man denkbar knapp gegen Frank Rijkaards Barcelona aus. Es sollte noch eine Saison dauern, bis der zweite Champions-League-Titel eingefahren wurde. Und dieser Triumph war sogleich die Revanche für das Drama von Istanbul. Rein personell veränderte sich Milan nur in Nuancen. Alberto Gilardino war bereits ein Jahr im San Siro unterwegs. Ševčenko verabschiedete sich Richtung Chelsea, während man den 30-jährigen Ronaldo und Jungtalent Yoann Gourcuff verpflichtete. Mit Marek Jankulovski und Massimo Oddo kamen zudem offensivausgerichtete Außenverteidiger nach Mailand. Im Endeffekt setzte Ancelotti aber weitestgehend auf seine mittlerweile als Altherrentruppe abgestempelte Mannschaft.

Allerdings stellte er das Grundsystem etwas um, wich von der Raute auch aufgrund der ungünstigeren Kaderdichte im Stürmerbereich ab, setzte nun mehr auf das Tannenbaumsystem, was allerdings recht fluide blieb. Seedorf und Kaka waren die Schattenspieler des Neuners, während Ambrosini in wichtigen Partien verstärkter zum Einsatz kam. Nach einem 3:0 im San Siro gegen Manchester United zog Milan ins Finale gegen Liverpool ein. Diese Begegnung im Stadio Athinas Spyros Louis war von großem Respekt und Zurückhaltung im kollektiven Aufrücken geprägt. Liverpool wirkte in der ersten Halbzeit dominanter, wurde aber im Endeffekt ein Opfer des Torphantoms Inzaghi.

Lange Zeit sah es so aus, als würde Benitez da weiter machen, wo er irgendwann in der 65. Minute des Endspiels 2005 aufhörte. Seiner Mannschaft im 4-2-3-1 gelang es die Milan-Offensive zu isolieren und in viele Eins-gegen-Eins-Situation im letzten Drittel zu gelangen. Vor der Halbzeitpause fälschte Inzaghi versehentlich einen Pirlo-Freistoß ins Tor von Pepe Reina ab. Ancelotti wiederholte einen Fehler nicht. Er verordnete seiner Mannschaft eine gnadenlose Defensivstrategie, wo auch Kaka am eigenen Strafraum verteidigte. Der Konterfokus schien den Mailändern gut zu passen. Denn in ihrem Abwehrpressing hatten sie wenig Mühe in statischen Situationen gegen die doch mehr auf weitläufige Dynamik ausgelegten Engländer zu agieren. Lediglich ein paar Distanzschüsse wurden zugelassen. Selbst im Umschaltmodus blieb Milan zurückhaltend und immer auf Absicherung bedacht. Schlussendlich war es eine geniale Aktion von Kaka, der Inzaghi in Szene setzte und die Entscheidung vorbereitete. Der Anschlusstreffer von Dirk Kuyt kam zu spät.

Milan und Ancelotti durften ein zweites Mal den Henkelpott in die Höhe recken. UEFA Supercup und FIFA Klub-WM folgten noch in den Trophäenschrank. Weitere Erfolge blieben Ancelotti bis zum Abschied 2009 verwehrt. Eine wirkliche Verjüngung kam nicht zustande, die merkliche Weiterentwicklung der Mannschaft ebenso. Rückkehrer Ševčenko oder Stareinkauf Ronaldinho brachten keine Besserung. Auch andere Transfers waren eher enttäuschend. Die Ehe zwischen Ancelotti und seinem Verein schien ermüdet.

Torrekord an der Stamford Bridge

Er verließ die Lombarden und ging im Sommer 2009 zu Roman Abramovichs Chelsea. Dort übernahm der Italiener größtenteils das Team, was ein Jahr zuvor das Champions-League-Finale gegen Manchester United verlor. Ancelotti blieb ganz der Pragmatiker. Nach einer kürzeren Phase mit Mittelfeldraute und Tannenbaum formierte er Chelsea in einem simplen 4-3-3/4-5-1. Sein Team war physisch dominant und der Angriff um Didier Drogba schoss in der ersten Saison so manchen Erstligisten regelrecht aus dem Stadion. 103 Treffer in der Premier League verbuchten die Blues und erzielten damit als erste Mannschaft seit 1963 eine dreistellige Summe an Toren in der höchsten englischen Spielklasse. Zudem verzeichneten die Londoner die zweithöchste Total Shot Ratio (69,04%)  von allen Teams in den europäischen Top-Ligen der letzten fünf Jahre.

Im knappen Titelrennen mit Manchester United vertraute Ancelotti auf eine klare Mittelfeldachse mit Frank Lampard, Michael Ballack, Michael Essien und anderen. Das Team agierte häufig sehr dominant und war auf Torabschlüsse im Zentrum durch Drogba ausgerichtet. Der Ivorer wurde dabei von Nicolas Anelka, nicht selten als nomineller Rechtsaußen aufgeboten, unterstützt. Lampard als aufrückender Spieler aus dem Mittelfeld tat sein Übriges.

Manchester United - Chelsea 2:1, 8. Mai 2011

Manchester United – Chelsea 2:1, 8. Mai 2011

Gerade die erste Saison bei Chelsea zeigte die Herangehensweise Ancelottis. Er versuchte keine taktischen Kunststücke, sondern nutzte ganz einfach die Stärken seiner individuell hervorragenden Kadermitglieder und unterstrich sein Augenmerk auf Disziplin. Anpassungen an den Gegner oder Umstellungen geschahen meist im Nanometerbereich. Das Double von Liga- und FA-Cup-Titel sprang am Ende dabei heraus. Allerdings sollte die nächste Saison keineswegs so erfolgreich werden. Denn nach einem Punktverlust gegen Newcastle United kam Chelsea im Herbst erheblich ins Straucheln. Den Rückstand auf die Red Devils konnte man nicht mehr aufholen. Zwischenzeitlich waren die Blues sogar auf Platz fünf abgerutscht. Trotz zahlreicher ernüchternder Auftritte veränderte Ancelotti wenig bis gar nichts. Dies gepaart mit seinem ruhigen, zurückhaltenden Wesen wurde ihm oft als Schwäche in Form von mangelnder Kreativität unterstellt.

„His calm demeanour has been interpreted by some as a lack of passion, while he has also been accused of being too passive and slow to make changes when his sides are in trouble.” (ESPN FC)

Abramovich gab seinerseits den Gewinn der Champions League als Ziel aus, gerade nachdem im Winter die Transfers von Fernando Torres und David Luiz getätigt wurden. Allerdings schied Chelsea im Viertelfinale gegen Manchester United aus und verlor im Mai noch quasi das Endspiel um die Meisterschaft. Ancelotti trat in dieser Zeit als Gentleman auf und zeigte Verständnis, sollte ihn der Verein entlassen, was die Londoner Ende Mai nach einer Niederlage gegen Everton auch taten. Die Zeit bei den Blues ist äußerst schwer einzuschätzen. Einerseits gab es ein vertikal angelegtes Offensivspiel mit physischer Dominanz und guten Vollstreckern. Andererseits hinterließ Ancelotti keinen bleibenden Eindruck.

Aufbau oder Verwaltung einer französischen Startruppe

Ancelotti sollte deshalb jedoch nicht in eine endlos lange Phase der Arbeitslosigkeit stürzen. Es dauerte rund sieben Monate, bis er dem Ruf eines anderen Mäzenen-Vereins folgte. Zum Jahreswechsel 2011/12 holte ihn sein ehemaliger Weggefährte Leonardo zu Paris Saint-Germain. Der als traditionell geltende Ancelotti ersetzte Antoine Kombouaré. Zum Zeitpunkt der Übernahme lag PSG an der Tabellenspitze, konnte allerdings im Verlaufe der Rückrunde den Abstand auf HSC Montpellier nicht halten und musste sich mit dem zweiten Platz begnügen. Im darauffolgenden Sommer wurden die Ansprüche durch zahlreiche Millionen-Transfers unterstrichen. Zlaten Ibrahimovic und Thiago Silva kamen aus Mailand, Ezequiel Lavezzi aus Neapel, Top-Talent Marco Verratti aus Pescara. Zudem gesellten sich im Verlaufe der Saison noch Lucas Moura und David Beckham zur Mannschaft.

Es war Ancelottis Aufgabe aus dieser Ansammlung an Stars ein homogenes Team zu formen. Man vertraute dabei auf seine Erfahrung aus der Milan-Ära und hoffte zugleich, dass er seinem Ruf als Offensivtrainer gerecht wird. Allerdings sollte es mit dem kollektivtaktischen Auftreten nicht so recht klappen. Über weite Strecken der Saison lebte PSG vor allem von seinen Einzelspielern, allen voran von Zlatan Ibrahimovic. Ancelotti vertraute während seiner zweiten Saison in der französischen Hauptstadt entweder auf ein 4-3-2-1 oder ein 4-4-2. Mittelfeldpräsenz war ihm enorm wichtig. In der Offensive kombinierten mehrere Akteure auf engem Raum, während die Außenverteidiger aufrückten. Die Formation war oft gestreckt, es mangelte an Kompaktheit. In der letzten Reihe musste viel ausgeputzt werden. In diesem Zusammenhang passte Ancelottis Spielerwahl gerade in der Ligue 1 nicht immer perfekt. Paris war in vielen Partien dominant, trotzdem ließ der Italiener zuweilen mit drei tieferen Spielmachern agieren. Die Verbindungen in die Offensive fehlten und auch dadurch mussten es im letzten Drittel oft Aktionen der etwas isolierten Angreifer sein.

In der Liga konnte man sich den Titel sichern. Ancelottis Ausrichtung wurde zudem variabler, er stellte mehr auf ein 4-2-2-2 um, wobei zwei tiefere Sechser vor der Abwehr standen, während sich davor ein qualitativ hochwertiges Band bildete, bei dem Lavezzi oftmals neben Ibrahimovic agierte. In einer Analyse zum Achtelfinale gegen Valencia wird dazu geschrieben: „Das System ähnelte ein wenig dem brasilianischen 4-2-2-2 mit zwei tiefen Sechsern und vier Spielern in recht freien Positionen. Auch Manchester City mit den spielmachenden Flügeln Nasri und Silva sind nicht sehr weit von dieser Spielweise weg.“

Paris Saint-Germain 2013

Paris Saint-Germain 2013

Gerade Javier Pastore fokussierte auf das spielmachende Element, während Lucas in der Rückrunde unter Ancelotti die Tempomaschine im Team war. Musste PSG gegen einen stärkeren Gegner verteidigen, verordnete der Italiener seiner Mannschaft ein eher passives Agieren mit zwei engen Viererketten. Durch die kopfballstarken Innenverteidiger konnten Gegner auch angstfrei auf die Flügel geleitet werden. Eigentlich wurden die Pariser im Umschaltspiel, eben über die tempostarken und spielintelligenten Angreifer, noch gefährlicher. Eine stärkere Fokussierung auf diesen Aspekt verhinderte aber Ibrahimovic, der als Zielspieler im Gefüge integriert war. Ancelotti blieb auch bei PSG äußerst pragmatisch. Er drückte der Mannschaft keine explizite Spielidee auf, sondern versuchte aus dem hochwertigen Spielermaterial die besten Leistungen herauszuholen.

In der Champions League kam im Viertelfinale das Aus gegen den FC Barcelona, dem allerdings viel abverlangt wurde. Ancelotti setzte dabei auf Beckham als tiefen Sechser und auf lange Vertikalbälle als generelle Strategie. Die beiden engen, zum Teil asymmetrischen, Viererketten gegen Barca waren ein probates Mittel. Pressing gegen die katalanische Ballbesitzdominanz war eine Seltenheit, wurde es versucht, ging es meist schief.

Trotzdem verhielt sich Ancelotti in diesem hochklassigen Duell klug bei Anpassungen seiner Mittelfeldakteure. Er bewies ein weiteres Mal, dass er Aufrückbewegungen im zentralen Mittelfeld sehr gut dosieren kann. Das endgültige Ausscheiden aus der Königklasse konnte der Italiener aber nicht verhindern. Die Beziehung zum Pariser Milliardenverein beendete er dann Mitte Mai 2013. Denn der Ruf aus Madrid lockte Ancelotti auf den Stuhl José Mourinhos.

Wenig Glanz, aber „La Decima“ vor Augen

Beim spanischen Hauptstadtklub Real Madrid sollte Ancelotti nach dem Selbstverständnis der Königlichen entsprechend unwürdigen Jahren unter Mourinho neue Seriosität und Würde an der Seitenlinie verkörpern. Neben dem Trainerwechsel wurde auch der Kader zum Amtsantritt ein Stück weit umgekrempelt. Die Nationalspieler Gonzalo Higuain und Raul Albiol sowie der gradlinige Konterstürmer José Callejon wurden nach Neapel transferiert, dafür kamen die spanischen Talente Isco, Asier Illarramendi und Daniel Carvajal, welcher nach seinem Jahr in Leverkusen per Rückkaufoption zurückkehrte, zu den Königlichen.

„Ancelotti will be a breath of fresh air. Real Madrid has great players, they just need to play like a team. Ancelotti will make that happen. He has played and coached at the very top, so he knows full well what goes on in the dressing room.” (Johan Cruyff)

AC-Milan_1989-Real-Madrid_2014

Wurde aus Sacchis Milan das neue Real Madrid unter Ancelotti? Ist Modrić eine Art modernes Alter Ego des Trainers?

Ancelotti startete mit einem 4-4-2/4-2-2-2-Mischsystem, in welchem er mit Isco, Mesut Özil und Di Maria eher spielmachende, in die Halbräume tendierende Spielertypen, auf den Flügeln aufbot. Cristiano Ronaldo wurde als nach links hängende Spitze von der Defensivarbeit fast vollständig entbunden. Wegen der Verletzung Xabi Alonsos zu Saisonbeginn durfte Ancelottis modernes Alter Ego Luka Modrić als dominanter, spielmachender Akteur mit wechselnden Partnern im zentralen Mittelfeld operieren. Dies versprach eine Menge Kreativität, führte defensiv jedoch oft zu einer zerrissenen Mannschaft, in der die fünf Spieler hinten und die vier Spieler vorne nur durch Modrić verbunden wurden. Die Außenverteidiger verhielten sich entgegen ihres Naturells eher defensiv, was häufig zu fehlender Breite im Offensivspiel führte.

Auch wegen seiner Defensivschwäche verließ Mesut Özil den Klub nach zwei Spielen in La Liga in Richtung London. Ancelotti übernahm die volle Verantwortung für den Transfer: „Seinen Weggang habe ich entschieden, das war eine sportliche Entscheidung. Ich bevorzuge Di Maria dank seiner Dynamik, seines Charakters, seiner Hilfe für die Mannschaft.“ Zudem warf Ancelotti Özil indirekt Charakterschwäche vor: „Angel di Maria hat weniger Qualitäten als Özil, aber ich bevorzuge seinen Charakter und die Tatsache, dass er dem Team mehr hilft.“ Di Maria sei wichtiger für das Gleichgewicht der Mannschaft, so Ancelotti.

Kurz vor Ende der Transferperiode wurde dann endlich der (fast) 100 Millionen-Euro-Transfer von Gareth Bale realisiert. Dieser komplettierte nach seiner erfolgreichen Integration das Puzzlespiel von Ancelotti. Das 4-4-2/4-2-2-2-Mischsystem konnte um eine weitere Systemkomponente, das 4-3-3, erweitert werden. Dies war zu Beginn bei Ballbesitz auch die dominante Struktur, die sich im Defensivspiel durch die Inkonstanz Ronaldos von einem 4-3-3, zu einem 4-4-2 (Bale im rechten Mittelfeld) und abschließend zu einem 4-1-4-1 entwickelte. Durch die Dynamik dieser Verschiebungen war Real in dieser Phase insbesondere in den defensiven Halbräumen instabil.

Deswegen stellte Ancelotti in den wichtigen Spielen, zum Beispiel gegen Barcelona und gegen die Bayern, konsequent auf ein 4-4-2/4-2-2-2 um, wobei er maßgebliche Aspekte des Pressings unter Arrigo Sacchi (Raumverknappung, Spiel mit Deckungsschatten, lokale Kompaktheit) umsetzen ließ. Nach der torreichen Niederlage in La Liga gegen Barcelona, wurden anschließend Siege in der Copa (ein Gegentor) und Champions-League (ohne Gegentore) eingefahren. Das neue System nutzt insbesondere die Defensivfähigkeiten Bales und Di Marias sowie die unglaubliche Raumkontrolle Luka Modrić‘ ideal aus, um die Defensive zu balancieren und zu stabilisieren. Ancelotti ist nur noch einen Sieg von „La Decima“ entfernt.

Schlusssatz

Das ist natürlich nur ein kleiner Abriss des Schaffens von Carlo Ancelotti, der sich wie die „intellektuelle Biografie“ nur dem öffentlichen Wirken widmet. Die Autobiografie „Preferisco la Coppa“, welche 2009 erschien, wurde nicht herangezogen. Wenngleich ein solches Selbstzeugnis mehr über die Sehnsüchte und Eindrücke des Autoren als über weitestgehend objektive Tatsachen aussagt, könnte natürlich dieses Werk noch in eine Betrachtung der Person Ancelotti einbezogen werden.

(Mitarbeit von RM und TW)

Cesare Prandelli – Ein steiniger Weg zum Nationaltrainer

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Er gilt als einer der großen Taktiker der Fußballwelt. Dennoch ist Cesare Prandelli hierzulande kein allzu bekannter Trainer. Dieser Artikel erschien als kleines, kompaktes Trainerporträt in unserer EM-Vorschau 2012:

Seine Bekanntheit hält sich in Deutschland in Grenzen, obwohl er 2010 den Bayern unter van Gaal mit Außenseiter Florenz in der Champions League beinahe ein Bein gestellt hätte – und es in gewisser Weise auch tat. Seine Formation sollte für die Bundesligatrainer in den nachfolgenden Spielen eine Art Schlüssel zum Knacken der Bayern darstellen. Unter anderem sprach Dieter Hecking nach Nürnbergs Punktgewinn davon, dass er sich am System des italienischen Trainerkollegen orientiert hatte. Ansonsten ist der italienische „commissario tecnico“ in Deutschland ein unbeschriebenes Blatt. Schuld daran mag seine wenig hervorstechende Spielerkarriere sein.

Prandellis Weg zum Trainer

Geboren wurde der italienische Nationaltrainer am 19. August 1957 in Orzinuovi. Der Lombarde begann auch im Norden Italiens seine Karriere,  in der Jugend beim US Cremonese erlernte er das Fußballspielen im zentralen Mittelfeld. Mit nur 17 Jahren gab er sein Debüt in der dritten italienischen Liga, welche sie in der Saison 1976/77 gewinnen konnten. Der damit verbundene Aufstieg in die Serie B sollte die ideale Plattform für den jungen Achter darstellen.

Nach einer weiteren Saison wechselte er eine Etage höher zu Atalanta Bergamo, wo er sich auf Anhieb einen Stammplatz sichern konnte. Aufgrund seines Potenzials wurde er im Sommer 1979 von Juventus gekauft und pendelte dort in den kommenden Jahren zwischen Bank und Stammplatz; in 138 Spielen traf er zwei Mal. Drei Scudetti und ein nationaler Pokal gesellten sich zu drei europäischen Trophäen, zum Einsatz kam er allerdings nur im Finale des Meisterpokals 1985 – der Tragödie von Heysel.

Diese sollte Charakter und Einstellung Prandellis nachhaltig beeinflussen, nach dem aufgrund von Ausschreitungen unterbrochenen Qualifikationsspiel gegen Serbien fühlte er sich sogar unangenehm daran erinnert. Als Trainer vertritt er den Standpunkt, dass die Sicherheit über allem steht; „Fans“, welche sich durch Gewalttaten im Stadion strafbar gemacht haben, sollten prinzipiell ein lebenslanges Stadionverbot erhalten. Auch wegen seiner Attitüde, Trainer und Spieler sollten als Vorbilder vorangehen, gilt er als Gentleman.

Angeblich soll er nach den beiden Vorkommnissen sogar über ein Karriereende nachgedacht haben. In seiner Zeit als Spieler sorgte die Katastrophe zumindest für eine Rückkehr ins weniger glamouröse Bergamo. Dort ließ er seine Karriere ausklingen und übernahm diverse Jugendmannschaften Atalantas. Sieben Jahre (1990 – 1997) arbeitete er mit dem Nachwuchs der Lombarden, 1993/94 übernahm er für eine halbe Saison erfolglos den Posten des Interimstrainers.

Rückschläge und Achtungserfolge – die Trainerkarriere Prandellis

Ebenso verlief sein erster Job als Cheftrainer eines Vereins. Sein Ruf als hervorragender Jugendtrainer brachte ihn bei US Lecce auf den vakanten Trainerposten. Schon im Januar 1998 wurde er allerdings entlassen, sein Nachfolger Angelo Pereni konnte den Abstieg dennoch nicht verhindern.

Nur kurze Zeit später versuchte er sich bei Hellas Verona in der Seria B und stieg sofort auf. In der Folgesaison etablierten sich die Gelbblauen mit einem guten neunten Platz in der Serie A. Auch seine Zeit in Venedig 2000/01 verlief positiv. Mit den meisten erzielten Toren stiegen sie als Tabellenvierter in die Serie A auf; nach einem schwachen Saisonstart erhielt Prandelli jedoch die Kündigung. Ohne ihn stiegen die Venezianer wieder ab und finden sich nach finanziellen Problemen aktuell nur noch in der vierten Liga wieder. Gleichzeitig kam ein Angebot von Parma herein, deren Trainerstuhl als Schleudersitz galt.

Prandelli war der vierte Trainer in der  Saison 2001/02 und sollte bis 2004 bei dem schlafenden Riesen bleiben (acht Titel von 1992 bis 2002), der, trotz zahlreicher Stareinkäufe Ende der 90er-Jahre, nach der Jahrtausendwende mit Abstiegsängsten zu kämpfen hatte. Unter Sportdirektor Arrigo Sacchi schafften sie es, ihre Kosten zu reduzieren und das Team dennoch in höhere Tabellengefilde zu führen.

Sie gehörten wieder zu den „sette sorelle“ (sieben Schwestern, die Topteams der 90er-Jahre in Italien) – doch der Einbruch und finanzielle Kollaps kam aufgrund des Parmalatskandals 2004. Der Schuldenabbau konnte nicht schnell genug in Einklang mit den sportlichen Zielen gebracht werden und Prandelli verließ das sinkende Schiff. Er wurde vom AS Rom eingestellt, die Beziehung sollte allerdings unter keinem glücklichen Stern stehen.

Der im Jahr 2001 diagnostizierte Brustkrebs bei seiner Frau verschlimmerte sich und Prandelli nahm sich eine Auszeit vom Fußball. Er kündigte seinen Vertrag und blieb in der Saison ohne Beschäftigung in der Fußballbranche. Ende November 2007 verstarb sie schließlich. Im Alter von 25 Jahren hatte er Manuela Caffi geheiratet, die er sieben Jahre zuvor in seiner Heimatstadt kennengelernt hatte. Sie schenkte ihm zwei Kinder, Carolina und Nicolò, welcher aktuell Fitnesstrainer beim FC Parma ist. Im Jahr 2010 fand er sein privates Glück bei Novella Bennini, der ehemaligen Lebensgefährtin eines bekannten italienischen Finanzmanagers, wieder.

Fiorentina unter Prandelli

Fiorentina unter Prandelli

Nach seiner Auszeit wurde Prandelli Trainer in Florenz. Die Saison 2004/05 beendeten sie mit einem Punkt vor dem Vorletzten aus Brescia punktegleich mit Bologna und Parma. Diese beiden Vereine mussten in die Relegation, während sich die Toskanen knapp retten konnten. Bereits in der ersten Saison unter Prandelli sollte sich allerdings alles verändern. Am Ende standen sie auf Platz vier und somit auf einem CL-Platz, wegen des Calciopoli-Skandals wurde sie jedoch auf den neunten Tabellenplatz herabgestuft.

Die folgende Saison begannen sie mit 15 Minuspunkten – dennoch konnten sie sich im oberen Drittel etablieren und wurden punktgleich hinter Palermo Sechster. Ohne die abgezogenen Punkte wären sie sogar auf Platz drei, zwei Punkte hinter Vizemeister AS Rom, gelandet. Diese hypothetischen 73 Punkte sollten die beste Saison unter Prandelli darstellen. Aber sie konnten sich in den nächsten zwei Jahren jeweils für einen CL-Platz qualifizieren und lediglich in der Saison 2009/10, Prandellis letzter, landeten sie wieder im Mittelfeld. In dieser Saison überholte er Fulvio Bernardini als den langjährigsten Trainer in der Klubgeschichte der Viola und schied nur knapp gegen den späteren CL-Finalisten Bayern München aus. Ein großes Handicap in der Saison war die Dopingsperre Adrian Mutus, des Schlüsselspielers in Prandellis System.

Der Kopf der Squadra Azzurra

Wenige Monate später wechselte Prandelli zum italienischen Verband und wurde Nationalcoach Italiens. Als Nachfolger des Weltmeisters Marcello Lippi stand ihm eine große Aufgabe bevor, die relativ schwach begann: mit einer 0:1-Niederlage gegen die Elfenbeinküste.

Unter seiner bisherigen Ägide gewannen die Hellblauen übrigens nur drei von zehn Freundschaftsspielen, fünf gingen verloren. Dies liegt hauptsächlich daran, dass den Spielern in solchen Situationen oft die Konzentration fehlt und Prandelli die Spiele zum Experimentieren nutzt. In der EM-Qualifikation hingegen überzeugten sie durchgehend, ebenso wie beim 2:0-Freundschaftsspielsieg gegen den amtierenden Welt- und Europameister Spanien. Pro Qualifikationsspiel schossen sie zwar nur elf Mal aufs Tor des Gegners (was den elften von vierzehn Plätzen aller qualifizierten Teams bedeutet), kassierten allerdings auch kaum Tore. Dies geschah aber keineswegs, weil Prandelli sich der klassischen italienischen Tugend des Defensivfußballs bedient hätte. Im Gegenteil: die Italiener ließen Ball und Gegner laufen, konzentrierten sich im Offensivbereich lieber auf qualitativ wertvolle Torversuche.

Und hinten ließen sie nichts anbrennen: nur 0,2 Gegentore pro Spiel sowie 26 Punkte aus zehn Spielen bedeuteten jeweils italienischen Rekord. Die Punktezahl wurde ohnehin nur von WM-Finalist Niederlande (27) und dem EM-Favoriten aus Deutschland (30) überboten. Doch die Änderungen Prandellis bezogen sich nicht nur auf das Geschehen auf dem Platz. In gewisser Weise führte er das ganzheitliche Führungsprinzip in die italienische Nationalmannschaft ein.

Seiner Meinung zufolge kommen Fans und Land an erster Stelle, weswegen er unbedingt deren angeknackste Beziehung zur Nationalmannschaft restaurieren wollte. Darum führte er einen „Ethikkodex“ ein, welchen jeder Spieler einhalten musste. Dieser sieht unter anderem vorbildliches Verhalten auf und neben dem Platz vor. Sogar auf Klubebene sind die Spieler nicht vor Prandellis Augen geschützt. Dies mussten bereits Daniele de Rossi und Mario Balotelli spüren, als sie wegen Verfehlungen in ihren Vereinen nicht zur Nationalmannschaft berufen wurden. Simone Farina, ein weitgehend unbekannter Außenverteidiger aus der Serie B, durfte hingegen aufgrund vorbildlichen Verhaltens drei Tage bei der Nationalmannschaft mittrainieren. Er war Hauptankläger, Zeuge und einer der Bestechungsverweigerer bei einem neuerlichen Skandal der italienischen Liga im Jahre 2011.

Vor der Europameisterschaft werden die Italiener weiterhin ihre positive Image-Kampagne betreiben. Sie besuchen geschlossen das ehemalige Konzentrationslager in Auschwitz und sehen sich dabei als Vertreter des teilweise noch immer stark rechts geprägten Italiens. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Marcelo Lippi, welcher Balotelli angeblich wegen dessen Hautfarbe keine Chance bieten wollte, positioniert sich Prandelli klar gegen jegliche Formen des Rassismus.

Auch gegen Homophobie äußerte er sich bereits in Interviews. Allerdings ist er nicht nur der nette Gentleman aus dem Fernsehen, der Trainer der Squadra kann auch anders. So kritisierte er die italienische Politik aufgrund fadenscheiniger Versprechungen und ihren mangelnden Investitionen in den italienischen Fußball beziehungsweise seiner Infrastruktur in Form moderner Stadien und bespielbarer Plätze. Er legte sich ebenfalls mit der gesamten Liga an, als er einen Kurzlehrgang für die Nationalmannschaft im April einforderte – und ihn nach längerer Diskussion auch bekam. Wichtig für ihn war die Festigung der neuen italienischen Spielphilosophie.

Der Erneuerer

Laut eigener Aussage orientiert er sich am Spiel des FC Barcelona. Kurzpassspiel, Dominanz und ein offensivgeprägter Spielstil dienen aber nicht nur dem Eigennutz. Vielmehr gehört es zu dem ganzheitlichen Prinzip, mit welchem er die Fans wieder zur Nationalmannschaft „zurückholen“ will. Deswegen sucht er auch den schmalen Pfad zwischen Selbstbewusstsein („Natürlich können wir Europameister werden, ich halte uns für gut genug“) und Zugeständnissen an die Konkurrenz, seien es vermeintliche Fußballzwerge wie Slowenien und Kroatien, die er lobt und stark redet, oder der große Gegner aus Deutschland, welchen er als EM-Favoriten sieht.

Gleichzeitig fordert er eine verstärkte Jugendarbeit, da in seinen Augen die Mannschaften zu sehr auf Legionäre setzen, die talentierten Jungspielern aus der Heimat die Zukunft verbauen. Hier sieht er weitere positive Impulse aus Deutschland. Dort agieren die Vereine „weniger vorschnell und geben mehr Zeit, welche jeder für seine Entwicklung benötigt“. Hierbei verlangt er eine wissenschaftliche Vorgehensweise – welche nun dank Arrigo Sacchi als Kopf der Jugendförderung beginnt. Für ein umfassenderes Scouting, Regelveränderungen in den Spielen der Jugendmannschaften sowie modernere Spielsysteme soll er intern bereits Wort eingelegt haben.

Anders als manche Trainerkollegen in Italien praktiziert Prandelli mit seinen Mannschaften eine Viererkette. Bereits in den Neunzigern bei Hellas Verona ließ er vorzugsweise im 4-4-2 spielen, wobei er teilweise mit einer Dreierkette und einem 4-5-1 experimentierte. Beim AC Parma spielte er zu Beginn sogar in einem 4-3-3, stellte dies dann auf das einfachere 4-4-2 um. In der zweiten Saison (2003/04) wurde schließlich das 4-2-3-1 zum Standardsystem, welches sich heute im gesamten modernen Fußball als die primär genutzte Formation etabliert hat.

Seiner Flexibilität tat dies keinen Abbruch, beim AC Florenz erreichte sie sogar ihren vorläufigen Höhepunkt. In 190 Serie-A-Partien nutzte er bei einem Drittel der Partien ein 4-2-3-1 oder ein 4-3-3, zu je einem Sechstel eine Tannenbaumformation, die Raute und die flache Vier, jeweils Varianten des 4-4-2. Die restlichen Systeme waren Experimente mit drei Stürmern oder einem stark aufgerückten Mittelfeld, ob mit einer Dreierkette hinter zwei Stürmern oder gar einer Viererkette hinter einem Mittelstürmer. Dies zeigt, wie flexibel der Trainer und Taktiker Prandelli ist. Nicht nur wegen seiner Vorreiterrolle beim 4-2-3-1 ist er in Italien als Wissenschaftler des Fußballs verschrien.

Es wird interessant sein zu sehen, welche Formation er für die anstehende Europameisterschaft wählt. Zurzeit präferiert er die Raute, wobei auch eine flache Vier und das 4-3-3 als Alternativen gelten. Allerdings dürfte die Zahlenkombination gar nicht so wichtig sein – entscheidend ist, dass die Null steht und trotzdem nach vorne gespielt wird.

Mittlerweile sind zwei Jahre vergangen. Wir hoffen, dass wir uns seitdem sprachlich weiterentwickelt haben und unsere Artikel noch detaillierter und präziser sind, wenngleich ein SV-Autor nach eigener Einschätzung seinen Zenit bereits im Herbst 2011 erreicht haben soll…

Die Entwicklung der Italiener und natürlich auch Prandellis seit 2012 kann man in unserer aktuellen WM-Vorschau nachlesen. Neben einer kleinen Werbung für unsere WM-Vorschau wollten wir mit der Re-Publikation dieses Artikels auf unserer Seite aber auch einem unterschätzten Taktiker Tribut zollen. 

Trainerporträt: Sir Alex Ferguson

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Nur wenige Trainer hatten eine so illustre Karriere wie Sir Alex Ferguson. Zahlreiche, fast schon klischeehafte Aspekte finden sich in seinem Leben wieder, welche ihn zu dem machten, was er letztlich ist. Dieses Trainerporträt soll kurz sein Leben Revue passieren lassen, einen Einblick in seine Persönlichkeit und seine Karriere geben. 

Die morgige „In-depth-Traineranalyse“ (und somit unsere erste Traineranalyse) befasst sich dann mit dem, was Ferguson so besonders und genial gemacht hat, bevor wir in mehreren Retroanalysen seine Mannschaften betrachten.

Bescheidene Verhältnisse und Fußball, Fußball, Fußball

Während des zweiten Weltkriegs kam Alexander Ferguson auf die Welt. Einer der größten Trainer aller Zeiten wurde zu Silvester 1941 geboren und stammt aus simplen Verhältnissen. Sein Vater war ein Werftarbeiter in der Industriestadt Govan, gemeinsam mit seinem Bruder Martin wuchs er in überaus bescheidenden Verhältnissen auf. Die Eltern waren in der damals noch sehr auf die Religion fixierten Gegend eine „Mischehe“; der Vater Katholik, die Mutter Protestantin, ebenso wie die zwei Söhne. Unbeeinflusst davon hatte Ferguson nur ein Ziel: Spieler bei seinem Lieblingsteam Glasgow Rangers zu werden.

„Nicht obwohl, sondern weil ich aus dem Werftenviertel Govans von Glasgow stamme, habe ich so viel erreicht.“ – Sir Alex Ferguson

Über Umwege sollte es ihm gelingen. Mit 16 Jahren debütierte er im Amateurfußball für Queen’s Park, wechselte aber nach drei Jahren ohne Stammplatz zu St. Johnston. Auch dort hatte er lange Zeit Probleme von Beginn an Einsätze zu erhalten, erst durch eine Verletzung rückte er in die Startelf. Es folgte der nächste Wechsel im Alter von 23 Jahren, als er für Dunfermline unterschrieb. Nun war Ferguson ein Profi in der ersten schottischen Liga – und was für einer. Nämlich ein falsch eingebundener, potenziell sehr starker und alles in allem unüblicher Mittelstürmer.

Der schottische Gerd Müller

In der Saison 1965/66 erzielte Ferguson gleich 45 Tore in nur 51 Spielen und wurde auch Torschützenkönig in der Liga (31 Treffer). Bei Dunfermline zeigte Ferguson seine Stärken, was ihm einen Rekordtransfer zu seinem Lieblingsverein Glasgow Rangers einbrachte. Dort sollte Ferguson aber wider Erwartens nicht glücklich werden. Nach einem Manndeckungsfehler(!) im Derby und einem folgenden Streit verlor Ferguson seinen Platz im team und ließ seine Karriere in den folgenden fünf Jahren bei Falkirk und Ayr United ausklingen.

Das Problem für Ferguson bei Rangers, aber auch zu Beginn und zum Ende seiner Spielerkarriere, war die mangelnde Einbindung seiner Fähigkeiten und die Ermangelung eines passenden Umfelds. Ferguson wurde wie auch Gerd Müller rein auf seine Fähigkeiten im Strafraum reduziert, insbesondere auf den Abschluss selbst und die Präsenz bei Abstaubern. Doch im Gegensatz zu Müller hatte Ferguson nicht das Glück mit Spielern wie Beckenbauer unter Trainern wie Schön oder Zebec zusammenzuspielen, wo seine besonderen Fähigkeiten erkannt und eingebunden werden konnten. Kollege Martin Rafelt beschrieb den immer falsch eingeschätzten Gerd Müller wie folgt:

Müller dribbelte nicht, forderte die Bälle ganz anders und verteilte sie weit weniger kreativ und weiträumig. Er war kein spielmachender, sondern ein kombinierender Stürmer.

Die Bereiche, in denen er die Kombinationen mit den Mitspielern suchte, waren dabei ungewöhnlich variabel und – eine wertvolle Fähigkeit – sehr anpassungsfähig. Recht oft ging er kurze Wege in die hohen Halbräume um seine direkten Nebenleute zu unterstützen, in manchen Spielen ließ er sich sogar fast bis ins defensive Mittelfeld zurückfallen. Bis auf die Flügel ging er kaum, da die fehlende Dynamik entlang der Seitenlinie eine effektive Einbindung seiner Ablagen erschwerte. Seine Entscheidungen bezüglich des Zurückfallens war stets sehr funktional: Er suchte die Kombinationen nicht aus individueller Verspieltheit heraus, sondern orientierte sich sehr strategisch und rein unterstützend. Wenn er sich für Doppelpässe anbot, dann weil seine Mannschaft andernfalls in bestimmten Zonen keine Anspielstation hatte oder in Unterzahl kommen konnte.

Ferguson war ein ähnlicher Spielertyp wie Müller; durchaus ähnlich defensiv mitarbeitend, aber nicht ganz so erfolgsstabil in den Kombinationen und so intelligent im Bewegungsspiel außerhalb des Strafraums. Insgesamt war Ferguson also die schwächere Version Müllers im gleichen Zeitalter, konnte diese Stärken aber kaum einbinden. Neben dem Mangel an passenden Mitspielern und Trainern gab es ein weiteres Problem für Ferguson: Er war ein 1,80m groß.

Heute noch ist die Durchschnittsgröße in Schottland bei ungefähr 1,78, zu Fergusons Zeit war der Schnitt je nach Schätzungen zwischen 4 und 8 Zentimeter kleiner. Soll heißen: Ferguson war groß genug, um als Zielspieler im Sturmzentrum mit langen Bällen der eigenen Abwehrspieler torpediert zu werden. Obwohl Ferguson durchaus kopfballstark war und einige Tore dadurch erzielte, beschränkten die Flanken und langen Bälle ihn, weil er sich partout nicht fallen lassen konnte und durfte. Er musste Tiefe geben und wenn er zurückfiel, fehlte er schlichtweg für die ohnehin kommenden langen Bälle. Kombinationen waren Mangelware, während der originale Gerd Müller in einigen kombinationsorientierten und –starken Mannschaften auflaufen durfte.

Gerd Müller war außerdem einige Zentimeter kleiner und keiner wäre auf die Idee gekommen ihn durchgehend mit hohen Hereingaben zu belästigen. Wenn Gerd Müller sich im Luftzweikampf bei einer Flanke durchsetzte und per Kopf traf, hieß es wohl mit einer Mischung aus Schmunzeln und Kopfschütteln:

„Ach, dieser Müller schon wieder!“

Wenn sich aber Ferguson nicht  per in der Luft durchsetzte oder einen Kopfball neben das Tor saß, kann man sich die wutschnaubenden Gesichter vorstellen, welche schrien:

„Ach, dieser Ferguson schon wieder!“

Interessanterweise hatte Ferguson seine mit Abstand beste Saison 1965/66 mit einer Torquote nahe an einem Tor pro Spiel mit Dunfermline in jener Mannschaft, in der Stein Anfang der 60er die Strukturen setzte. Stein gilt bis heute neben Ferguson, Sir Matt Busby und Bill Shankly als einer der vier größten schottischen Trainer aller Zeiten.

Junger Ferguson 1992

Junger Ferguson 1992

Steins Nachfolger Willie Cunningham hielt die offensive Organisation aufrecht. Sie spielten zwar ebenfalls auf Flanken und lange Bälle, waren hierbei aber organisierter und nutzten auch (längere) Flachpässe. Dies fehlte Ferguson bei seinen vorherigen und späteren Stationen nur allzu häufig, einzig Willie Ormond bei St. Johnstone könnte man hier noch nennen.

Die große Karriere blieb Ferguson letztlich trotz 7 Einsätzen für die schottische Nationalmannschaft bei einer Tour durch Asien und Ozeanien 1967 (9 Tore) und einem Wechsel mit Rekordablöse zu den Rangers verwehrt. Nach seinem Zwist bei Rangers ließ er seine Karriere bei Falkirk und Ayr United ausklingen. Darum hatte Ferguson damals andere Pläne – und arbeitete versehentlich schon an seiner Trainerkarriere.

Vom Pub-Besitzer zum Diego Simeone der 70er und 80er

Schon in jungen Jahren eröffnete Sir Alex Ferguson von seinem Gehalt als Fußballer und Werkzeugmacher einen Pub. Als Arbeiter und Geschäftsführer des Pubs – gemeinsam mit seinem Vater und seinem Bruder – hatte Ferguson neben dem Einschenken und Verkaufen von Getränken auch mit dem Schlichten von Streitereien, dem Zuhören bei Problemen, dem Geben von Ratschlägen und dem Organisieren des Geschäftsbetriebes zu tun. Das klingt wie ein banaler Job, doch sollte langfristig enorm hilfreich für Ferguson sein.

„In den Pubs lernte ich sehr viel über Menschen, ihre Träume, ihre Wünsche und ihre Frustrationen, und das half mir später, die Welt des Fußballs besser zu verstehen, auch wenn ich das damals noch nicht wissen konnte.“ – Sir Alex Ferguson

Diese Mischung aus dem Leben als professioneller Fußballer, Pub-Besitzer und die Balance mit dem Privatleben dank seiner Frau Cathy Holding sorgten für das perfekte Training für seinen späteren Trainerberuf. Dazu suchte Ferguson immer wieder den Austausch und Ratschläge mit Jock Stein, den er als Mentor und später als den besten britischen Trainer aller Zeiten bezeichnen würde.

„I am proud to say that I knew Jock Stein as a manager, as a colleague and as a friend… he was the greatest manager in British football… men like Jock will live forever in the memory. “ – Sir Alex Ferguson 

Noch während seiner aktiven Zeit als Fußballer erhielt Ferguson schon einen Posten als Assistenztrainer bei Falkirk, den er nach einem Trainerwechsel aber aufgab, den Verein wechselte und bei Ayr eine letzte Saison als Spieler anhing. Schon mit 32 wurde er daraufhin zum Trainer bei East Stirlingshire in der dritten Liga, wechselte aber alsbald zu Ligakonkurrent St. Mirren.

Sein ehemaliger Trainer Willie Cunningham hatte nach seinem Rücktritt bei St. Mirren Ferguson als Nachfolger empfohlen. Innerhalb von nur vier Jahren transformierte er St. Mirren von einem Mittelklasseverein in der dritten Liga zu einem Verein in der ersten schottischen Liga.

Den Meistertitel in der zweiten Liga holte man durch aggressives Pressing, intensiven Vertikalfußball mit einigen talentierten Technikern, deren Durchschnittsalter bei 19(!) Jahren lag. 91:38 Tordifferenz, 87 Punkte wurden in 39 Partien mit dieser extrem jungen Mannschaft ergattert. Mit acht Punkten Vorsprung auf die Abstiegsränge hielt man die Klasse. Mit 52 Toren in 36 Partien erzielte man auch die viertmeisten Tore in der Liga.

Der Vergleich mit Simeone ist in gewisser Weise durchaus passend: Aberdeen mischte damals eine (für jene Zeit) hohe Kompaktheit mit Raumdeckung und aggressivem Pressing, welches in puncto Formation, Höhe und Rhythmus variieren konnte. Dazu gab es aber auch organisierte Strukturen im Aufbauspiel, welche insbesondere auf Ablagen, zweite Bälle, Flanken, schnelle, weiträumige Kombinationen und letztlich auch auf Standards fokussiert waren. Diese Spielweise führte zu Fergusons raschem Aufschwung. Nach der Saison St. Mirrens in der ersten Liga wanderte Ferguson zum FC Aberdeen ab; wieder auf Empfehlung eines vorherigen Trainers, dieses Mal war es Jock Stein persönlich.

Aberdeen zerstört die Old Firm und Europas Giganten

Als 36jähriger übernahm Ferguson eine der größeren Mannschaften Schottlands. Aberdeen hatte allerdings die Liga nur einmal gewonnen und zwar 1955; über zwanzig Jahre vor Fergusons Ankunft. Nach zwei Jahren gewann Ferguson, der um den Respekt seiner Spieler ringen musste, in typischer Fergie-Manier den Meistertitel – durch eine spektakuläre Aufholjagd in der zweiten Saisonhälfte. Erstmals seit 15 Jahren hatte keine der Glasgower Mannschaften die Liga gewonnen.

Ferguson bei United

Ferguson bei United

In den folgenden Jahren holte sich Ferguson noch einen Pokalgewinn und zwei weitere Ligatitel ab, sein größter Erfolg sollte auf europäischer Bühne kommen. In einem spektakulären Lauf schlugen die Schotten nicht nur Bayern und Real Madrid 1983 im Pokal der Pokalsieger, sondern gewannen im Dezember desselben Jahres auch noch den Europäischen Superpokal gegen Happels HSV.

Durch Fergusons und Jim McLeans Erfolge in den 80ern wurde gar von einer „New Firm“ gesprochen, welche Celtic und Rangers ablösen sollte. Es sollte aber nur ein kurzes Wunschdenken vieler sein. Von 1965 bis heute gab es nur vier Titel von Mannschaften, die nicht Rangers oder Celtic heißen. Drei waren von Fergusons Aberdeen, einer von McLeans Dundee United, darunter von 1983 bis 1985 gleich drei Titel hintereinander.

McLean war übrigens Fergusons Bruder im Geiste, der eine ähnliche Spielphilosophie mit organisierten langen Bällen und Ablagen sowie intensiverem, raumorientierterem Pressing verfolgte. Desweiteren sollte sich McLean bei Dundee United ganze 22 Jahre halten und es war sogar der einzige Verein in seiner gesamten Trainerkarriere.

Die Erfolge der „New Firm“ fielen natürlich auch in England auf. 1985 zeigte Manchester Uniteds Rivale Liverpool Interesse an Ferguson, doch erst nach der Weltmeisterschaft 1986 sollte Ferguson im November das Land verlassen. Nach dem Tod Jock Steins übernahm Ferguson die schottische Nationalmannschaft und schied mit zwei knappen Niederlagen und einem Unentschieden in einer schwierigen Gruppe (Uruguay, BRD, Dänemark) aus.

Als Atkinson bei Manchester United entlassen wurde, wurde Ferguson als amtierender Cupsieger Schottlands mitten im Herbst verpflichtet und sollte noch den Karren aus dem Dreck reißen. Eine lange und schwierige Aufgabe.

Die Ära United beginnt…düster

Es mag aktuell merkwürdig klingen, doch Manchester United war Mitte der 80er in einem ähnlichen Zustand wie heute der HSV. Eine traditionsreiche Geschichte war genau das – Geschichte. Vielfach mangelte es an passenden Strukturen, es fehlte schlichtweg an den nötigen Abläufen und internen Kompetenzen für einen geordneten und erfolgreichen Aufbau eines Vereins. Deswegen hatte Ferguson auch lange Probleme im Verein: Als Manager war es nicht nur seine Aufgabe das Team erfolgreich spielen zu lassen, sondern sich um allerlei Belange außerhalb des Platzes zu kümmern.

2011 sind alle Sorgen aus den 80ern wohl vergessen

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Deswegen dürfte United zu jener Zeit auch so inkonstant gewesen sein. Zu Beginn der Ära Ferguson lag das Team auf dem vorletzten Rang und galt als Abstiegskandidat; nach einigen Wochen unter Ferguson besserten sich aber Ergebnisse und Leistungen. Man konnte die Saison noch auf einem akzeptablen elften Platz beenden. In der folgenden Saison 1987/88 gab es einige sehr gute Verpflichtungen Fergusons, unter anderem dem später eminent wichtigen Steve Bruce und dem ehemaligem Aberdeentorhüter Jim Leighton.

Damals blitzten die ersten Vorzeichen für Fergusons spätere Erfolge auf: Man wurde Vizemeister und zeigte guten Fußball, auch wenn die kommenden zwei Jahre trotz starker Verpflichtungen enorm problematisch sein sollten. Ein Mangel an passendem Ballbesitzspiel gegen verstärkt mauernde Gegner in der Spielzeit 1988/89 und 89/90 sowie zahlreiche Verletzungen wichtiger Spieler (war Ferguson doch der Klopp der 80er?) in letzterer Saison führten zu zahlreichen Gerüchten und Forderungen seiner Entlassung. Der FA-Cup-Sieg 1990 brachte ihm aber wieder mediale Ruhe und das Vertrauen der Fans; es sollte ein Erfolgslauf historischen Ausmaßes folgen.

Uniteds Weg zum Rekordmeister und europäischen Macht

Drei Jahre nach dem FA-Cup-Sieg sollte United unter Ferguson erstmals Meister werden. Die zahlreichen neuen Verpflichtungen schlugen langfristig ein: In jenen Jahren kamen u.a. Gary Pallister, Peter Schmeichel, Lee Sharpe, Andrei Kanchelskis und Paul Ince zu den Red Devils. 1991 gewann man sogar den Pokal der Pokalsieger gegen Cruijffs FC Barcelona, woraufhin die schärfsten Kritiker Fergusons trotz inkonstanter Leistungen in der Liga zumindest weitestgehend verstummen sollten.

Zum endgültigen Gewinn des Liga-Titels fehlte es United in dieser Zeit an einem durchschlagskräftigen und kombinationsstarken Stürmers. Alan Shearer – bei dem die Betonung auf „durchschlagskräftig“ liegt – entschied sich gegen Ferguson und wechselte zu Blackburn. Sein Ersatz Eric Cantona zu Beginn der Saison 1992/93 und die vielen Investitionen in den Trainerstab, das Scouting, die Jugendabteilung und die Infrastruktur sollten sich auszahlen.

Doch um den ersten Meistertitel zu ermöglichen, war auch noch ein anderer großer Brocken aus dem Weg zu räumen – an ihm hatte Ferguson jahrelang gearbeitet. Hierzulande ist es vielleicht nicht allen bekannt, doch bis in die späten 90er litt der britische Fußball im Profibereich unter einem chronischen Alkoholproblem. Ferguson führte dagegen einen erbitterten Krieg und sollte zumindest innerhalb seiner Mannschaft siegreich bleiben. So soll er im Frühling 1992 in das Haus seines Flügelstürmers Lee Sharpe gestürmt sein, weil dort eine Party stattfand. Sharpe und der ebenfalls anwesende Ryan Giggs wurden vor versammelter Partygesellschaft zusammengestaucht.

Die erhöhte Disziplin und Professionalität gepaart mit den Umbauarbeiten auf und neben dem Platz sollten sich auszahlen. In den folgenden zwanzig Jahren von 1993 bis 2013 sollte Manchester United gleich dreizehn Ligatitel holen. Insgesamt holte Ferguson mit United zusätzlich noch neunzehn nationale und sechs internationale Pokalsieg. Eine passable Ausbeute pro Jahr.

Diese Titel lagen an vielen Faktoren und Spielern – doch sie alle können auf Ferguson als Ursprung zurückgeführt werden.

Meta-System-Deuter

Ob sich jemals wer eine Statue mehr verdient hat?

Ob sich jemals wer eine Statue mehr verdient hat?

Ob die Elf um Cantona Mitte der 90er, die große 99er-Mannschaft um die mit Keane, einzelnen Verteidigern, dem Sturmduo Yorke und Cole sowie vielen Rollenspielern auf der Bank wie Solskjaer ergänzte „Class of 92“ (Scholes, Butt, Giggs, Phil Neville, Gary Neville, Beckham aus einem gemeinsamen Jugendteam von 1992) oder die zahlreichen folgenden Mannschaften – allesamt hatten eine unterschiedliche Struktur, ein weitestgehend verändertes Personal und sogar variable Spielsysteme.

Extrem dynamischer Konter, diagonale Flügelstürmer, sogar intelligenter Ballbesitzfußball (insbesondere um 2000 herum), ein immer variierendes Pressing und unterschiedliche Formationen gab es unter Ferguson zu sehen. Zwar war es immer eine Viererkette und ein gewisser Fokus auf überfallartigen Vertikalfußball (bzw. häufig eigentlich Diagonalfußball) sowie meist auch zwei Angreifer und fokussierte Außenstürmer, dennoch gab es unter Ferguson fast schon extreme Unterschiede zwischen den einzelnen Mannschaften.

Die Ursache lag auf der Hand: Ferguson war fast zur Gänze ein Pragmatiker. Schon als Spieler hatte er gelernt, wie wichtig eine passende Organisation im Ballbesitz ist. Dies wurde in den folgenden Jahren immer verfeinert und verstärkt in Richtung kurze Flachpässe ausgerichtet. Viele Trends in der heimischen Liga nutzte Ferguson ebenfalls aus. Vereinzelt nutzte er wie bei Aberdeen leicht asymmetrische Varianten des vorherrschenden Systems (bspw. das 4-3-3) oder war schlichtweg sofort da, wenn sich in der Liga ein neuer Trend andeuten sollte. Wirklich veraltet war Manchester United nur ein paar Mal in Europa, in der heimischen Liga mischte man hohe individuelle Qualität mit mindestens kollektiver Ebenbürtigkeit. Desweiteren hatte Ferguson ein beeindruckendes Gespür für seine Spieler, taktisch wie psychologisch.

Psychologisches Genie, Führungsperson, Vaterfigur, Scoutinggenie

Obgleich Ferguson (zurecht) als autoritär und disziplinfordernd gilt, so konnte er auch anders. Seine Spieler wurden regelrecht zu einem United-Spieler erzogen. Beispielsweise sprachen einige englische Nationalspieler davon, dass Fergusons Spieler sich nach Länderspielen zurückzogen und das Spiel abseits der eigentlichen Mitspieler untereinander analysierten und besprachen.

Dies deutet neben zahlreichen anderen Anekdoten darauf hin, dass Ferguson aus der Zugehörigkeit zu United einen Mythos entfachte und den Spielern mithilfe dessen bestimmte Werte und Prinzipien beibrachte. Innerhalb dieses Rahmens wurden die Spieler aber individuell anders behandelt und ihre Individualität betont.

Gleiches wurde bei der taktischen Einbindung ins Mannschaftsgefüge gemacht. Ähnlich wie heutzutage Carlo Ancelotti (oder gar Udo Lattek als deutsches Beispiel viele Jahre zuvor) konnte Ferguson rein über die Zuteilungen und Verantwortungen für die einzelnen Spieler bestimmte, variable und auf die individuellen Eigenschaften passende Rollen auf gleichbleibenden Positionen bauen.

So blieb zum Beispiel das 4-4-1-1/4-2-3-1 als Formation gleich, doch innerhalb dessen wurden die Muster variiert. Beckham hatte beispielsweise eine Zeit unter Ferguson, wo er als rechter Flügelstürmer Breite gab und sehr weit entlang der Linie und diagonal in die offensive Halbräume vorschob, während er zuvor eine spielmachendere Rolle aus dem rechten defensiven Halbraum übernommen hatte.

Ohne formative Veränderung waren der Rhythmus und die taktischen Bewegungen innerhalb der Mannschaft dadurch komplett anders strukturiert. Ähnliches gab es auch bei vielen anderen Spielern im Laufe der Jahre, besonders Wayne Rooney und Cristiano Ronaldo fielen in den letzten Ferguson-Saisons dadurch auf.

Besonders beeindruckend war seine Hingabe an die Jugendarbeit und das Scouting. „Fergie’s Fledglings“ sind bis heute ein Schlagwort für die Masse an bei United ausgebildeten Jugendspielern. Uniteds Akademie gilt bis heute als eine der, wenn nicht die beste in ganz England und Ferguson war immer stolz darauf sämtliche Karrieren seiner Schützlinge auswendig zu kennen – verewigt in einem privaten und selbstverfassten Archiv. Die korrekte Einschätzung junger Talente und das konsequente Einbauen dieser Spieler dürften womöglich Fergusons Vermächtnis bei United und in seiner Karriere gewesen sein.

Fazit

Fergusons Geheimnis waren neben genialen Einzelaspekten in puncto fachlicher Kompetenz – Strategie und -psychologie, Taktikpsychologie, korrekte Analyse von Einzelpunkten und Spielern, die Einbindung von Spielern selbst und Rollenflexibilität – auch die enorme Kompetenz von nur indirekt mit dem Geschehen auf dem Platz verbundenen Aspekten.

Der Aufbau eines funktionierenden Scoutings, der interne Umbau des Vereins zu einem erfolgsorientierteren, in Bezug auf die Disziplin extrem konsequenten und gleichzeitig trotzdem familiären Umfelds in allen Aspekten und natürlich seine genialen (intuitiven) Psychologiekenntnisse waren seine Markenzeichen. Ferguson hatte außerdem ein einzigartiges Gespür sich Assistenztrainer zu holen, welche einander und auch ihn selbst passend ergänzen, was den langfristigen Erfolg, garniert mit passender System-, Spieler- und Personalfluktuation erst möglich machte.

Einmalig – bis heute.

Traineranalyse: Sir Alex Ferguson

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Sir Alex Ferguson wird als größter Manager aller Zeiten gesehen, doch seine Erfolge werden vorrangig auf die individuelle Qualität seiner Spieler und die richtige Einbindung dieser durch ihn und seine Motivationsfähigkeiten zurückgeführt. Diese ‚Traineranalyse‘ beschäftigt sich näher mit Fergusons Methoden.

Motivation alleine trifft es nämlich nicht, Ferguson war, um im SV-Jargon zu bleiben, psychologisch enorm „weiträumig“. Nicht nur die Motivation der Spieler beherrschte er perfekt, sondern viele andere Kleinigkeiten. Dazu war er taktisch und strategisch keineswegs schwach und wie auch in der Trainingsmethodik wohl unterbewertet. Dennoch dürfte die Psychologie den größten Stellenwert bei Ferguson eingenommen haben. Besonders die Überzeugung seiner Spieler von ihnen selbst war wohl sein größtes und konstantestes Merkmal über all diese Jahre.

Du bist der Beste! Und du bist der Beste! Und du bist der Beste!

In der Psychologie gibt es ein Konzept namens „Selbstwirksamkeitserwartung“. Im Grunde bedeutet es, dass man sich zutraut in einer bestimmten Situation eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen und/oder ein spezifisches Ziel zu erreichen. Es ist also nicht gleichzusetzen mit dem Selbstvertrauen, welches eher etwas Allgemeineres darstellt. Im Sport ist die Selbstwirksamkeit enorm wichtig, um bestimmte Aufgaben und Anforderungen (beispielsweise innerhalb eines Fußballspiels) erfüllen zu können.

Auch wenn Ferguson der Begriff selbst („self-efficacy“ im Englischen) womöglich nicht einmal geläufig ist, so war er enorm fokussiert darauf den Spielern den Glauben an sich selbst zu vermitteln. Insbesondere ihnen im Rahmen von bestimmten Zielen und Aufgaben betonte er die spezielle Qualität seiner Spieler – vor der Mannschaft oder in Einzelgesprächen –, um sie auf die kommenden  Herausforderungen einzustellen.

Neben der erhöhten Wahrscheinlichkeit durch das größere Selbstvertrauen hatte diese Vorgehensweise noch einige andere interessante Effekte. Im Training konnte Ferguson den Spielern hohe Ziele vorgeben und an ihren Ehrgeiz und an ihr Selbstbewusstsein appellieren, diese Ziele zu erfüllen und sie auch erfüllen zu können. Ohne Letzteres ist sämtliches Training obsolet bzw. wird alibihaft ausgeführt. Desweiteren entstand ein größerer Konkurrenzkampf, da sich kein Spieler schlechter als der andere halten sollte und hielt.

Ferguson führte zum Beispiel sogar mit einem Jugendspieler ein Einzelgespräch und trichterte ihm ein, er sei besser als Cristiano Ronaldo. Wieso kam Ferguson überhaupt auf diese Idee? Er hatte beobachtet, dass der Jungspieler ehrfürchtig Cristiano beim Essen vor sich gelassen hatte – das Einzelgespräch folgte umgehend.

Zusätzlich entstand eine Siegermentalität im ganzen Team. Jeder hielt sich für den besten und für einen Teamplayer. Die Atmosphäre war fordernd, ehrgeizig und wo man sich umsah, konnte man ehrgeizige Spieler voller Selbstvertrauen um sich herum beobachten, die sich aber gegenseitig unterstützten. Kam ein neuer Spieler in den Verein, wurde ihm dieser Glaube an die eigene und somit auch an die kollektive Qualität sofort eingeimpft, falls er nicht schon so ein „Siegertyp“ war.

Um seine Spieler einschätzen zu können, hatte Ferguson sich sogar ein großes Repertoire an Prüfungen angeeignet.

Versteckte Tests der Spieler

Wie schon die Anekdote mit dem Jungspieler, der sich doch gefälligst für so gut und talentiert wie Cristiano Ronaldo halten soll, gezeigt hat, besitzt Ferguson eine hervorragende Beobachtungsgabe und beeindruckende Daueraufmerksamkeit. Ehrfurcht in einem Haufen von Spielern an einem Buffet zu erkennen, traut man womöglich nicht jedem zu. Viele solcher unscheinbaren, aber für Ferguson speziellen Vorfälle nutzte er zur Analyse der Persönlichkeitsstruktur seiner Spieler. Andere Tests waren allerdings deutlich geplanter.

Ferguson 2011: Wahrscheinlich ist das Klatschen bewusste Manipulation des gegnerischen Linksaußen.

Ferguson 2011: Wahrscheinlich ist das Klatschen bewusste Manipulation des gegnerischen Linksaußen.

Einer sah wie folgt aus: Nach einem Spiel bietet Ferguson einen Spieler zum Einzelgespräch ins Büro. Sobald der Spieler ins Zimmer kommt, geht das Licht aus und ein Video springt an. Ein großer Fehler des Spielers in dieser oder einer der vergangenen Partien wird gezeigt, woraufhin der Spieler die Szene selbst analysieren soll. Neben der inhaltlichen Komponente nimmt Ferguson insbesondere Rücksicht darauf, wie sich der Spieler verhält. Beschuldigt er andere Mitspieler? Relativiert er seinen Fehler? Gelobt er sofort Besserung? Auf welche Weise tut er es? Wie sehen seine Mimik und Gestik aus?

Die Antwort dient in ihrer Gesamtheit als introspektives und projektives Verfahren zur Persönlichkeitsbeeinflussung und –manipulation des Spielers. Die Selbstanalyse des Spielers und die Beurteilung des Spielers, was Ferguson mit dieser Art der Analyse erreichen möchte, werden ebenso wie seine Reaktion insgesamt betrachtet.

Ähnliches praktizierte Ferguson auch schriftlich. Immer wieder ließ er vorrangig Jugendspieler kleine Tests ausfüllen, wo per Paper&Pencil-Verfahren nach guten und schlechten Spielen, besonderen Eigenschaften und ähnlichem gefragt wurde. Ferguson war immer auf der Suche nach enorm kritischen, selbstkritischen und dennoch ehrgeizigen und selbstbewussten Spielern. So schnitt die legendäre „Class of 92“ um Beckham, Giggs und Co. bei diesen Tests als Jugendspieler enorm gut ab, weil sie schlichtweg überkritisch und in der Kritik enorm selbstorientiert waren.

Der selbstkritische, die Teamleistung internalisierende, dabei aber stabile und mit positiv adaptivem Coping versehene Spieler wurde von Ferguson bewusst gesucht.  In der Psychologie gibt es auch das Konzept des „High Achiever“. Diese konzentrieren sich in ihren Aktionen nicht darauf, Fehler zu vermeiden, sondern Erfolg zu suchen. Auch das war von Fergusons explizit erwünscht.

Diese Charaktereigenschaften im Verbund mit dem vermittelten Glauben an die eigene Qualität oder das Erreichen einer enorm hohen Qualität erzeugten einen interessanten Ketteneffekt.

Es ist wichtig, was man glaubt, nicht, was ist

Man stelle sich vor, man ist überzeugt davon auf ein sehr hohes Level kommen zu können, ist aber noch davon entfernt und geht davon aus, man gibt zurzeit keine guten Leistungen ab. Gleichzeitig ist man sich aber sicher, dass man es sicher kann; existiert eine bessere Motivation für ein intensives Training?

Die Motivation ist intrinsisch, langfristig und durch das immer wieder neue Vorgeben von höheren Zielen ist der Entwicklung keine wirkliche Grenze gesetzt. Genau damit spielte Ferguson: Es geht immer besser, auch wenn es schon gut ist, und jeder Spieler kann das noch höhere Level erreichen. Ferguson trichterte seinen Spieler ein, es wäre eine Schande, wenn man auf dem jetzigen Leistungsniveau verbleiben würde.

Einzelne Anekdoten (teilweise aus der Literatur und sogar aus dem Kriegswesen übernommen), Ansprachen und eine gute Mischung aus Lob und Kritik sorgten für dieses Mindset und diese Denkstrukturen in Fergusons Mannschaften – insbesondere im Verbund mit der hohen Selbstwirksamkeitserwartung jedes Einzelnen und im Kollektiv. Das zeigt folgende Geschichte von Gary Neville sehr schön:

‘Three or four times a season he’ll make the same speech – and it never fails to work. “Look around this dressing room,” he’ll say, “Look at each other and be proud to be in this together.” He’ll point to an individual. “I’d want him on my team, and him, and him.” By the time he is finished, you can feel the hairs on the back of your neck standing to attention. Your skin will be covered in goose bumps. Your heart will be thumping. Before you go out, he’ll stand at the dressing room door. No player leaves without him being there pre-match and at half-time. You walk past him and he shakes the hand of every player and every member of staff. He doesn’t have to say anything. He’s the boss, probably the greatest manager ever in this country. What more motivation do you need?’

Niemand zweifelt daran, dass er seine Mitspieler im Team haben möchte. Und das Wissen davon wird vor dem Spiel noch verstärkt. Gleichzeitig kann er einzelne Spieler ansprechen, ohne sie aus dem Team herauszuheben. Und selbst wenn er es tut: Na und? Jeder Spieler sieht sich als genau den Spieler, den er gerade herausgehoben hat. Kurzum – das ist eine absolut geniale Ansprache.

Verstärkt wird der Effekt durch die aufgehängten Poster von früheren Kapitänen, alten Erfolgen und das Erzeugen von einem Mythos um den Verein selbst. Uniteds Spieler erhielten zum Beispiel auch Geschichtsstunden, erfuhren alles über den tragischen Flugzeugunfall  der Busby Babes in den 50ern, beschäftigten sich durch das gemeinsame Besuchen des Grabmals damit und letztlich war es auch die Uniformität (gleiche Trikots bei Auftritten, bestimmte Regeln für alle, etc.), welchen die Identifikation mit dem Verein selbst verstärkten.

‘Remember who you are, remember that you are Manchester United players. Remember what you did to get here, now go and do it one more time. And you’ll win.’ – Eine von Fergusons Ansprachen

Dazu wurde um den Verein durch konstante Affirmation eine Aura erzeugt: Von Siegeswille, Überlegenheit, Tradition, bestimmten Charaktereigenschaften und vielem mehr. Ferguson soll sogar vor Spielen auf europäischem Boden im Training ein uraltes United-Trikot getragen haben, um die Spieler an die Tradition des Vereins zu erinnern und sie auf Europa einzustimmen.

Gemeinsam mit der Selbsteinschätzung des Spielers, den hohen individuellen und kollektiven Zielen war der Verein als fundamentaler Rahmen enorm wichtig zu einer langfristigen und durchgehenden Motivation der Spieler. Desweiteren ermöglicht es, die Selbstkonsistenz der Spieler (positiv) zu manipulieren und mithilfe kognitiver Dissonanz zu beeinflussen.

Asymmetrisches 4-4-2/4-3-3 gegen Real

Asymmetrisches 4-4-2/4-3-3 gegen Real

Was bedeutet das? Bei der Theorie der Selbstkonsistenz geht man davon aus, dass eine Person versucht die innere Ordnung aufrechtzuerhalten. Jede Person hat ein „Selbst“, welches aus vielen rollen- und situationsvariablen „Selbstbildern“ besteht. Jeder Mann verhält sich vor Freunden anders als vor Bekannten und in der Arbeit sieht es wieder anders aus. Die Unterschiede können hierbei laut empirischer Evidenz viel größer sein, als gedacht. Die extremsten Beispiele dürften (je nach Definition von aktiven Selbstbildern) die Experimente von Milgram, Zimbardo und Jones sein.

Innerhalb dieser Selbstbilder, so die Theorie, möchte man konsistent bleiben. Das bedeutet, sich an bestimmte Prinzipien halten, sich langfristig nicht zu widersprechen und insgesamt kongruent zu sein. Die Selbstkonsistenz kann aber angegriffen werden, wenn man den eigenen Erwartungen nicht gerecht wird. Das Spielen mit dem Zweifeln-lassen an der Selbstkonsistenz und Schaffen neuer Motivation war Fergusons Spezialgebiet. Funktionierte es nicht mehr oder kratzte jemand am erzeugten Rahmen, welcher den anderen Spielern das nötige Fundament für diese Manipulation gab, musste er gehen.

Disziplin und Fluktuation zur Qualitätssicherung

Die Anekdote mit der Party von Sharpe und Giggs aus dem Trainerporträt zeigt, wie konsequent Ferguson das Befolgen der internen Spielregeln nahm. Nach der Party forderte er von Lee Sharpe gar das Ende seiner Beziehung mit seiner damaligen Freundin und den Umzug in ein neues Haus, bei Giggs ging der Monatslohn flöten und er wollte die Mutter des jungen Spielers anrufen; wovor Giggs panische Angst zu haben schien.

„Schließe die Spieler nie ins Herz, weil sie dich bescheißen werden“ – Jock Stein zu Ferguson

Seine Beobachtungsgabe nutzte Ferguson ebenfalls. Anhand der Rasur, der Wochentage und des Trainingsplans konnte er häufig bei jungen Fußballern nachverfolgen, ob sie am Abend zuvor feiern waren. Das Annagen von Fergusons Autorität und seinem Status als Respektsperson wurden aggressiv im Keim erstickt. In Fergusons Anfangszeit wurde der Kapitän noch vor Saisonbeginn verkauft, weil er hinter Ferguson eine unanständige Geste gemacht hatte. Ein anderer Spieler überholte Ferguson auf der Autobahn und erhielt eine Geldstrafe.

Auch nachlässiges Training und leblose Mannschaftsleistungen wurden von Ferguson gnadenlos zusammengeschrien. Allerdings wäre es falsch, wenn man Ferguson als Disziplinfanatiker bezeichnet. Vielfach konnte er sehr umgänglich sein. Das „Hairdyertreatmant“ – das Anschreien eines Spielers aus nächster Nähe – gab es viel seltener als von vielen vermutet.

„Es ist nicht falsch, seine Contenance wegen den richtigen Beweggründen zu verlieren.“ – Jock Stein zu Ferguson

Nur bestimmte Aktionen verdienten diese Behandlung vereinzelt, nach Aussage vieler Spieler kam es häufig monatelang nicht vor. Oftmals gab es von Ferguson sogar aufbauendes Lob nach Rückständen oder ganz ruhige Ansprachen, wenn die (kämpferische) Leistung akzeptabel war.

Ferguson konnte zwar situativ zum Magath werden, doch hatte auch andere Facetten. Mit Giggs gab es über die ganzen Jahre hinweg einen überaus scherzhaften und freundschaftlichen Umgang, für Beckham war er lange Zeit eine Vaterfigur und für seine gesamte Familie wie ein Freund. Erst, als sich Beckham vom Fußball abwandte – Ferguson bemerkte z.B. einen veränderten Umgang mit Kritik und verringerten Einsatz im Training zusätzlich zu inkonstanteren Leistungen –, begannen die Streitereien inkl. der legendären „Ferguson-schießt-Beckham-einen-Schuh-an-den-Kopf“-Geschichte, welche zum Abgang des Superstars führte.

‘If you lose, you’ll go up to collect losers’ medals and you’ll be six feet away from the European Cup,’ Ferguson said as the players prepared themselves for the second half. ‘But you won’t be able to touch it. I want you to think about the fact you’ll have been so close to it and for many of you that will be the closest you’ll ever get. And you will hate the thought for the rest of your lives. So just make sure you don’t come back in here without giving your all.’ – Ferguson zu seinen Spielern in der Halbzeit des 99er-Finales

Die konsequenten Verkäufe oder gar teuren Kündigungen wie einst mit Kapitän Roy Keane warne ebenfalls ein Markenzeichen Fergusons. Das rechtzeitige Eingreifen bei möglichen langfristigen Unruhestiftern im Gesamtgefüge stand über jeder Leistung und jedem Status. Einen neuen Superstar konnte man kaufen, einen harmonischen, ruhigen und ehrgeizigen Kader allerdings nicht. Dies sorgte im Verbund mit ständiger personeller Fluktuation für die langjährigen Erfolge Fergusons außerhalb und auf dem Platz durch immerwährenden Konkurrenzkampf, Harmonie im Kader und Fergusons Status als Autorität.

‘Not one of you can look me in the eye, because not one of you deserves to have a say.’ – Ferguson zu seinen Spielern nach einer schwachen Halbzeit

Desweiteren gab es bei United immer einen durchgehenden, graduellen Prozess. Im Gegensatz zu vielen anderen Mannschaften kam es dadurch kaum vor, dass United an älteren Spieler zu lange festhielt. Immer wurde analysiert, wie würde dieser Spieler in drei Jahren aussehen. Ist er fit? Kann er seinen Status innerhalb der Mannschaft aufrechterhalten? Was passiert, wenn er das nicht kann? Wie entwickeln sich die anderen Spieler? Wie könnten die Systeme in den nächsten Jahren durch die personellen Veränderungen aussehen?

Innerhalb dieses langfristigen Plans wurden immer wieder Zwischenziele gesetzt.

Variable Zielsetzung als praktisches Mittel für alle Situationen

Ein enorm wichtiges Konzept in der Sportpsychologie ist es, dass man sich operative Ziele setzt. Rein strategische Ziele oder das Trainieren ohne ein bestimmtes Ziel führen zu geringerer Motivation und geringerer Trainingsintensität, welche sich letztlich schon mittelfristig in der Leistung widerspiegelt. Ferguson nutzte darum vielfach das Setzen von konkreten kurzfristigen Zielen im Verbund mit bestimmten langfristigen Zielen ein, um seine Spieler in allen Aspekten an der Stange zu halten und zu hoher Disziplin und Intensität in allem zu motivieren, ob Training, Spiel oder auch außerhalb des Platzes.

Interessant ist auch die Wechselwirkung davon mit der Effektivität des Trainings selbst. Glaubt man Fußballkonditionstrainern wie Jan van Winckel und seinem Team („Fitness in Soccer“) oder Raymond Verheijen („The Original Guide to Football Periodisation“), so ist eine spielähnliche Intensität (oder höher) unabdingbar, um ein intensives Fußballspiel – taktisch, technisch und körperlich – umsetzen zu können.

Dies kombinierte Ferguson mit dem Setzen von Leistungs-, Prozess- und Ergebniszielen. Spieler erhielten schon in jungen Jahren langfristige Ziele, wohin sie sich entwickeln sollten (Leistungsziele). Oder, um das Modell von Elliot (1999) zu nutzen, sie erhielten sowohl annähernde Lern- als auch annähernde Leistungsziele für Fähigkeiten und Meilensteine in ihrer Karriere, welche sie erlernen und erreichen sollten. Mittelfristig gab es Prozessziele, welche bestimmte Ziele im Ablauf zu einem bestimmten (meist kollektiven) Erreichen darstellen. Was muss passieren, um dieses Jahr Meister zu werden, ist beispielsweise ein mögliches Fundament für das Bilden von Prozesszielen.

Entscheidend waren aber die vielen kurzfristigen Ergebnis- und Handlungsziele. Diese waren auf die nächste Zeit gemünzt – von einer bestimmten Sequenz von Spielen bis sogar zu einzelnen Trainings – und dienten der kurzfristigen Motivation der Spieler. Damit wurden die Spieler im Verbund mit der Trainingsarbeit selbst, der Videoanalyse und der taktischen Einstimmung auf den Gegner für die kommenden Partien vorbereitet.

Außerdem ist es auffällig, wie präzise sich Ferguson an das „SMART“- bzw. das „SMARTER“-Modell hielt. Dieses Wort ist eine kleine Richtlinie zum korrekten Bilden von Zielen. SMARTER steht hierbei für Folgendes:

Besonders die letzten Punkte sind im Fußball extrem wichtig. Die Analyse und Re-Analyse der Leistungen und der Ziele sind wichtig, um beim Bilden neuer Ziele die anderen fünf Anforderungen erfüllen zu können. „E“ und „R“ in diesem Schema werden häufig auch als „ethnisch“ und „rewarding (belohnend)“ oder „ressourcenorientiert“ definiert, was Ferguson ebenfalls berücksichtigte.

Dieses Geben von immer wieder neuen und spezifischen Zielen innerhalb eines größeren Rahmens zur persönlichen Entwicklung des Spielers sorgte auch dafür, dass sie den Fokus wechseln konnten. Nach Spielen konnte im Training durch das Geben von neuen Zielen von der letzten Partie, z.B. nach Niederlagen, abgelenkt werden. Ferguson war nach Niederlagen selten sauer oder aggressiv, sondern richtete den Blick seiner Spieler (und von sich selbst) sofort mit Optimismus in die Zukunft.

Dieser Perspektivenwechsel verhinderte, dass sich die Spieler von Misserfolgen beeinflussen ließen. Im Trainingsgelände von United gab es sogar eine Zone, welche vorrangig diesem Perspektiven- und Fokuswechsel diente.

Ein Auszug aus dem Buch „How to think like Sir Alex Ferguson: The Business of Winning and Managing Success”:

Another effective solution is to have a transition zone. The coaches at Manchester United do this to help their players block off distractions from their home life and focus on playing football. They draw a white line about ten yards behind the training pitches. The area behind the line is the ‘thinking zone’. In the thinking zone, the players receive feedback from the coaches about the aims of the session. Once they have figured out what they want to do, they cross the line into the ‘play zone’. Before they cross the line, the players must begin focusing on the session and forget any distractions. The coaches start the session with an exercise which requires the players to keep possession of the ball. As each player arrives on the field, he must try to win the ball from the previous one. When this well-established routine has fully switched on all the players, the coaches know they are focused and ready for quality practice.

Ein weiteres Beispiel, wie Ferguson nicht nur die Psyche seiner Spieler positiv beeinflusst, sondern auch das Training und die Trainingsintensität. Zusätzlich baut Ferguson noch ein paar interessante Aspekte ins Training, in seine Einzelgespräche und in die Ansprachen mit ein.

Fokussierung einzelner Spieler und adaptive Kritik

Seine Spieler erhielten zum Beispiel Lob für bestimmte Eigenschaften oder für bestimmte Vorreiterrollen. Das war besonders bei kämpferischen Aspekten der Fall. Wenn man einzelne Spieler für ihren Einsatz lobt und dies passend macht, zum Beispiel aus jedem Mannschaftsteil einen Akteur, können sich die anderen Spieler an diesem Akteur orientieren. Andererseits wird dieser Spieler seinen Einsatz und seine Laufbereitschaft noch intensiveren und fokussieren. Er hat nicht nur Lob als Motivation zur Aufrechterhaltung erhalten, sondern fühlt sich diesbezüglich von seinen Mitspielern beobachtet und fühlt sich auch verantwortlich durch seine Vorbildwirkung. Öffentliche Kritik der Spieler gab es allerdings nicht. Kritische Punkte wurden in Einzelgesprächen oder anonymisiert angesprochen.

Ein Motivationstrick Fergusons war auch folgender: Nach dem ersten Meistertitel verkündete Ferguson, er wisse, drei Spieler würden die Mannschaft in der kommenden Saison im Stich lassen. Dazu hielt er drei Kuverts nach oben und sprach davon, dass die Namen der fraglichen Spieler sich in diesen Kuverts befinden. Die Ablenkung vom Meistertitel war perfekt und jeder Spieler musste sich trotz der Erfolge konzentrieren, um nicht als Buhmann im Team zu gelten.

Barcelona vs ManUtd, 1994

Barcelona vs ManUtd, 1994

Interessanterweise zeigte Brendan Rodgers, wie situativ man solche Spielchen anwenden muss. Der Trainer von Liverpool kopierte diesen Trick von Ferguson und wendete ihn in seiner Anfangszeit bei Liverpool an. Das geht allerdings komplett an der Sache vorbei. Einerseits fehlt mit dem Meistertitel ein direktes Motiv, andererseits ist es bei ihm weder authentisch noch passend, weil bei Liverpool noch kein solches Umfeld wie bei United durch Ferguson damals entstanden ist. Und: Inkonstantere und schwächere Mannschaften werden deutlich häufiger Enttäuschungen haben. Rodgers hätte also eher einen Serienbrief verfassen müssen.

Ferguson hingegen war ein Meister der situativen Anwendung. Stellte er einen Spieler nicht auf, so führte er das vor versammelter Mannschaft auf kleinere Gründe zurück, häufig die Taktik. Danach folgten unter vier Augen Einzelgespräche und Ferguson beantwortete, wieso der Spieler nicht aufläuft und was ihm sonst einfiel. Diese intelligente Art zu kritisieren zeigte er auch öffentlich und nach Spielen.

Bei Louis van Gaal in seiner Zeit bei Bayern sprach man diesbezüglich auch von „azyklischer Kritik“. Nach guten Spielen wurde kritisiert, um die Motivation hochzuhalten und die Arbeit an kleineren Aspekten weiterhin zu fokussieren. Bei schlechteren Partien gab es wiederum positive Kritik. Die Spieler werden damit aus der Schussbahn genommen, es soll keine schlechte Stimmung entstehen und Optimismus vor der nächsten Aufgabe verbreitet werden.

Im Training selbst war Ferguson sogar ausschließlich positiv, wie er selbst sagt:

‘There is no room for criticism on the training field. For a player – and for any human being – there is nothing better than hearing, “Well done.” Those are the two best words ever invented in sports. You don’t need to use superlatives.’

Der letzte Satz ist hierbei ebenfalls wichtig. Superlativen und spezifisches Lob sorgen für eine vermeintlich vom Trainer erzeugte Hierarchie der Fähigkeiten der Spieler und generell einem Ranking der Wichtigkeit von Eigenschaften, welches Fergusons Vermittlung von Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen an seine Spieler widersprechen würde.

Jeder Spieler ist individuell und für (s-)eine bestimmte Rolle im Team unersetzlich. Ferguson wusste das, weil er auch über die Wichtigkeit von dem Einfluss von Taktik auf die Psychologie und umgekehrt wusste. Bestimmte Spielertypen eigneten sich für besondere Situationen schlichtweg taktisch und/oder psychisch besser, auch wenn dieses Spiel nur einmal in zwei Jahren stattfinden sollte. Und Ferguson war ein Meister darin, mit diesem Wissen Gegner zu zerstören.

Der Gott der taktik- und strategiepsychologischen Manipulation

Ferguson sprach jüngst in einem Interview davon, was das Geheimnis hinter der sogenannten Fergie-Time eigentlich ist. Zur Info: Als Fergie-Time wird jene Zeit bezeichnet, welche Schiedsrichter Manchester United angeblich zu viel an Nachspielzeit geben und in der United schon zahlreiche Spiele gedreht hat bzw. gedreht haben soll. Studien haben zwar ergeben, dass United nur marginal und nicht signifikant mehr Nachspielzeit als andere Topteams erhalten hat, doch der Mythos lebt bis heute.

Vor einigen Tagen erklärte Ferguson, dass er absolut keine Ahnung hatte, wie viele Nachspielzeit gespielt werden sollte oder gespielt wurde. Er deutete schlichtweg auffordernd auf seine Uhr, um die Schiedsrichter und den Gegner zu beeinflussen. Sahen die Gegner ihn im Verbund mit dem Mythos Fergie-Time und Uniteds Aufholjagden im Kopf mit der Uhr an der Seitenlinie dastehen, gerieten sie laut Ferguson bereits in Panik.

Diese Panik wiederum beeinflusste ihre Spielweise und sorgte für mehr Fehler, wodurch United durchaus häufiger treffen konnte und der Mythos zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung wurde. Taktikpsychologie beobachtete Ferguson gar 1999 im CL-Finale:

‘The Bayern players had lost all positional discipline: they were like men staggering away from a plane crash. I knew that they’d gone, mentally.’

Die Verbindung zwischen mentaler Instabilität und positioneller Disziplin zu machen, ist durchaus beeindruckend und selten. Viele fokussieren sich in ihren Analysen auf nur eines davon, doch meist interagieren Taktik und Psychologie miteinander. Fergusons legendäre „Mind Games“ mit anderen Managern waren ebenfalls durch diese Denkweise angetrieben.

Aussage wie „wir sind in der zweiten Saisonhälfte besser“ waren nicht (nur) für die Presse und für die eigene Mannschaft gedacht, sondern sollten den gegnerischen Trainer und das gegnerische Team negativ beeinflussen und sie zu Fehlern in der taktischen und strategischen Ausrichtung verleiten. Interessanterweise war es ausgerechnet Ancelotti in seiner kurzen Zeit bei Chelsea, der mit der simplen Aussage „sind wir auch“ den Effekt neutralisierte und womöglich sogar eher Druck auf United ausübte; immerhin war er nach Fergusons Aussagen einer der ersten exklusive Mourinho, den man mit so etwas kaum beeinflussen konnte.

Taktik- und strategiepsychologische Aspekte ließ Ferguson außerdem bewusst ins Training einbauen. So gab es Trainingsspiele, in der sich eine Mannschaft von Beginn an in Rückstand befand und es nur noch ein bestimmtes Zeitlimit gab (welches variierte), um das Spiel noch zu drehen. Dadurch wurde die verteidigende Mannschaft in der Strafraumverteidigung und im Konterspiel geschult, die angreifende Mannschaft hingegen sollte lernen konstruktiv und zielorientiert anzugreifen, dabei aber abgesichert und ruhig zu bleiben. Ferguson vermittelte als bewusst die Kontrolle des Spielrhythmus in unterschiedlichen Phasen an seine Mannschaft.

Die rein psychologische Komponente in dieser Übung ist ebenfalls beachtlich – z.B. das Coping nach weiteren Gegentoren oder die Effekte auf beide Teams bei gelungener Aufholjagd. Ferguson war nach eigener Aussage der Meinung, dass Glück kein Zufall ist, sondern durch die Begebenheiten erzwungen wird. Man solle versuchen, alles zu kontrollieren, was man nur irgendwie kontrollieren kann – und der Rest wird sich ergeben und ist irrelevant für die Einschätzung von Leistungen und für langfristigen Erfolg.

Statistiken der letzten Ferguson-Jahre zeigten passenderweise, dass Manchester United teilweise konträre Muster in Rückstand und bei Vorsprung im Vergleich zu anderen Mannschaften aufwies. Die absolute Schusszahl im Spiel erhöhte sich bei Rückständen z.B. nicht. United packte somit nicht die Brechstange aus, sondern spielte ruhig weiter und glaubte weiterhin an den eigenen Erfolg, ohne panisch auf lange Bälle oder die Brechstange zugunsten vieler, aber schwieriger und weniger erfolgreicher Abschlüsse Chancen auszupacken.

Ein von Ferguson häufig im Training und in Ansprachen genutztes Mantra setzte sich hier durch und in den Köpfen seiner Spieler fest:

‘Manchester United never get beaten. We may occasionally run out of time but we never believe we can be beaten.’

Alleine die Nutzung strategie- und taktikpsychologischer Aspekte im Training macht Ferguson in gewisser Weise zu einem Vorreiter in der Trainingsmethodik. Auch anderes ist hier sehr positiv.

Langsame Periodisierung, ballorientiertes Training und Rotation

Im Gegensatz zu vielen anderen Trainern, besonders in den 70ern, 80ern und 90ern, ließ Ferguson in der Aufbauphase vor der Saison keineswegs extrem hart trainieren. Stattdessen wurde die Kondition der Spieler langsam aufgebaut und gemächlich an dem physischen Rüstzeug für die neue Saison gearbeitet; eine Trainingsphilosophie, wie sie führende Fußballkonditionstrainer wie die bereits erwähnten Verheijen und van Winckel in den letzten Jahren erst propagieren.

Desweiteren war Ferguson einer der ersten Verfechter der Rotation im britischen Fußball. Einzelne Akteure wurden sowohl aus taktischen als auch aus physischen Gründen immer wieder geschont und die Aussicht lag darauf, dass man in den entscheidenden Spielen und Phasen der Saison auf die besten Spieler in einem körperlich guten Zustand zurückgreifen kann.

Außerdem trainierte Ferguson seine Mannschaft meist in Spielformen, die vereinzelt sogar extrem komplex werden konnten. Zwei beispielhafte Trainingsübungen Fergusons mit sich erhöhender Komplexität finden sich zum Beispiel hier. Eine andere Übung zur Strafraumverteidigung wurde beispielsweise so praktiziert, dass die vier bis sechs verteidigenden Spieler im Strafraum durchgehend von mehreren gegnerischen Teams gefordert wurden, die im Wechsel in Unterzahl und Überzahl angriffen. Sie mussten schnell ihren Fokus wechseln, den dynamisch auf sie zukommenden gegnerischen Angriff analysieren, miteinander kommunizieren und den Angriff möglichst gut verteidigen.

Die attackierenden Mannschaften lernten wiederum auf unterschiedliche Art und Weise anzugreifen und Unter- oder Überzahlen variabel auszuspielen. Dazu gesellten sich viele individualtaktische Übungen, einzelne (heutzutage als überholt geltende) isolierte Übungen zu bestimmten Techniken und zur Physis sowie das Einstudieren gruppen- und mannschaftstaktischer Abläufe.

In den letzten Jahren seiner Karriere fand man aber Ferguson kaum noch auf dem Trainingsplatz vor. Schon lange Zeit zuvor hatte er begonnen sich weniger aktiv mit der Trainingsarbeit zu beschäftigen – ein versteckter Geniestreich.

Beobachter, Organisator und Delegator

Auf den ersten Blick erscheint es (zumindest hierzulande) konterintuitiv, dass ein Trainer das Training nicht verfolgt, aber weiterhin für Transfers, Aufstellungen und die taktische Ausrichtung verantwortlich ist. Fakt ist aber nur, dass Ferguson das Training nicht leitete. Dennoch hatte er einen maßgeblichen Einfluss auf das Training, u.a. die Planung der Entwicklung der Spieler, die Trainingssteuerung und die grundsätzliche Ausrichtung der Übungen im Verhältnis zur gewünschten Spielweise.

Desweiteren hatte Ferguson eine beobachtende Rolle. Sein Büro lag so, dass er das Trainingsgelände immer komplett im Auge hatte. Situativ konnte er herausstürmen und bestimmte Dinge korrigieren, sich über bestimmte beobachtete Dinge austauschen oder schlichtweg die Spieler von seinem Fenster aus anschreien, wenn ihm etwas missfiel. Positiver Nebeneffekt: Die Spieler fühlten sich andauernd beobachtet, auch wenn sie es nicht waren. Nachlassen nicht möglich. Stünde Ferguson auf dem Platz, könnte er wie auch die anderen Trainer nicht alles überblicken und würde Konzentrationsmängel übersehen.

Gleichzeitig erhielt Ferguson dadurch mehr Zeit für andere Sachen. Die Zeit im Büro nutzte er neben der Beobachtung auch zur Analyse des Gegners, von Trends in der Liga, zum Scouting von Spielern, zur Reflektion des Feedbacks seiner Assistenten und zur Analyse der Vorgänge innerhalb des Vereins. Andere Trainer müssen dies mit der alltäglichen Arbeit in Einklang verbinden, wodurch viele Sachen im Verein übersehen oder falsch eingeschätzt werden.

Zusätzlich erhielten die von ihm eigens ausgewählten Assistenten mehr Verantwortung, mehr Selbstbewusstsein bzw. Selbstwirksamkeit und Erfahrung. Der Trainerstab konnte das Alltagsleben selbst kennenlernen und daraus Wissen ziehen, welches sie mit Ferguson teilten. Dennoch erhielten sie eine grundsätzliche Struktur, wie Trainings auszusehen haben.

Fergusons Trainingsstruktur

Die meisten Trainings begannen mit Passübungen, meistens Rondos und rondo-ähnlichen Übungen, bevor bestimmte Abläufe im Ballbesitz und Passspiel einstudiert wurden. Danach folgten die bereits erwähnten Übungen zum Bespielen des Strafraums, zum Raumgewinn und Angriffsvortrag sowie dem Verteidigen davon. Als vorletzter Baustein diente eine isolierte Abschlussübung, welche wohl auch für Regeneration, Abwechslung und schlichtweg Spaß dienen sollte, bevor zum Abschluss noch in einer größeren Spielform an der Mannschaftstaktik und dem Kombinationsspiel in spielnahen Voraussetzungen gearbeitet wurde.

„Der denkende Spieler“ nach Ferguson sollte sich im Training so viel wie möglich bewegen, es gab in den Übungen kaum Standphasen, dazu wurde fast alles mit Ball und im Bezug auf eine bestimmte Aufgabensituation aus dem Spiel gemacht. Ziel: Das Kreieren von Verständnis der Bewegungen untereinander und die passende taktische Kommunikation. Ergänzt wird dies mit Individualtrainern wie dem Coerver-Coach René Meulensteen, der Spieler noch individuell in bestimmten Punkten fokussiert ausbildet.  Im Sinne der „integrativen Methode“ (ähnlich der taktischen Periodisierung oder Roger Sprys „Functional Integrated Training“) wird aber auch das Einzeltraining an die jeweilige Position, die Zone und die positionsspezifischen Situationen angepasst.

Die grundsätzliche Struktur wird täglich mit neuen Übungen ausgefüllt, der Trainerstab trifft sich morgens und plant die genaue Umsetzung des jeweiligen Trainingstags im Bezug auf die taktischen, spielerischen und medizinischen Erkenntnisse der letzten Tage. Daraus werden die Trainings gebildet, welche Ferguson selbst als „Problemlöseaufgaben“ bezeichnete. Das Erstellen solcher Trainingsübungen – „Problemlöseaufgaben“ – benötigt aber auch taktische und strategische Kompetenz.

Diese wird bei Ferguson nämlich häufig unterschätzt, doch absolut zu Unrecht.

Inselbegabungen in der Taktik

Aberdeen im Aufbau gegen den HSV - eine weitreichende, effektive und unorthodoxe Anpassung

Aberdeen im Aufbau gegen den HSV – eine weitreichende, effektive und unorthodoxe Anpassung

Obwohl er hierbei keineswegs schwach war, ist Ferguson natürlich kein herausragender Trainer in puncto in-game-Gruppentaktikanpassungen wie Guardiola; was kaum ein Trainer auf dem Niveau kann und generell überaus schwierig ist, obgleich Ferguson vereinzelt mit guten Einwechslungen und Formationen die Abläufe sehr treffend verändern konnte. Dies ging zwar meist in Richtung der Mannschaftstaktik und war nicht wie bei Guardiola das Spielen mit bestimmten Staffelungen, dennoch effektiv.

Ebenso wenig war Ferguson ein großer Innovator, auch wenn er einzelne unorthodoxe Ideen hatte und seinen Konkurrenten in der Liga nie wirklich nachstand, exklusive Mourinhos Zeit bei Chelsea und Laudrups Swansea vermutlich. Im Trainerporträt bemühte ich deswegen den Begriff „Meta-System-Deuter“, da Ferguson sehr schnell auf sich entwickelnde Trends in seiner Umgebung anpassen und diese übernehmen oder mit einer eigenen Anpassung neutralisieren konnte.

Bei der Gegneranalyse war Ferguson aber interessant und unüblich gleichzeitig. Der Gegner wurde bis aufs Mark seziert, doch die taktischen Anpassungen hielten sich in Grenzen. Wieso? Weil sich Ferguson nach eigener Aussage lieber auf die eigene Mannschaft konzentrierte. Deswegen suchte man sich nur die wichtigsten Punkte zum Bespielen des Gegners, die den Gegner allerdings zusammenfallen lassen sollten. Ganz nach dem Motto:  Taktik? Wieso nicht einfach gewinnen?

Dadurch entstanden ganz merkwürdige Anpassungen, wie zum Beispiel das Unterbrechen ganz spezieller Passmuster in bestimmten Zonen durch eine Veränderung Bewegungsspiel, wodurch das gesamte Konstrukt zusammenfällt – das hat man nämlich explizit gegen Wengers Arsenal einst gemacht. Auch die Feuchtigkeit des Bodens und erhöhter Nutzen von Schnelligkeit in Laufduellen nach Schnittstellenpässen wurde zum Beispiel bei einem Spiel gegen einen Mittelfeldteam durch die späte Einwechslung des frischen Giggs bespielt.

Gepaart wurde dieses Zerstören des gegnerischen Gebildes durch das Attackieren von oftmals winzigen Schlüsselpunkten mit hervorragender strategischer Ausrichtung.

Ferguson, König der Strategie

Um diese kleinen Schlüsselpunkte zu attackieren, nutzte Ferguson meistens bestimmte Spieler in besonderen Rollen (von 2007 bis 2009 stellte er häufig Cristiano Ronaldos Position und Rolle von Spiel zu Spiel um). Viel stärker war aber Ferguson in noch abstrakteren und grundsätzlicheren Punkten. Er band die speziellen Eigenschaften einzelner Spieler meist schon von Beginn an so in das System ein, dass er keine gegnerspezifischen Anpassungen benötigte – die Durchschlagskraft und Effektivität waren bereits gegeben. Auch viele andere strategische Punkte sorgten für konstante und weitestgehend anpassungslose Überlegenheit.

Fergusons Teams spielten meistens kompakter als die Gegner, besonders in den 80ern und 90ern war der Vorteil gegenüber der Konkurrenz in Schottland und England gegeben. Dazu visierten sie die richtigen Zonen an und kontrollierten die wichtigsten Räume des Feldes. Obwohl sich Ferguson insbesondere in seiner Zeit bei United über das Flügelspiel und die Flügelstürmer definierte, war die Mitte fast immer besetzt, gut gestaffelt und wurde zum Einbringen der Flügel genutzt.

Im taktiktheoretischen Artikel über die Halbräume schrieb ich passenderweise Folgendes:

In gewisser Weise sind die Halbräume darum die “Verbindungszone” unter den unterschiedlichen Zonen, während man die Mitte eher als “Organisationszone” sehen könnte; die Flügel hingegen eignen sich speziell für Durchbrüche. Theoretisch wäre eine Unterteilung unterschiedlicher Zonencharakteristiken unter Berücksichtigung bestimmter Spieleigenarten (Ballzirkulation, Verteidigungsart, etc.) eine interessante Idee für einen zukünftigen Artikel.

Fergusons Mannschaften befolgten diese ungefähre Zonencharakteristik, natürlich mit einem Fokus auf die Durchbrüche entlang der Flügel. So sprach Ferguson selbst davon, dass die Kontrolle der Mitte und Besetzung der Mitte mit spielstarken und intelligenten Spielern für eine gute Mannschaft unabdingbar ist. Spieler wie Keane, Scholes, aber auch Butt, Ince und Carrick sind unterschiedliche Typen, welche jedoch allesamt die Anforderungen an zentrale Mittelfeldspieler nach dieser Definition erfüllen.

Die Flügelstürmer wurden vor allem deswegen fokussiert, weil durch das freie Aufrücken und Agieren der Flügelstürmer die Mitte (vorerst) zurückhaltender besetzt und dadurch simpel abgesichert werden konnte. Gleichzeitig konnten die Flügelstürmer aber befreiter aufspielen und ihre speziellen Stärken (Dribbling, Flanken, etc.) fokussierter einbringen. Ballverluste auf dem Flügel konnten außerdem gut zugestellt werden, Gegentore nach Kontern wurden reduziert.

Diesbezüglich erwähnte Ferguson, dass das effektive Spielfeld im letzten Drittel beziehungsweise neben den Strafräumen für ihn nicht die gesamte Breite wie im ersten und zweiten Drittel darstellt. Ferguson soll sogar im Training die Ecken des Spielfelds diagonal zum Strafraum hin abgeschnitten haben und zur verbotenen Zone erklärt haben. Bei den Flanken von Fergusons Teams zeigte sich dies zum Beispiel überaus eindeutig (hierbei großen Dank an Max Odenheimer von Statsbomb, welcher diese Grafik in diesem tollen Artikel eingebaut hatte):

fergie crosses

fergie crosses

Ferguson hat also trotz seines enormen Flankenfokus‘ eine ähnliche Ansicht zur Flanken wie Spielverlagerung: Nämlich eine kritische. Flanken müssen so scharf wie möglich aus strafraumnahen Zonen (beziehungsweise von innerhalb des Strafraums) kommen oder einige andere wichtige strategische Komponenten aufweisen.

Diese weiteren Komponenten waren eine passende Strafraumbesetzung, gute Sichtfelder durch eine intelligente Diagonalität beim Spielen von Flanken oder schlichtweg flache und halbhohe Flanken. Vermutlich war die Berücksichtigung dieser strategischen Punkte Fergusons größtes Erfolgsgeheimnis, insbesondere für die Durchschlagskraft seiner Mannschaften.

Die Mannschaften Fergusons zeichneten sich dadurch aus, dass sie Flanken situativ intelligent nutzten. Neben der Hereingabe von den Seiten bei Nähe zum Strafraum wurden vielfach auch frühe Diagonalflanken hinter die Abwehr aus dem Halbfeld genutzt. Gegen eine tiefe Abwehr ist eine Halbfeldflanke in den Strafraum ineffizient und bevorzugt die gegnerische Abwehr, gegen eine herausrückende und/oder hohe Abwehr kann der lange Diagonalball hinter die Abwehr bei passender Bewegung in die Tiefe der Stürmer, der zentralen Mittelfeldspieler und ein Einrücken des ballfernen Flügelstürmers enorm gefährliche Torchancen kreieren.

Flache Flanken wiederum sind für die angreifende Mannschaft einfacher zu verwerten, halbhohe Flanken sind am schwierigsten zu verteidigen. Die richtige Mischung und die Fokussierung einzelner Varianten bei bestimmten Gegnern oder gar eigenem Spielermaterial könnten enorm gefährlich werden. Am besten verkörpert Fergusons Ausrichtung aber das Bespielen von guten Sichtfeldern und passender Staffelung. Aberdeens Erfolg in Europa 1983 ist – wie man in der morgigen Analyse sehen wird – weitestgehend auf enorme Präsenz im Strafraum und sehr gute Organisation bei den langen, raumgreifenden Pässen vom Flügel und im Mittelfeld zurückzuführen.

Späte Vertikalsprints von zentralen Mittelfeldspielern aus dem Rückraum in den Strafraum, diagonale Pässe von der Grundlinie aus nach hinten, das gleichzeitige Besetzen der Mitte, des ersten und zweiten Pfostens und die schiere Anzahl an hereinstürmenden Akteure waren bei den meisten Ferguson-Mannschaften eines der Markenzeichen – und sind von fast jeder Mannschaft der Welt bei guter Umsetzung kaum zu verhindern.

Dazu wurden die speziellen Begabungen einzelner Spieler im letzten Drittel gut eingebunden, insbesondere die Abschlussbewegungen und die bevorzugten Situationen im Abschluss. Auch in der Ballzirkulation davor wurden schon grundsätzlich bestimmte Aspekte verfolgt: So waren die Angriffsrichtungen und Passmuster zonenübergreifend, wodurch der Gegner Probleme beim Verschieben und im Verbund mit den Bewegungen Uniteds auch beim Übergeben hatte. Die Zirkulation in einem Bereich des Feldes mit schneller Verlagerung und Überladung im anderen Bereich wurde ebenso oft genutzt wie lange Verlagerungen.

fergiegoalchart

fergiegoalchart

Zudem waren Fergusons Mannschaften traditionell bei Kontern und bei Standards extrem gut. Im Konterspiel wurden saubere und einstudierte Abläufe mit ausreichend dynamischen Spielern genutzt, während es bei Standards viele unterschiedliche Ausführungsvarianten gab. Durch die Bewegungen wurden immer wieder Spieler freigeblockt, Räume geöffnet oder schlichtweg mit der Wahrnehmung der gegnerischen Mannschaft gespielt. So führten bei United einige Male sogar zwei Spieler den Freistoß aus – und zwar gleichzeitig.

Diese strategische Überlegenheit und das Befolgen vieler von anderen Trainern unterschätzter fundamentaler Punkte sorgten letztlich auch für skurrile Zahlen bei der Analyse von Fergusons Mannschaften.

Exkurs: Der Albtraum für jeden Statistiker

In den letzten Jahren seiner Amtszeit fielen Fergusons Mannschaften bei der sogenannten „Total Shots Ratio“ klar ab. Die Totel Shots Ratio bezeichnet einen Wert, bei dem die Anzahl der eigenen Schüsse durch die summierte Anzahl der eigenen und gegnerischen Schüsse  dividiert wird. Dadurch erhält man einen Prozentwert, der den Anteil der eigenen Schüsse pro Spiel angibt. Dieser Wert gilt nach James Graysons und viele andere Studien als sehr stabil und prädiktiv. Bei Ferguson hingegen versagte der Wert.

Fergusons Meinung über TSR

Fergusons Meinung über TSR

Die Erklärung hierfür ist einfach: Ferguson war einer von sehr wenigen Trainern, bei dem die Chancenqualität schlichtweg im Schnitt viel höher war als bei der Konkurrenz. Seine Teams konzentrierten sich nicht auf eine Vielzahl von Schüssen, sondern auf eine geringe Anzahl von Schüssen mit hoher Erfolgswahrscheinlichkeit. Unter anderem waren „Score Effects“ dafür verantwortlich. Das bedeutet, dass die durchschnittliche Chancenverwertung beim TSR-Modell je nach „Game State“ (Führung, Rückstand, Führung mit zwei Toren, etc.) in Relation zum Ergebnis steigt oder fällt. Verantwortlich dadurch ist der gegnerische Druck beim Abschluss. United ging unter Ferguson oft früh in Führung, nutzte diese „Score Effects“ sehr gut aus und seine Mannschaften suchten desweiteren immer nach sehr guten Abschlusspositionen und -situationen. Schlechte Chancen wurden nicht abgeschlossen, es wurde dann weitergespielt und dem Gegner die Chance auf Ballbesitz und Konter genommen.

Ferguson ist außerdem fast der einzige britische Trainer, welcher auch das „Expected Goals“-Modell übertrifft. Expected Goals steht für erwartete Tore, wo aus jedem Schuss durch die Natur des Schusses – beispielsweise die Distanz zum Tor, die Art der Vorlage, die Art des Schusses, den Schusswinkel und die Art und Anzahl der Aktionen vor dem Schuss – die Wahrscheinlichkeit des Torerfolgs berechnet wird. Die Gesamtzahl der Schüsse der letzten Jahre wurde hierbei genommen, um für diese Wahrscheinlichkeit einen konkreten Wert zu schätzen.

Uniteds Übertreffen dieses Modells wird von vielen auf das herausragende Ausführen von Standards, die individuelle Qualität und schlichtweg das Glück zurückgeführt. Viele Statistikanalysten/-blogger führten dies zumindest zu gewissen Teilen auf reines Glück zurück, ob Richard Whittall, Neil Charles oder der herausragende Daniel Altman. Nur wenige andere wie James Yorke, Paul Riley oder letztens Max Odenheimer argumentieren gegen das Glücksargument.

Bei näherer Betrachtung und Analyse der Artikel zu diesem Thema scheint es allerdings wahrscheinlich zu sein, dass Ferguson schlichtweg bestimmte Mittel nutzte, die im Modell der Expected Goals nicht berücksichtigt werden. Ein eklatanter Punkt können bereits Datenerfassungsfehler sein: Neben der individuellen Qualität fließen auch Eigentore oder nicht-abgeschlossene Chancen nicht in das Modell ein. Die Eigentore werden dann zwar häufig aus beiden Wertungen genommen, United könnte aber unter Ferguson beispielsweise viele Situationen wegen der Suche nach noch qualitativeren Chancen schlichtweg nicht abgeschlossen haben. Das sind dann gefährliche Situationen, welche aber nicht in die Prädiktion kommender Leistungen miteinfließen.

Meine These ist somit, dass durch ein paar mangelnde Faktoren (wie z.B. Druck, Kompaktheit, etc.) nicht alle Chancen mit einem ExpG-Wert von bspw. 15% wirklich diesen Wert besitzen. United hatte unter Ferguson die Fähigkeit, dass sie die schwächeren Chancen ausließen, nicht abschlossen und nach besseren suchten, deren reeller Wert über dem Durchschnittswert für die von ExpG gemessenen Faktoren lag. Eine schwächere Mannschaft beherrscht diese Fähigkeit nicht und darf sich auch nicht erlauben, Chancen wegzuwerfen. Im ExpG liegen sie dann bei 0.15:0.15, obgleich diese Chancen keineswegs den gleichen Wert haben und United sich außerdem mehrere solcher Möglichkeiten erspielte. Bei (den seltenen) Rückstanden würden sie solche Chancen allerdings womöglich verstärkt früher abschließen und ihren ExpG dadurch erhöhen.

Eine höhere Chancenqualität bei geringerer Schussanzahl sorgt aber für langfristig mehr Punkte in einer Saison. Hat eine Mannschaft einen Expected-Goals-Wert von 2.0 in einem Spiel und der Gegner ebenso, aber Mannschaft A benötigte dafür nur zwei Schüsse und Mannschaft B zehn, so wird über eine Saison hinweg Mannschaft A mehr Punkte holen. Das mag auf den ersten Blick merkwürdig klingen – und viele Zuseher eines solchen Spiels würden Mannschaft B wohl klar überlegen finden –, doch bei Simplifizierung ist es nur logisch. Hätte eine Mannschaft eine 100%ige Chance jedes Spiel, aber nur eine davon, würden sie in jedem Spiel ein Tor erzielen. Man könnte zwar nie höher als 1:0 gewinnen und würde einige derbe Niederlagen einstecken, aber langfristig hätte man deutlich mehr Punkte.

Deswegen habe ich ein paar kleine Simulationen einer sehr guten gegen eine schwächere Mannschaft mit variablen ExpG-Werten und Schussanzahl 10‘000mal durchlaufen lassen, welche folgende Szenarien ergab:

a)      Eine Mannschaft mit 50 Schüssen bei 4% Erfolgswahrscheinlichkeit gegen ein Team mit 10 Schüssen und 5% Erfolgswahrscheinlichkeit holt im Schnitt gegen dieses Team 2.39 Punkte;

b)      Eine Mannschaft mit 40 Schüssen bei 5% Erfolgswahrscheinlichkeit gegen ein Team mit 10 Schüssen und 5% Erfolgswahrscheinlichkeit holt im Schnitt gegen dieses Team 2.4 Punkte;

c)       Eine Mannschaft mit 20 Schüssen bei 10% Erfolgswahrscheinlichkeit gegen dasselbe Team holt im Schnitt 2,41 Punkte;

d)      Eine Mannschaft mit 10 Schüssen bei 20% Erfolgswahrscheinlichkeit gegen dasselbe Team holt im Schnitt 2,45 Punkte;

e)      Eine Mannschaft mit 5 Schüssen bei 40% Erfolgswahrscheinlichkeit gegen dasselbe Team holt im Schnitt 2,52 Punkte;

f)       Eine Mannschaft mit 2 Schüssen bei 100% Erfolgswahrscheinlichkeit gegen dasselbe Team holt im Schnitt 2,82 Punkte;

Bei der ersten Mannschaft in Szenario a) gibt es in 13,75% der Spiele mehr als 3 Tore, bei selbiger Mannschaft in Szenario b) 11,77% der Spiele mehr als 3 Tore, in Szenario e) hingegen nur in 8.62%, und in Szenario f) natürlich in 0% der Spiele. Grundsätzlich hat man dadurch zwei Verteilungen, wobei Team A einen höheren ExpG als Team B hat. Desweiteren hat ein Team mit einem ExpG von 2 bei 2 Schüssen natürlich 0% Wahrscheinlichkeit weniger als 2 Tore zu schießen, bei 5 Schüssen sind es schon 33,7%, bei 10 Schüssen 37,58%, bei 20 Schüssen 39,17% und bei 50 Schüssen gar 40,05%. Durch die Reduzierung der Varianz (weniger Schüsse mit sehr hohem ExpG) reduziert man die Fälle, in dem Team B durch Glück doch gewinnt. Diese Gif zeigt die Verteilung als Histogramm:

Torverteilung nach 1, 2, 3, 4, 5, 10, 20, 30, 40 & 50 Schüssen

Torverteilung nach 1, 2, 3, 4, 5, 10, 20, 30, 40 & 50 Schüssen

Ansatzweise realistisch sind bei Topteams durchaus Unterschiede von 30 Schüsse mit 6,7% vs. 7 Schüsse mit 33,5%: In ersterem Fall holt man 2.4 Punkte pro Spiel, in Letzterem 2.5 bei schlechterer Tordifferenz. In einer 38er-Saison kann dies schon 3-4 Punkte ausmachen (3.8 im Schnitt).

Die Punktausbeute und der Saisonverlauf „litten“ also positiv unter der Suche nach hochqualitativen Chancen, die Tordifferenz aber negativ. Dennoch reicht diese Erklärung nicht aus, um die Absurdität von Fergusons letzten Jahren bei konstanten Erfolgen zu erklären. Fergusons strategische Fähigkeiten hingegen helfen eher; korrekte Sichtfelder, die passende Anlaufdynamik zum Ball beim Abschluss, der gegnerische Defensivdruck, der eigene Defensivdruck bei gegnerischen Chancen und synergetische Staffelungen im gegnerischen Strafraum fließen in das Modell nicht ein.

Allerdings finden sich einige Artikel, welche sich mit diesen Aspekten beschäftigen. Paul Riley fand zum Beispiel heraus, dass United im Strafraum über ein besseres „Spacing“ durch mehr Spieler in dieser Zone hatte. In diesem Artikel bei SBNation von Benjamin Pugsley findet man außerdem etwas zur enormen Effizienz bei Ecken, während Odenheimer letztens bei Statsbomb in einem Zweiteiler die Fokussierung auf ganz bestimmte Abschlusszonen und eine besondere Art zu flanken analysierte.

Auch weitere Punkte fehlen im ExpG-Modell, so machte ich zum Beispiel einen Statistikanalysten jüngst auf die Passlänge des Assists aufmerksam, wodurch das Modell leicht positiv aufgewertet werden konnte. Außerdem ist der Abschluss einzelner Spieler trotz konträrer Ansichten womöglich doch auf die individuelle Qualität zurückzuführen, wie dieser Artikel von Devin Pleuler zeigt.

Ferguson war auch hervorragend beim individualtaktischen Ausbilden von Abschlussfähigkeiten, beim Scouting von abschlussstarken Spielern und beim Analysieren von gegnerischen Torwartbewegungen; so sprach er zu seinen Spielern davon, dass man im 1-gegen-1 gegen Neuer flach schießen soll, weil Neuer recht früh und hoch springt; United traf dadurch in einem CL-Spiel gegen Schalke.

Diese Masse an solchen kleinen Vorteilen sorgte für Fergusons große Überlegenheit und zeigt, wie herausragend er in allen Aspekten wirklich war.

Was Ferguson über Statistiken und Glück zu sagen hatte, weiß man übrigens auch.

Fazit: Effizienzgott

Am besten schildern die Vergleiche von Ferguson und seinen Trainerkollegen in der Liga im Bezug auf das Übertreffen der Erwartungen in finanzieller Hinsicht, wie gut Ferguson wirklich war. Obwohl es schwieriger ist, bei einer sehr guten Mannschaft mehr als erwartet herauszuholen als vom Budget prophezeit wird, tat Ferguson dies jahrelang.

Diese tolle Analyse von Sihan Zheng zeigt den Wert Fergusons für seine Mannschaft. Im Artikel finden sich diese zwei sehr interessanten Grafiken:

Hier wird das Jahresgehalt der Mannschaften mit der erreichten Punktzahl verglichen. Die orangen Punkte stellen United dar; das Abschneiden übertrifft als die Erwartungen. Noch deutlicher wird es in dieser Grafik:

In jeder einzelnen Saison lag United deutlich über der erwarteten und vom Jahresgehalt projizierten Punktzahl. Auch wenn die Methodik nicht ganz stimmig ist, so ist das Fazit des Artikels beeindruckend – Ferguson hat United über die Jahre an die eine Milliarde Pfund eingespart.

Auch viele andere Studien kamen auf ähnliche Ergebnisse in puncto Finanzen. Zach bei Transferpriceindex hat Ferguson in seiner Studie noch vor Mourinho und Wenger auf Platz 1, auch Roger Pielke jr. und Bell, Brooks und Parkham deduzierten, dass Ferguson einer von wenigen Trainern sei, welche die Erwartungen konstant übertroffen haben. Ich zitiere aus letzterem Artikel:

The best managers relative to expectations are Alex Ferguson and Guus Hiddink, equal on 0.72 more points on average per match than would have been expected. Next are Arsène Wenger, José Mourinho and Rafa Benítez with around 0.56 more points than expected

At the other end of the spectrum, for Alex Ferguson, Arsène Wenger, David Moyes, Guus Hiddink, José Mourinho, Rafa Benítez and Sam Allardyce, not a single one of the 10,000 randomly generated managers was able to outperform them.

Dies zeigt, wie gut Ferguson wirklich war. Die grundlegenden Ursachen für seine enorme Qualität war wohl die passende Vermittlung des „Wieso“ an seine Spieler. Taktisch, strategisch, psychologisch – egal, was seine Spieler taten, sie hatten einen Grund dafür. Dies sorgte für eine stabile Organisation mit viel Zielorientiertheit und den passenden Rahmenbedingungen für die vielen Erfolge. Gleichwohl passte sich Ferguson immer an die Gegner an, ohne sich aber von Spiel zu Spiel auf alle spezifischen Punkte einzustellen. Angepasst wurde nur, was relevant war – und durch strategische Punkte immer das richtige Gegenmittel zu haben, ist wie die Linkshändigkeit im Tennis oder Boxen ein automatischer Vorteil im Vorhinein.

Ergänzt wurde dies durch Fergusons geniale motivationalen Künste. Seine variablen Ansprachen trafen fast immer den Nerv der Spieler. Mal war er sauer, mal motivierend, in anderen überließ er sie sich aber Selbst oder diskutierte die Leistung betont ruhig. Nach Niederlagen gab es aber keine „Hairdyertreatments“, hier war Ferguson entsprechend der Erkenntnisse moderner Führungspsychologie ruhig, Optimismus verbreitend und zukunftsorientiert.

Der Autor von Soccernomics, Simon Kuper, schrieb außerdem, dass Ferguson nicht nur ein guter, sondern auch ein begeisterter Zuhörer war. Von allen möglichen Informationsquellen sammelte Ferguson und nutzte diese; interne Informationen wurden auch genutzt, um Spieler besonders zu beeinflussen. Gepaart mit seiner Beobachtungsgabe und seinem enormen Ehrgeiz konnte sich Ferguson alles, was er benötigte und nicht schon intuitiv wusste, aneignen oder sich mit den passenden Leuten umgeben.

Der Mythos Ferguson ist also schlichtweg Ehrgeiz, Charakter und Intelligenz – wie herrlich passend.

Das Buch „How to think like Sir Alex Ferguson: The Business of Winning and Managing Success“ von Damian Hughes diente neben der eigenen Recherche, einigen Studien (unter anderem jene aus Harvard von Elberse), Fergusons beiden Autobiographien, seinen Pressekonferenzen und der eigenen genauen Analyse von Aussagen von und zu Ferguson als wichtigstes Material für diesen Artikel. Danke auch an Statistikexperte Tobias Wagner alias TW / Tehweh, welcher mit Rat und Tat durch Grafiken, Korrektur bei meinen Simulationen durch eigene analytische Berechnungen, Programmierungen in MatLab und Feedback behilflich war.  

Teamanalyse Dynamo Kyivs 1975 anhand der Partie gegen den FC Bayern

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Valeriy Lobanovskiy gilt bis heute als einer der Pioniere des Fußballs. Taktische und statistische Analysen, konsequente Einforderung von professioneller Disziplin und Teamwork, neue Erkenntnisse in der Trainingslehre, aber auch viele taktische Dinge wie die positionsorientierte Raumdeckung oder das organisierte Pressing mit unterschiedlichen Pressinghöhen und –intensitäten können auf ihn, Ernst Happel und Rinus Michels sowie einzelne Vorgänger (z.B. Branko Zebec oder Viktor Maslov) zurückgeführt werden.

In jenen 70er-Jahren entstand die Maßanfertigung für den modernen Fußball und Lobanovskiy war einer der Grundpfeiler jener Entwicklung, die sich erst mit Arrigo Sacchi sukzessiv und breitflächig im Weltfußball manifestierte. 1975 war dabei ein besonderes Jahr für den Fußball und Lobanovskiy persönlich: Sein Dynamo Kyiv gewann nicht nur als erstes Team der Sowjetunion einen großen europäischen Titel, nämlich den Pokal der Pokalsieger gegen Ferencvaros, sondern krönte sich im europäischen Supercup mit einem Triumph gegen den damals zweifachen Meisterpokalsieger Bayern München zum besten Team Europas.

Um diesen Sieg und somit auch die Fortschrittlichkeit Lobanovskiys zu verstehen, blicken wir in unserer Retroanalyse auf den Hinspielerfolg; ein überraschender 1:0-Auswärtssieg im Münchner Olympiastadion stellte die Weichen für den Gewinn des prestigeträchtigen Supercups.

Bayerns Aufstellung

So wollten die Bayern beginnen, doch ...

So wollten die Bayern beginnen, doch …

Der Favorit und amtierende Meisterpokalsieger aus München startete mit einem 1-3-3-3-System, wie es für sie damals üblich war. Dabei spielten sie ohne Franz „Bulle“ Roth, Johnny Hansen, ohne Conny Thorstensson und auch ohne Uli Hoeneß, die verletzungsbedingt fehlten. Hoeneß, der im Vorjahr in 34 Spielen 28 Scorerpunkte erzielt hatte, wartete auf eine Meniskusoperation – es war jene Verletzung, die er sich im Finale gegen Leeds United zugezogen hatte und deren Nachwehen schließlich seine Karriere beenden würden.

Im Sturm erhielt auch deswegen der noch 19jährige Karl-Heinz Rummenigge auf rechts seine Chance, während links Klaus Wunder in die Mannschaft rückte. Beide spielten als relativ klassische Flügelstürmer, wobei Rummenigge einige Male aus diesem taktischen Schema ausbrach und diagonaler zum Tor hin orientierte. Der dribbelstarke Wunder hingegen klebte auf seiner Linie und suchte die Flanken. Auch im Zentrum gab es einige Veränderungen.

Jupp Kapellmann spielte als zentraloffensiver Akteur und wohl am ehesten als das, was man als „klassische Zehn“ bezeichnen würde. Er sollte die Mittelstürmer bedienen, ging immer wieder in die Halbräume und organisierte das Spiel, wobei er in diesem Aspekt ineffektiv war – das Mittelfeld von Kyiv verhinderte längere Zeiten am Ball und isolierte ihn oftmals vom Aufbauspiel, wodurch er kaum zum Tragen kam.

Auf der „Doppelsechs“, spielten Bernd Dürnberger, der ansonsten in der Verteidigung auflief, während Rainer Zobel hinter ihm vor Georg Schwarzenbeck und Franz Beckenbauer auflief. Dürnberger spielte einen sehr einfachen Ball: sichere Kurzpässe, Ballsicherheit und defensive Aufmerksamkeit gehörten zu seinen Stärken, doch nach vorne kam wenig von ihm. Auch Zobel konnte kaum überzeugen, hatte aber vorrangig defensive Aufgaben, wie auch die Außenverteidiger.

Diese gingen zwar situativ mit nach vorne und versuchten sich primär mit Halbfeldflanken (Udo Horsmann) oder Unterstützung im Mittelfeld (Josef Weiß), sollten aber defensiv sicher stehen. Weiß hatte im Meisterpokalfinale den Weltklassespieler Billy Bremner ausgeschaltet und spielte nun auf rechts gegen den linksorientierten Zehner von Dynamo Kyiv, nämlich Weltklasseakteur Leonid Buryak.

Horsmann auf links hatte es mit Petro Slobodyan zu tun, der als rechter Mittelfeldspieler immer wieder in die Spitze ging und sich als zweiter Stürmer neben Oleg Blokhin positionierte. Dieser wechselte von seiner Rolle als Mittelstürmer immer wieder auf die linke Seite, wo er situativ seine eigentliche Rolle als linker Flügelstürmer bekleidete. Schwarzenbeck verfolgte Blokhin dann, während Franz Beckenbauer sicher stand und dadurch den Bayern eine hohe defensive Stabilität verschaffte. Allerdings war diese Anordnung etwas improvisiert.

Die ursprüngliche Idee Dettmar Cramers

Horsmann war beispielsweise eigentlich als rechter Verteidiger geplant. Im Normalfall spielte bei Kyiv Buryak deutlich zentraler, Slobodyan war ein Edelreservist und Blokhin war eher halblinks vorgesehen. Zumeist hatte Blokhin eine Mischrolle aus linkem Flügelstürmer und einem Mittelstürmer, doch Lobanovskiy hatte bewusst umgestellt.

Darum musste Horsmann auf die linke Seite wechseln, um Slobodyan abzudecken – Weiß, der gegen Leeds wie erwähnt noch den zentraleren Bremner gedeckt hatte, musste also auf die für ihn ungewohnte Außenposition, was ihn in der Offensive sichtlich behinderte. Ein weiterer Dominoeffekt: Dürnberger, der Linksverteidiger, ging in die Mitte.

Lobanovskiy hatte damit schon eine Schlacht gewonnen, denn die Bayern mussten sich früh in der Partie stark anpassen und waren in ihrer offensiven Effektivität beschnitten. Gleichzeitig waren die Sowjets im Mittelfeld enorm kompakt.

Dynamo Kyivs 4-5-1/4-1-4-1/4-4-1-1

Wie man es vielleicht vermutet hatte: Dynamo spielte mit nur einem wirklichen Stürmer, nämlich dem Weltklassestürmer und eigentlichem Linksaußen Oleg Blokhin, der mitunter auch als das sowjetische Pendant zu Johan Cruijff bezeichnet wurde. Es gab durchaus gewisse Parallelen zwischen den beiden.

... wegen der Manndeckungen begann man so.

… wegen der Manndeckungen begann man so.

In einer Mannschaft voller hervorragender Spieler stachen sie beide hervor, sie hatten gewisse Freirollen in Offensive und Defensive, wodurch sie sich frei bewegen konnten. Gelegentlich sah man Blokhin im Aufbauspiel zurückfallen, einmal kippte er sogar zwischen Linksverteidiger Valeriy Zuyev und dem linken Innenverteidiger Stefan Reshko ab. Ansonsten fungierte er als umschaltender und ausweichender Stürmer, der Räume für Slobodyan und Buryak öffnen sollte. Eine falsche Neun, sozusagen.

Slobodyan rückte dabei auch in diese Rolle als verkappter Stürmer, weil der zweite Stürmer im eigentlichen 4-4-2 Kyivs, Vladimir Onishchenko, zweifacher Torschütze im Finale gegen Ferencvaros, fehlte. Nicht nur die Bayern hatten einige namhafte Ausfälle zu beklagen, Kyiv musste neben Onishchenko auch auf Vladimir Muntyan verzichten. Letzterer war ein großer Verlust, weil er defensiv wie offensiv sehr stark war, ungemein technisch stark und pressingresistent, wodurch er als box-to-box-Spieler im Mittelfeld sowie als Spielgestalter im zweiten Drittel für Gefahr sorgte.

Diese Aufgaben übernahmen in dieser Partie Anatoliy Konkov und Viktor Kolotov, welche vor der Abwehr agierten. Konkov war dabei der nominell defensivere Akteur und jeweils einer der beiden war der einzige Mittelfeldspieler, der sich bei den Kontern nicht miteinschaltete. Generell war er mit Linksverteidiger Zuyev und Innenverteidiger Reshko einer der wenigen, die sich offensiv zurückhielten. Besonders beeindruckend war neben Weltklasselibero und Spielgestalter im ersten Drittel Mikhail Formenko die Spielweise von Oleksandr Damyn.

Oleksandr Damyn, der offensive Rechtsverteidiger

Bereits in den späten Fünfzigern hatte sich in Brasiliens Nationalmannschaft langsam die Tradition des aufrückenden Rechtsverteidigers gebildet. Es war Carlos Alberto bei der Weltmeisterschaft 1970, der diese Rolle mit seinem Treffer gegen Italien im WM-Finale symbolisch perfektionierte. Fünf Jahre später schien Lobanovskiy dies kopiert zu haben, denn Damyn (eigentlich ein Mittelfeldspieler und Bankwärmer) begann auf der rechten Außenbahn und der eigentliche Rechtsverteidiger, Vladimir Troshkin, spielte überraschenderweise rechts im Mittefeld.

Dabei sicherte Troshkin immer wieder für Damyn bei dessen Vorstößen ab und übernahm seine Position. Konter konnten darum gegen Dynamo Kyiv kaum effektiv durchgebracht werden, während Damyn selbst bei eigenen Kontern gefährlich wurde oder im Aufbauspiel mit Dynamik nach vorne ging. Insbesondere mit den diagonalen Laufwegen Slobodyans und dem Wegziehen von Schwarzenbeck durch Blokhin auf die linke Seite sollten so Räume geschaffen werden.

Hierbei ist besonders auffällig und bewundernswert, wie abgestimmt die einzelnen Mechanismen im System Dynamo Kyiv unter Lobanovskiy waren. Troshkin erfüllte seine Rolle unauffällig, aber mit Bravour, Damyn wirkte keineswegs wie ein Bankdrücker und auch die Bewegungen der Stürmer an jene der Verteidiger waren überaus passend. Hinzu kam noch die Asymmetrie in dieser Spielweise, denn auf links gab es eine solche Organisation nicht.

Zuyev blieb tief und rückte selten auf, stattdessen verschob die Kette leicht in das entstehende Loch auf rechts und sicherte zusätzlich ab. Dies bedeutete nicht nur zusätzliche defensive Sicherheit, sondern auch offensive Freiheiten für die Schlüsselspieler. Blokhins Verschieben nach links und die Rolle von Buryak kamen dadurch situativ besser zum Tragen.

Buryak, die verkappte Nummer Zehn

Ein weiterer der Spieler von internationalem Format (im damaligen medialen Ansehen) war Leonid Buryak, eigentlich ein nomineller Zehner, allerdings wie die heutigen Kreativspieler mit enormer Laufstärke und Dynamik auf den ersten Metern ausgestattet. Und ähnlich wie viele moderne Zehner agierte auch er von der Seite aus – immer wieder rückte er von seiner breiten Position nach innen, spielte als Spielgestalter oder übte seine Kreativität direkt vom Flügel aus.

Für damalige Zeiten war das eine eher unübliche Rolle. Normalerweise spielten die Flügelstürmer relativ breit und hatten defensive wie offensive Aufgaben in den damals üblichen 4-3-3, 4-2-4 und 4-4-2-Systemen, die allesamt aus dem 4-2-4 stammten, die sich wiederum aus dem WM-System entwickelten. Kurz gesagt: Die eigentlichen Flügelstürmer wurden nach hinten gezogen und halfen hinten mit, wodurch Asymmetrien entstanden.

Eine Zehn auf dem Flügel gab es eigentlich selten.  Solche Akteure gab es meist in Südamerika zu sehen, einmal mehr war Brasilien mit Roberto Rivelino als linkem Flügelstürmer bei der Weltmeisterschaft 1970 ein Vorreiter anderer Entwicklungen. Lobanovskiy führte dies weiter aus, er installierte ein asymmetrisches 4-4-2 mit Buryak als äußerem Flügelstürmer, der immer wieder gefährliche Läufe Richtung Tor startete und dadurch gegen die oftmals manndeckenden Gegensysteme Räume öffnete.

Kam Buryak über die Halbräume, gab es eine variable Besetzung des linken Flügels, welche von unterschiedlichen Spielern praktiziert wurde. Entweder einer der Sechser schob auf die Seite oder Blokhin ließ sich fallen, während Zuyev tief blieb. Dadurch gab es auch bei Verwaisen des Flügels, also einer NichtBesetzung zwecks zentralen Überzahlen, eine stabile Absicherung. In diesem Spiel hatte Rummenigge dadurch kaum eine Chance auf erfolgreiche Konter, was womöglich auch Lobanovskiys Ziel war. Doch Rummenigge war nicht der einzige Schlüsselspieler, der nur wenig Einfluss ausüben konnte.

Das Beckenbauer‘sche Aufrücken

Bis heute sind Franz Beckenbauers Ausflüge nach vorne aus seiner Libero-Position legendär. Sie waren ein Überbleibsel seiner Zeit als Mittelfeldspieler, wo er immer wieder den Raum attackierte, in die Vertikale sprintete und Angriffe einleitete. Beckenbauer war dabei einer jener Spieler, die alles für eine Rolle als taktgebende Mittelfeldspieler mitbringen: Herausragende Spielintelligenz, überlegene Athletik, wunderbare Technik und die Ausstrahlung eines Grandseigneurs.

Dennoch war er als Verteidiger besser aufgehoben, individuell wie auch für das Kollektiv. Mit seiner Beweglichkeit und den langen Phasen mit Ball am Fuß konnte er zwar punktuell für Gefahr sorgen – und dies auch sehr oft –, doch eine durchgehende Spielkontrolle und das organisatorische Planen von Angriffen wäre seinem taktischen Naturell vermutlich zuwider gewesen. Dafür war Beckenbauer zu attackierend und vertikal, wenn er in der Nähe des letzten Drittels Raum mit Ball am Fuß vorfand. Als Libero konnte Beckenbauer situativ das Spiel beeinflussen, erkannte diese Räume und stieß nicht nur mit Ball am Fuß nach vorne, sondern teilweise sogar ohne Ball als nachrückender Akteur mit Sprints über vierzig bis fünfzig Meter in den Strafraumrückraum.

In dieser Szene ist es Schwarzenbeck(!), der nach einer Kombination von Beckenbauer auf Weiss und von Weiss zurück in die Mitte den Ball erhält, zwei Spieler austanzt und auf Kapellmann durchsteckt. Dieser versucht die diagonal hinter die Abwehr startenden Müller und Rummenigge einzusetzen, doch die sich zusammenziehende Abwehr Kyivs fängt den Ball ab.

In dieser Szene ist es Schwarzenbeck(!), der nach einer Kombination von Beckenbauer auf Weiss und von Weiss zurück in die Mitte den Ball erhält, zwei Spieler austanzt und auf Kapellmann durchsteckt. Dieser versucht die diagonal hinter die Abwehr startenden Müller und Rummenigge einzusetzen, doch die sich zusammenziehende Abwehr Kyivs fängt den Ball ab.

Als Libero konnte er weiters als wichtiger Spieler im Aufbau und Koordinator im ersten Spielfelddrittel seine technische Stärke nutzen und das Spieltempo ankurbeln. Defensiv war er dank  seiner Dynamik ohnehin über jeden Zweifel erhaben und lief viele Bälle ohne Grätsche ab. Dies bedeutete, dass er die eroberten Bälle und abgefangenen gegnerischen Pässe auch sofort sichern und behaupten konnte,  wodurch es nicht nur weniger Standards in Tornähe gab, sondern auch mehr sofortige Gegenangriffe, an denen er sich im Idealfall beteiligen konnte.

Beckenbauers Pressingresistenz verhinderte Ballverluste und mit seinem guten Dribbling konnte er viel Raum in kurzer Zeit überbrücken. Abgesichert wurde es zumeist von den zwei ballnahen Spielern beziehungsweise Schwarzenbeck und einem aus dem zentralen Mittelfeld oder den beiden Außenverteidigern. Gegen Dynamo Kyiv kamen diese Vorstöße aber kaum zum Tragen, was an mehreren Aspekten lag.

Die Kyiver spielten mit einer Raumdeckung, was den Raum für Beckenbauer bei seinen Vorstößen einengte. Normalerweise weichten seine Vordermänner ihm instinktiv aus, wodurch sie ihm Räume öffneten, was an der gegnerischen Manndeckung lag. Jeder Gegner hatte einen bayrischen Gegenspieler und verfolgte ihn mannorientiert; Beckenbauer visierte dann schlicht die sich öffnenden Räume an.

Gegen die Raumdeckung von Dynamo klappte dies nicht. Sie konnten entweder mit ihren offensiven Akteuren bereits früh gegen Beckenbauer aus ihrer eigentlichen Position herausrücken und ihn unter Druck setzen, was zwar nicht in Ballverlusten, aber zumeist in einem Abbruch des Angriffes resultierte. Alternativ ließen sie ihn nach vorne aufrücken, standen dann aber tief und massiert mit zwei Viererketten oder eben einer flachen Fünf im Mittelfeld, weswegen Beckenbauers Vorstöße ins Nichts gingen. Seine Pässe waren zwar kreativ und gefährlich, jedoch war der Raum bei den tiefstehenden Ukrainern zu eng, um die Pässe effektiv verwerten zu können.

Lobanovskiys Dynamo Kyiv war nämlich keineswegs eine „Pressingmaschine“, welche durchgehend in einem Angriffs- oder Mittelfeldpressing agierte, wie es heutzutage vielfach vermutet wird. Teilweise standen sie sogar überaus tief.

Dynamos überraschendes Pressing

Entgegen dem weit verbreiteten Mythos der unaufhörlich pressenden und ultra-offensiven Dynamo-Mannschaft war das damalige Bild von ihnen ganz anders geprägt. Dynamo Kyiv galt als gefährliche Kontermannschaft, herausragend im Umschalten und insbesondere ein schwieriger Gegner für größere Vereine. Sie spielten zwar in der heimischen Liga gegen unterlegene Teams mit einem Angriffspressing, doch bei schwierigeren Gegnern und in speziellen Partien wie dieser schoben sie ihre Pressinglinie weiter nach hinten.

Zumeist spielten sie dann in einem tiefen Mittelfeldpressing, welches zwischen fünf und vier Mittelfeldspielern wechselte. Vorrangig war es ein flexibles 4-4-1-1-Pressing, in welchem ein Mittelstürmer die Speerspitze an vorderster Front darstellte. In dieser Partie war es Oleg Blokhin, der ansonsten öfters als Linksaußen oder hängende Spitze agierte. Hinter dem Mittelstürmer gab es eine fluide Besetzung; es wich immer einer aus der Mitte oder den Flügel (in dieser Partie Buryak, Kolotov oder Slobodyan) eine Ebene nach vorne und versuchte das gegnerische Aufbauspiel in bestimmte Zonen zu leiten. Im 4-5-1/4-1-4-1 in dieser Partie war der Effekt noch stärker.

Dynamo Kyiv im 4-1-4-1 mit enormer Kompaktheit, horizontal wie vertikal. Beckenbauer schiebt in den Sechserraum vor, die Außenverteidiger und Schwarzenbeck sichern zu dritt ab.

Dynamo Kyiv im 4-1-4-1 mit enormer Kompaktheit, horizontal wie vertikal. Beckenbauer schiebt in den Sechserraum vor, die Außenverteidiger und Schwarzenbeck sichern zu dritt ab.

Die Kette hinter dem herausrückenden Akteur verschloss den durch das Herausrücken geöffneten Raum und formierte sich in einer Viererlinie. Die Kompaktheit und insgesamt ein ballorientiertes Verschieben waren ebenfalls schon gegeben. Dabei war die Raumdeckung weitestgehend positionsorientiert und ging zumeist auf den Außen oder bei schnellen Vertikalsprints der Bayern in eine stärkere Mannorientierung über. Bayerns bis heute sehr unterschätzter Mittelfeldspieler Jupp Kapellmann wurde von Lobanovskiys Mannen gesondert beachtet. Kyivs Spieler deckten ihn variabel mannorientiert und hielten ihn immer in der Nähe eines Spielers, um den Bayern die zentrale Verbindung nach vorne zu nehmen.

Interessant war gegen die Bayern besonders die Wechselwirkung zwischen dem Herausrücken aus der Position, dem Linienspiel in einer Vierrereihe und dem Augenmerk auf Jupp Kapellmann. Das eigentliche 4-5-1-Pressing Kyivs wurde womöglich deswegen oft zu einem 4-1-4-1, in welchem sich einer der drei zentralen Mittelfeldakteure situativ fallen ließ und vor der Abwehr als freier Mann spielte. Davor spielte dann eine Viererreihe, die von Blokhin defensiv unterstützt wurde. Häufig wurde dadurch aus dem tiefen Mittelfeldpressing ein Abwehrpressing. Dieses Wechselspielchen konnte sich aber auch nach vorne fortsetzen.

Positionsorientierte Raumdeckung, situative Mannorientierungen und das Herausweichen

Auffallend war, dass die Kyiver aus ihrer tiefen Anordnung immer wieder Befreiungen durch das Spiel ohne Ball in die Höhe suchten. Sie standen in ihrem positionsorientierten und formativ flexiblen 4-5-1 da und verschoben horizontal wie vertikal sehr kompakt. Teilweise verdichteten sie ihren Defensivblock sogar noch extremer, als es heutzutage praktiziert wird und profitierten wiederum davon, dass der Gegner den Ball selten so schnell zirkulieren ließ, wie es heutiger Standard wäre.

Dadurch verschlossen sie die Mitte und konnten dennoch nicht über Außen ausgespielt werden. Wenn der Gegner es mit Tiefensprints in freie Räume versuchte oder langen Seitenwechseln, agierten sie ballnah situativ mit Manndeckungen und verfolgten einzelne Spieler. Dies zerriss die Formation Kyivs zwar etwas, war aber effektiv, um gegnerische Angriffe zu neutralisieren.

Falls der Gegner aber den Ball zirkulieren ließ, um durch konstantes Hin und Her Räume zu öffnen, reagierte Dynamo Kyiv überaus aggressiv. Einzelne Spieler wichen immer wieder aus ihrer Position, näherten sich dem Gegner an und falls dieser bei der Ballverarbeitung zu lange brauchte oder ihm ein Fehler unterlief, sprinteten sie durch und pressten. Dann schob zumeist auch der ballnahe Außenspieler mit und es entstand eine 4-3-3-Formation, welche die Bayern und ihr Passspiel zum eigenen Tor lenkte. Kyiv konnte aufrücken und positionierte sich wieder in ihrem üblichen Mittelfeldpressing.

Den Bayern fehlte es damit an allen Ecken und Enden an der nötigen Kreativität: Beckenbauers sporadische Vorstöße waren zu wenig, Kapellmann konnte nicht die Bindung nach vorne schaffen und durch die Verletzung Hoeneß‘ fehlte ein weiterer Kreativposten. Müller und Rummenigge waren dadurch aus dem Spiel genommen. Zwar versuchten auch Horsmann und Schwarzenbeck für Gefahr zu sorgen, doch sie waren glücklos in ihren Versuchen und wurden von der gegnerischen Raumdeckung abgefangen. Gleichzeitig spekulierten die Ukrainer exakt auf solche Ausflüge, um dann ihr markantes Konterspiel ins Rollen zu bringen.

Dynamos offensives Umschaltspiel

Selten waren Mannschaften wegen ihres Konterspiels so gefürchtet, wie jene Teams Valeriy Lobanovskiys. Hierbei gab es mehrere Gründe. Der wichtigste dürfte die Offensivkompaktheit gewesen sein. Sämtliche Mittelfeldspieler schoben in die Spitze auf und agierten mit Vertikal- und Diagonalsprints, wodurch sie gegnerische Manndeckungen teilweise komplett zum Zusammenbruch zwangen.

Lediglich einer aus Konkov oder Kolotov blieb tief vor der Dreierabwehr und diente als Anspielstation nach hinten. Selbst der eher passive Vladimir Troshkin schob mit nach vorne, blieb aber immer in der Nähe von Damyn und sicherte dessen Räume dahinter ab. Durch die Pärchenbildung war dies allerdings flexibel. So ging Troshkin einige Male nach vorne, während sich stattdessen Damyn zurückfallen ließ. Eine sehr gute Idee, um gegnerische Manndeckungen zu zerschlagen.

Das Problem mit Bayerns Manndeckungen: Kyivs Spieler macht den Passweg auf Blokhin auf und Kyiv überwindet problemlos mit einem Pass auf Blokhin 25 Meter. Der Passgeber ist übrigens der mit Ball aufgerückte Libero.

Das Problem mit Bayerns Manndeckungen: Kyivs Spieler macht den Passweg auf Blokhin auf und Kyiv überwindet problemlos mit einem Pass auf Blokhin 25 Meter. Der Passgeber ist übrigens der mit Ball aufgerückte Libero.

Es waren diese organisierten langen Vertikalsprints, die Kombinationsstärke und Kompaktheit beim kollektiven Aufrücken, das die Lobanovskiy-Elf so stark machte. Sie schalteten schnell um, überbrückten mit vielen Akteuren den Raum dynamisch und konnten dann qualitativ hochwertige Chancen herausspielen. Mit Blokhin hatten sie auch einen Akteur, der intelligent Räume öffnete oder auch im Dribbling Bälle behaupten konnte.

Interessant war dabei, wie Kyiv dank dieser hohen Anzahl an aufrückenden Spielern auch im Konterspiel auffächern konnte. Im Normalfall erzeugen konternde Teams situative Engen, wie es beispielsweise Mainz 05 aktuell mit den einrückenden und flexiblen Flügelstürmern tut (zumindest in ihrem 3-4-3).

Kyiv hingegen spielte auch beim Konterfokus teilweise enorm breit, ohne aber an die Verbindungen der Spieler zueinander zu verlieren. Mit den vielen nach vorne schiebenden Akteuren in der Mitte konnten sie auf den Seiten problemlos auffächern. Die Gefahr eines Ballverlustes war gering die vielen in der Offensive genutzten Akteure erhöhten die Schwierigkeit für die verteidigende Mannschaft. Auch gegen raumdeckende Mannschaften hatten sie durch Verbreiterung der Schnittstellen eine effektive Spielweise und waren extrem schwer aufzuhalten.

Auffällig war hierbei ebenfalls eine Asymmetrie. Kolotov blieb oft zentral und Konkov ging dann auf halblinks und rückte auf, wodurch die linke Seite situativ besetzt wurde, wenn Buryak sich im Angriffsvortrag frei und zentral bewegte. Mit Slobodyan und Buryak besetzten sie die Halbräume, konnten flexibel und situativ die Flügel besetzen und zeigten sich somit außerordentlich modern – die Vergleiche mit dem totalen Fußball von Ajax‘ in den frühen 70ern werden schlagartig verständlich. Auch im Spielaufbau fiel Kyiv mit einigen interessanten Bewegungen auf.

Kyivs Aufbauspielkreisel

Nicht nur in der Offensive, der Defensive, dem Umschaltspiel und im Pressing waren sie flexibel, sondern auch im Aufbauspiel, dem fünften großen Aspekt einer Mannschaft. Neben Blokhin, der wie erwähnt einige Male nach hinten abkippte und ansonsten durch konstante Bewegungen Räume öffnete, zeigten sich auch die anderen Spieler überaus beweglich.

Kolotov holt sich immer wieder vor der Abwehr den Ball ab und versuchte das Spiel zu organisieren. Troshkin wurde im Spielaufbau geflissentlich übergangen, während sich Konkov oftmals nach halbrechts bewegte. Er nutzte den Raum hinter dem aufrückenden Damyan und bildete mit Buryak auf links weitere Kreativspieler neben Organisator Konkov in der Mitte.

Durch diese Bewegung wurden also entweder Räume eröffnet oder zwei der kreativeren Spieler in der Mitte befreit, während Troshkin sich bereits zwecks späterer Absicherung breiter im rechten Halbraum positionierte.

Slobodyan wurde durch die Bewegung von Damyan und Konkov befreit, konnte sich sehr hoch und mittig positionieren, wodurch man situativ einen Zweiersturm erzeugen konnte oder eben Blokhin Richtung Buryak verschieben und sogar das Sturmzentrum kurzzeitig verwaisen lassen konnte. Mit dieser enormen Bewegung sowie dem aufrückenden und spielgestalterischen Formenko waren sie überaus fluid.

Interessanterweise waren sie in der Anfangsphase noch eine Stufe variabler, um die gegnerischen Manndeckungen aus den Angeln zu heben. So schob beispielsweise Reshko einige Male im Aufbauspiel nach vorne und ließ Formenko alleine hinten. Dies lag daran, dass sich Gerd Müller zuerst an Reshko orientierte, der diesen dann schlicht wegschob und den Libero von sämtlichen Pressingmöglichkeiten der Bayern befreite.

Formenko konnte auch deswegen enorm weit und lange mit Ball am Fuß marschieren. Dies ermöglichte ihm gezielt offene Räume anzuvisieren und intelligente wie strategische Pässe zu spielen. Mit Blokhins Zurückfallen und der hohen Bewegung im Mittelfeld wurden die Bayern sporadisch ins Chaos getrieben. Die Mittelfeldspieler, welche sich in der Horizontale frei bewegen durften und immer wieder vertikal starteten, erhöhten die Probleme der Bayern. Diese gingen teilweise deswegen auch in Raumdeckungen einzelner Spieler über, vorrangig die drei Stürmer und die zwei höheren Mittelfeldspieler.

Dennoch kamen sie mit der Bewegung nicht klar und eroberten die meisten Bälle (tief) in der eigenen Hälfte. Kyivs bewegliche Spielweise gab ihnen nicht nur mehr Sicherheit im Spielaufbau, sondern sie waren auch im Stande den Gegner effektiv zu attackieren, ob er mit oder ohne Pressing oder auch mit Raumdeckung statt Manndeckung agierte.

Lob und Kritik an den Münchnern

In der bisherigen Analyse haben wir immer wieder die Probleme der Bayern in die jeweiligen taktischen Erklärungen des Kyiver-Systems einfließen lassen. Kapellmann kam kaum zum Tragen, Rummenigge und Wunder spielten sich an der Linie fest und Gerd Müller wurde kaum mit Bällen gefüttert. Das ein oder andere Mal ließ sich der Nationalstürmer auch deswegen weit nach hinten fallen, suchte die Ballkontakte und wollte beim Angriffsvortrag helfen, doch seine Unterstützungen waren zumeist wegen der Einbindung und der Raumdeckung Kyivs ineffektiv.

Auch die vereinzelten Positionswechsel in der Mitte des Feldes bei den Bayern sollten nicht den gewünschten Erfolg bringen. Weiß bzw.  Dürnberger, Kapellmann und Zobel bewegten sich relativ frei und wurden auch von Beckenbauer sowie vereinzelt Schwarzenbeck unterstützt. Sie scheiterten aber immer wieder an der gegnerischen Abwehr, dem Pressing und den situativen Engen, aus denen sie nur selten herausfanden. Zumeist gingen die Bälle jedoch nach hinten und der Angriff musste neu aufgebaut werden.

Doch trotz all dieser offensiven Probleme muss auch ein Lob an die Bayern ausgesprochen werden. Sie waren zwar taktisch klar unterlegen, aber tappten nur selten in die Fallen Kyievs und kümmerten sich um einen behutsamen Spielaufbau ohne unnötige Ballverluste. Langes, blindes Gebolze wie von vielen Mannschaften in diesen Jahren und auch den kommenden zwei Dekaden, gab es kaum zu sehen.

Durch den ruhigeren Spielaufbau waren sie zwar nur selten im gegnerischen Strafraum präsent, aber konnten die Kyiver Konter über längere Zeit vermeiden und kamen nur selten in defensive Schwierigkeiten. Insbesondere Schwarzenbeck erledigte seine Arbeit gegen Blokhin herausragend, der sowjetische Weltklassestürmer war weitestgehend abgemeldet und konnte nur selten zum Dribbling in vollem Sprint ansetzen.

Dettmar Cramer, über den Max Merkel einst sagte, seine Analysen und Matchpläne seien acht Pfund Papier schwer, hatte sich gut auf die Lobanovskiy-Truppe eingestellt. Die Konter wurden schnell und gut abgefangen, die Manndeckungen waren passend gewählt und es waren auch Ansätze eines Pressings erkennbar.

Diese Pressingansätze gab es vorrangig im Mittelfeld, da man auch hier das Auftun von Löchern für die schnellen Überfallangriffe der Ukrainer tunlichst vermeiden wollte. Der Dreiersturm ließ sich nach hinten fallen und spielte relativ tief, wodurch sie in gewisser Weise eine Art Raumdeckung spielten, sich aber natürlich an den aufrückenden Gegner orientierten. Auch im Mittelfeld gab es lose Manndeckungen, die übergeben wurden. Lediglich in der Abwehr beziehungsweise im ersten Spielfelddrittel bei den Abwehrspielern war die Manndeckung sehr strikt, rigid und starr.

Trotzdem fehlte es den Münchnern an zündenden Offensivideen, Gefahr im Strafraum und Kreativität. Es schien wie eine Frage der Zeit, bis Dynamo einen Konter erfolgreich beenden würde und somit das Momentum auf ihre Seite ziehen könnte. Darum veränderte sich nach der Halbzeit etwas im Spiel des Favoriten.

Dettmar Cramers Reaktion

Franz „Bulle“ Roth, der schussgewaltige box-to-box-Spieler im Mittelfeld und auch auf den Flügeln, hatte wegen einer Zerrung vorerst auf der Bank Platz genommen. Ein unglückliches Testspiel vor dem Spiel gegen Kyiv hatte seine Verletzung verschlimmert, anstatt ihm Spielpraxis zu geben. Nach der Halbzeitpause war es dennoch soweit: Der zweifache Endspieltorschütze im Meisterpokal 1975 sollte die Entscheidung bringen und die Abstände zwischen Angriff und Mittelfeld verkleinern.

Dürnberger musste für ihn weichen. Seine Bewegungsmuster waren gegen diesen Gegner und in diesen Spielsituationen etwas unpassend und nicht durchschlagskräftig genug. Mit Zobel hatte man außerdem eine alleinige Absicherung für die offensivfokussierten Roth und Kapellmann, wodurch man Kyiv noch weiter nach hinten schieben wollte. Dies sollte die Wahrscheinlichkeit erhöhen, endlich über die Mitte Druck machen zu können oder eben Roths Schussstärke zu nutzen. Auch die Flanken sollten verstärkt genutzt werden.

An sich eine gute Idee, doch der ukrainische Jahrhunderttrainer passte seine Mannschaft nach der Halbzeit ebenfalls an.

Lobanovskiys Veränderungen nach der Halbzeit

Dynamo Kyiv erhöhte nun die Schlagzahl, offensiv wie defensiv. Slobodyan rochierte immer wieder auf links hinaus nach der Halbzeit. So sollten die Manndeckungen der Münchner ausgehebelt werden, was ansatzweise gelang: Horsmann folgte seinen Gegenspieler auch auf die andere Seite. Buryak fand sich ebenfalls öfter auf rechts und wurde jetzt etwas überraschend von Schwarzenbeck übernommen; Lobanovskiy Versuch Cramer eine Falle zu stellen, gelang nicht vollends, doch die erhöhten Bewegungen sollten sich später noch auszahlen.

Situativ konnten die bayrischen Abwehrspieler ihre strikten Manndeckungen auflösen. Weiss rückt hier aufmerksam nach vorne und wird den erst noch kommenden Pass abfangen. Beckenbauer übernimmt den freien Gegenspieler.

Situativ konnten die bayrischen Abwehrspieler ihre strikten Manndeckungen auflösen. Weiss rückt hier aufmerksam nach vorne und wird den erst noch kommenden Pass abfangen. Beckenbauer übernimmt den freien Gegenspieler.

Außerdem passte Lobanovskiy die Extremität des Pressingrhythmus an. Einige Male presste Kyiv sehr hoch und aggressiv, in vielen Situationen gab es aber ein noch tieferes und passiveres Abwehrpressing als in der ersten Hälfte. In einer Situation unmittelbar nach der Halbzeitpause stand man zum Beispiel in einem extrem kompakten 4-4-1-1 am eigenen Strafraum. Drei Spieler standen dabei in einem Haufen bei Bayerns Ballführenden, die vier Verteidiger standen sogar allesamt im Strafraum und fast am Elfmeterpunkt aufgereiht. Generell hatte Kyiv überraschend viele extrem tiefe und kompakte Staffelungen, wo man heutzutage eher Di Matteo in einem CL-KO-Spiel als Trainer vermuten würde.

Neben der Defensive stach aber auch das defensive Umschaltspiel ins Auge.

Taktische Fouls von Kyiv im defensiven Umschaltmoment

Ein besonders interessanter und in der zweiten Halbzeit fokussierterer Aspekt war die Spielweise von Kyiv nach Ballverlusten. Gegenpressing war situativ erkennbar, aber Kyiv bewegte sich nach Ballverlusten meist schnell wieder zurück auf die Positionen. Nur der ballnächste Akteur versuchte konstant den Gegner zu behindern oder im Idealfall zu foulen. Dies war weder mannorientiert noch positionsorientiert gespielt, sondern nach dem Motto: „Wer zuerst kommt, foult zuerst“.

Diese taktischen Fouls waren sicherlich mit einer der Gründe für das Funktionieren des regulären Pressings, des Defensivspiels und auch der Offensive bei den Ukrainern, welche bisweilen sehr offensiv aufrückten. Sie konnten auch deswegen ihre Pressinghöhe variieren: Spielte der Gegner vor solchen Attacken einen Pass, ging er meist nach hinten. Kyiv konnte dann seine Rückwärtsbewegung abbrechen und sich noch in der gegnerischen Hälfte neu formieren.

Dieses Variieren der Pressinghöhe im Spielverlauf – im Gegensatz zu der durch den Gegner erzwungenen Veränderung durch ein aggressiveres Aufbauspiel – war wohl auch ein taktisches Novum, welches von Valeriy Lobanovskiy eingeführt wurde und die damaligen Offensivmechanismen der Gegner massiv be- und verhinderte.

Exkurs: Pressing aus einer Manndeckung heraus

Interessant war, dass die Bayern unter Dettmar Cramer zwar weitestgehend mit einer Manndeckung, aber auch mit Ansätzen eines Pressings agierten. Das passt zum Charakter Dettmar Cramers. Dieser galt in jenen Jahren als „Fußballprofessor“ und hatte (wohl auch zu Recht) eine hohe Meinung von sich selbst. So ist beispielsweise folgendes Zitat von ihm überliefert:

„Was macht ihr aus der Raumdeckung, das ist doch das Einfachste der Welt!“ – Dettmar Cramer bei einer Trainertagung in den 80ern (laut der ZEIT)

Dennoch vermittelte er seiner Mannschaft anno 1975 nicht die Raumdeckung. In der Bundesliga sollte sich in den nächsten Jahren die Raumdeckung inklusive Pressing durchsetzen. Gyula Lorant führte die Raumdeckung u.a. bei Eintracht Frankfurt ein und sie, zumindest als Mischsystem aus Mann- und Raumdeckung, setzte sich in der Bundesliga durch. In der Nationalmannschaft war sie hingegen weiterhin nur wenig wert und wurde von Altmeister Helmut Schön nicht konstant genutzt.

„Die Deutschen haben die intelligentesten Spieler, aber in der Nationalmannschaft spielen sie den dümmsten Fußball.“ – Gyula Lorant im Spiegel

Doch obwohl die Deutschen die intelligentesten Spieler hatten und auch Dettmar Cramer als Fußballprofessor galt, spielten seine Bayern in der Bundesliga jener Zeit vergleichsweise rückständig. Sie dominierten zumeist wegen ihrer individuellen Überlegenheit, der Klasse von so überaus intelligenten und kombinationsstarken Akteuren wie Gerd Müller und Franz Beckenbauer sowie fortschrittlichem Training. Auch das vereinzelte, aber nicht kollektiv organisierte Pressing war hilfreich, dennoch gab es Kritik an Cramer, der sich wie folgt äußerte:

„Solange ich nicht die dafür geeigneten Spieler habe, ist meine Ansicht von der besseren Taktik einen Dreck wert.“ – Dettmar Cramer im Spiegel

Wahre Worte. Cramer ließ seine Mannschaft auch darum bewusst in der Manndeckung spielen, weil man den Gegnern individuell überlegen war. Gleichwohl gab es einzelne Spieler, die zwar nicht in einer reinen Raumdeckung spielten, aber den Gegner übergeben konnten und ihren Mann verlassen konnten. Ob sie dabei ihren Deckungsschatten bewusst oder zufällig genutzt haben – oftmals scheiterte es, was auf letzteres vermuten lässt –, ist nicht eindeutig. Daum war das Pressing auch nicht so effektiv, wie es hätte sein können.

Dennoch hatte Cramer zumindest ansatzweise Recht, dass er der Manndeckung treu blieb. Gyula Lorant sollte ebenfalls in seiner kurzen Zeit beim FC Bayern an der erfolgreichen Vermittlung der Raumdeckung scheitern, erst Nachfolger Pal Csernai, welcher dem Mischsystem aus Mann- und Raumdeckung im sogenannten „U“-System weitestgehend abschwor, hatte beim deutschen Rekordmeister damit Erfolg. Doch sogar Csernai hatte mit der Umsetzung Probleme, wie wir im Artikel zu Aberdeens Giant Killing 1983 sehen können.

Allerdings ist die theoretische Idee eines effektiven und organisierten Pressings aus einer Mannorientierung heraus eine überaus interessante. Möglich wäre es dies zu praktizieren, auch wenn es der unlogische Schritt ist: Sobald man ins Pressing übergeht, werden (häufig) Gegenspieler frei. Übernimmt immer der aus der Tiefe kommende Spieler beim kollektiven Forechecking nach vorne, dann können lange Bälle direkt eine Überzahl in gefährlichen Zonen erzeugen. In Verbund mit einem Libero würde sogar das Mittel der Abseitsfalle von der pressenden Mannschaft selbst neutralisiert werden.

Wie sonst kann man es also praktizieren? Eine Möglichkeit wäre es, die Manndeckungen nicht nach hinten zu übergeben, sondern in die Horizontale. Soll heißen: Wenn sich die Offensivspieler zum Pressing lösen und zum Ball schieben, agieren sie mit ihrem Deckungsschatten und verhindern Anspiele. Während sie laufen, verschiebt das Kollektiv nicht, sondern nur die ballfernen Spieler rücken zum nächstfreien Gegner ein und übernehmen den freigewordenen Spieler.

Praktisch attackieren dann der linke Außenverteidiger, der linke Außenstürmer und der Mittelstürmer, während der rechte Außenstürmer und der rechte Außenverteidiger die beiden ballfernsten Gegenspieler stehen lassen und sich in die Mitte orientieren, wodurch eine Kettenreaktion entsteht. Ein kollektiv intelligentes und fehlerloses Spiel wäre zwar möglich, aber wohl weder so einfach noch so effektiv wie bei der Raumdeckung.

Cramer praktizierte es zumeist so, dass die hinteren Akteure eine meist starre Manndeckung hatten, die mittleren eine lose Manndeckung mit Anlaufen bei Ballannahme und die Offensivspieler sich in einer Dreierreihe hinter oder gar einer Viererreihe mit Müller positionierten. Sie hatten zwar einen Gegenspieler, standen aber weit weg und ließen den Gegner im ersten Spielfelddrittel in Ruhe. Dafür konnten sie dann den Manndeckern im Mittelfeld helfen und ein situatives und lokales Pressing im Mittelfeld aufbauen.

„Fußball ist ein Spiel von Zeit und Raum.“ – Dettmar Cramer

Fazit

Mit diesem 0:1-Auswärtserfolg nach Tor von Oleg Blokhin hatte Dynamo Kyiv alle Karten in der Hand. Im Gegensatz zu heute gab es noch ein Rückspiel in der Ukraine, welches die Bayern einen Monat später ebenfalls verlieren sollten. Kyiv trat in dieser Partie mit Muntyan und Onishchenko auf, Lobanoskiy stellte also auf ein reineres 4-4-2 um –die taktisch überaus wirkungsvollen, aber spielerisch etwas schwächeren Damyan und Slobodyan fielen aus der Startaufstellung. Oleg Blokhin traf prompt zwei Mal und es war somit ein nie gefährdeter Erfolg gegen die Münchner, welche in dieser Saison abermals den Meisterpokaltitel holen sollten.

Lobanovskiy und Dynamo Kyiv unter seiner Ägide hingegen fristen bis heute eine Mischung aus Schattendasein und Anerkennung in der Fußballwelt. Erst 1974 war Lobanovskiy zu Kyiv gekommen und hatte zuvor ohne groß aufzufallen bei Dnipro Dnipropetrovsk gearbeitet. Siebzehn Titel sollte er in den nächsten 19 Jahren holen, unter anderem acht sowjetische Meisterschaften, dem Weltpokalsieg gegen die Münchner Bayern sowie zwei Siegen im Pokal der Pokalsieger (1975 und 1986, jeweils mit Oleg Blokhin).

Viermal war er Trainer der sowjetischen Nationalmannschaft, welche er 1988 ins EM-Finale führte. Gegen Ende seiner Laufbahn war er wieder bei Dynamo unterwegs, wo er 1999 die Bayern in der Champions League abermals ärgern sollte. In seiner letzten Amtsperiode, die sich immerhin über fünf Jahre erstreckte, hatte Dynamo Kyiv eine Siegquote von annährend 80%. Ein beeindruckender Wert für einen Mann, der den modernen Fußball nicht nur vorwegnahm, sondern auch nach über 30 Jahren im Trainergeschäft (1975 wäre er der jüngste Bundesligatrainer gewesen, als  er die Bayern herausforderte) war er auf dem laufenden Stand der Dinge. Bis heute ist Lobanovskiy von Mythen umgeben und seine Erfolge nicht klar einzuordnen. Seine Mannschaften und Zitate zeigen aber, wie viel Ahnung der Mann gehabt haben musste:

„Modern football is the game of speed and imagination. The essence of football is numerical superiority in different areas of the pitch. The first requirement for the player is to quickly switch from defense to offense and vice versa.” – Valeriy Lobanovskiy

Dettmar Cramer andererseits sollte nicht ganz in solchen hohen Ehren gehalten werden. Der „Fußballprofessor“ hatte einige Parallelen zu Lobanovskiy, ohne aber ein solch pragmatischer Visionär zu sein. Bereits mit 23 Jahren war Cramer Cheftrainer des Westdeutschen Fußballverbandes. Diesen Posten hatte er 15 Jahre inne bevor er zum DFB ging, um dort als Assistenztrainer der Nationalmannschaft zu arbeiten. Er tingelte daraufhin durch die Welt, hospitierte und wurde schließlich Trainer beim US-Verband. Letztlich erlag er dem Ruf der Bundesliga erst, als der FC Bayern anklopfte.

Als Nachfolger von Udo Lattek hatte er anfangs einige Probleme, doch seine Erfolge (zwei Meisterpokalerfolge und der Weltpokal 1976) brachten die Kritiker zum Verstummen. 1977 wurde er trotzdem mit Gyula Lorant von der Eintracht getauscht. Beide Trainer sollten bereits nach einer Saison den jeweiligen Verein  wieder verlassen. Der Weltenbummler Cramer ging nach Japan und wird dort heute noch als Begründer des modernen Fußballs gefeiert; eine Ehre, die ihm in Deutschland verwehrt wird. Womöglich zu Unrecht. Eines der Zitate Cramers kann man sogar bis heute problemlos für den Fußball in allen Leistungsebenen nutzen:

„Um Tore zu schießen oder zu verhindern, braucht man den Ball. Wo der Ball ist, muss man mehr Spieler haben als der Gegner. Es gilt, die Spieler für die Kleingefechte um den Ball zu schulen.“ – Dettmar Cramer, 1986

Diego „Cholo“ Simeone – Der Leidenschaftliche | Teil 1

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Die Welttrainerwahl steht an und der Nachfolger von Jupp Heynckes wird ausgezeichnet. Carlo Ancelotti wurde bei uns bereits porträtiert. Ein guter Zeitpunkt, um nun ein Porträt von Diego Pablo Simeone zu starten. 

„Wenn du dich mit Cholo Simeone unterhältst, dann sagt er dir […]: ‚Als Fußballspieler habe ich das Maximum aus meinen begrenzten Möglichkeiten herausgeholt. Und weißt du, warum? Weil ich Leidenschaft habe. Wie hätte ich bei meinem Spielniveau hundert Spiele für Argentinien machen können! Als Spieler war ich Mittelmaß. Alles, was ich erreicht habe, verdanke ich meiner Leidenschaft.'“ (Lorenzo Buenaventura, Fitnesstrainer des FC Bayern, zitiert nach: Martí Perarnau, Herr Guardiola. Das erste Jahr mit Bayern München, aus dem Spanischen von Lea Rachwitz und Hans-Joachim Hartstein, 2014.)

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WM-Finale 1978, Argentinien – Niederlande 3:1 n.V:

Das Vorbild

Die frühe Nachkriegszeit war für den argentinischen Fußball keine erfolgreiche. Die Albiceleste qualifizierte sich entweder gar nicht erst, wie 1970 oder schied mehrmals in der Vorrunde aus. Obwohl zumindest Klubs wie CA Independiente, Estudiantes de La Plata und Boca Juniors in den 1960er und 1970er Jahren reihenweise die Copa Libertadores gewannen, war der argentinischen Militärjunta daran gelegen, die Weltmeisterschaft 1978 im eigenen Land erfolgreich zu gestalten. Bis heute wird dieses Nationenturnier enorm kritisch gesehen. Vor allem mit dem 6:0-Sieg über Peru, als der gebürtige Argentinier Ramón Quiroga im peruanischen Tor eine unglückliche Figur abgab und sich das Gastgeberteam in der Gruppe doch noch an Brasilien vorbeischob, werden häufig Bestechungsvorwürfe verbunden. 35000 Tonnen Weizen sollen an Peru geliefert worden sein. Doch von all dem abgesehen, hatte Argentinien eine starke Mannschaft zusammen. Neben Mario Kempes stach vor allem „El gran Capitan“ Daniel Passarella hervor. Der damals achtjährige Simeone bewunderte den offensiven Verteidiger, der mit seiner Dynamik in die Mittelfeldzonen vorstieß und die gegnerischen Mittelfeldreihen vor große Herausforderungen stellte, da er Kempes und Co. mehr Freiräume ermöglichte.

„Ich war auf alles fixiert. Die Gesichter der Spieler. Auf jedes Detail. […] Ich mochte vor allem Passarella, weil ich immer Menschen mit Persönlichkeit bewundere und mag. Du kannst einen Anführer daran erkennen, wie er geht. Du kannst es darin sehen, wie er sich bewegt. Diese Bilder von Passarella 1978, dem Kapitän, als er aus dem Spielertunnel kam und es Konfetti regnete.“ (Diego Simeone)

Doch so sehr der junge Simeone von Passarella begeistert war. Er entwickelte sich später doch mehr zu einem Osvaldo Ardilles. Zwanzig Jahre nach der WM im eigenen Land sollten Passarella und Simeone zusammenkommen. Beim Turnier 1998 in Frankreich war das Vorbild Nationaltrainer der Albiceleste und der Mittelfeldmotor im besten Alter war sein Kapitän. Bei dieser WM sollte Simeone nicht nur durch sportliche Leistungen auf sich aufmerksam machen. Die Auseinandersetzung mit David Beckham im Achtelfinale führte zur Roten Karte für den Jungstar von Manchester United, der schwere Kritik in England einstecken musste. Im Viertelfinale verletzte sich Simeone. Argentinien schied aus.

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WM-Viertelfinale 1998, Argentinien – Niederlande 1:2

Bis jedoch der in Buenos Aires gebürtige solch eine wichtige Rolle für das Heimatland einnehmen konnte, war es ein weiter Weg, der von der Obsession für den Fußball geprägt war. Simeone beschreibt sich selbst als Jugendlicher, der keinen Plan B hatte, der stets Fußballer werden wollte. Wie bei vielen anderen ging es schon in jungen Jahren sofort nach der Schule auf den Platz – sprich auf einen Hof, wo Bäume die Tore und die Regeln unbekannt waren.

Die Laufbahn

Allerdings war der harte Straßenfußball nur eine prägende Komponente. Denn Simeone hatte Talent, genügend Talent, um bei den Jugendmannschaften von Vélez Sársfield, der in Liniers im Westen von Buenos Aires angesiedelt ist, unterzukommen. Das erste Ziel war es, im El Fortín, dem Tempel von Vélez Sársfield aufzulaufen. Simeone trainierte beispielsweise unter dem legendären Victorio Spinetto, der ihm den bis heute bekannten Spitznamen „Cholo“ verpasste. Denn Diego Simeone erinnerte an die aggressive Verteidigerlegende von Vélez Sársfield der 1950er Jahre Carmelo Simeone, der ebenfalls „Cholo“ genannt wurde. Spinetto hatte großen Einfluss auf die frühen Jahre von Diego Simeone. Er starb 1990. Im selben Jahr verließ sein ehemaliger Schüler Argentinien und versuchte sein Glück in der Serie A bei Pisa. Der italienische Erstligist gab Simeone nachdem das Angebot übermittelt wurde, lediglich eine Dreiviertelstunde zum Überlegen. Seine Eltern waren im Urlaub, sein Berater nicht anwesend. Cholo ergriff die Möglichkeit. Wie das große Vorbild Passarella führte der Weg in die italienische Liga und Simeone sollte während der 1990er und 2000er Jahre vermehrt zwischen Primera Division und Serie A pendeln, inklusive zweier Engagements bei seinem heutigen Klub Atlético Madrid.

Simeone_Diego

Goalimpact Chart (anklicken zum Vergrößern)

Es wäre nun müßig, alle Stationen im Einzelnen zu analysieren. Der Double-Gewinn mit Atlético, der UEFA-Cup-Sieg mit Internazionale und der Scudetto mit Lazio waren große Meilensteine. Am meisten beeinflusst hat ihn aber wohl ein Landsmann. Carlos Bilardo trainierte den FC Sevilla Anfang der Neunziger, als Simeone aus Pisa nach Andalusien wechselte. Doch auch Trainer wie Luis Aragones und Marcelo Bielsa nahmen mehr oder weniger Einfluss.

Der Spielertyp

Die Neunziger Jahre waren eine Zeit als große Strategen und beinharte Anführer des Öfteren in einer Person vereint wurden. Stefan Effenberg und Roy Keane waren zwei prominente Beispiele. Diego Simeone wird häufig auf seine Leidenschaft, seine Aggressivität, seine Kampfmentalität reduziert. Doch dabei wird gerne übersehen, was für technische Qualitäten Simeone besaß, welche Übersicht er hatte und mit welcher taktischen Intelligenz er gesegnet war. Er entwickelte sich in den meisten Mannschaften, inklusive der argentinischen Nationalmannschaft, mit der er immerhin zweimal die Copa América gewann und eine olympische Silbermedaille in Atlanta errang, zum essentiellen Knotenpunkt. Wie bereits erwähnt, Simeone hatte Passarella als Vorbild, aber er war Ardilles ähnlicher, wenn man einen Vergleich zur 1978er-Mannschaft ziehen möchte. Eine Reihe hinter den Kempes, oder im Falle Simeones eine Reihe hinter den Djorkaeffs und Nedvěd, sorgten Ardilles und Cholo für die Strukturierung des Spiels in Kombination mit einer enormen Laufleistung. Im heutigen Atlético-Kader bestehen sicherlich die größten Ähnlichkeiten mit Tiago und Gabi, aber auch ein Stück weit mit Jungtalent Saúl Ñíguez.

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UEFA-Cup-Finale 1998, Internazionale – Lazio 3:0

Simeone ist unter 1,80 Meter groß und war infolgedessen trotz seines teils physischen Spiels in Luftzweikämpfen eher unterlegen. Deshalb neigte der Argentinier auch dazu, halbhohe Bälle so oft wie möglich herunter zu nehmen. Diese Bewegungen am Ball ließen ihn sehr ruhig erscheinen. Und in der Tat, der Argentinier sorgte mit seinen Aktionen oftmals für leichte Verzögerung. Das lag weniger an einer schlechten Ballverarbeitung. Simeone hatte ganz im Gegenteil eine elegante Art und Weise, wie er sich selbst in verdichteten Zonen noch geschmeidig das Spielgerät zurechtlegte. Doch er konnte keinesfalls mit Ball am Fuß enorm beschleunigen. Diese mangelnde Weiträumigkeit machte er wiederum mit langen, empathischen Diagonal- und Vertikalzuspielen wett. Aus diesem Grund suchte Simeone nicht selten zunächst die passenden Kanäle und offenen Räume. Diese wenigen Zehntelsekunden an Verzögerungen konnten wiederum die Mitspieler nutzen, um bereits in den entsprechenden Zielbereich des dann erfolgenden Passes zu laufen.

Da das Mittelfeldpressing vor allem um die Jahrtausendwende herum, oftmals wenig intensiv war oder komplett darauf verzichtet wurde, hatte Simeone an der Seite eines weiteren spielstarken Akteurs in der Regel genügend Zeit, um als Ballverteiler entscheidenden Einfluss auf die Fortführung des Angriffs oder, nach einer seiner zahllosen Balleroberungen, auf die Entstehung des Angriffs Einfluss zu nehmen.

Problematischer waren im Gegensatz dazu zwei andere Facetten. Wurde Simeone zu Engendribblings gedrängt, war er vergleichsweise leicht vom Ball zu trennen. Dies galt nicht unbedingt dafür, wenn er direkt attackiert wurde, sondern vielmehr wenn er sich mit dem Spielgerät nach vorn bewegte. Aufgrund eines gewissen Mangels an Dynamik wurden seine Dribblings oftmals unsauber, so komisch es klingen mag. Er versuchte Geschwindigkeit aufzunehmen, verlor aber dadurch ein Stück weit seine enge Ballführung. Zudem war Cholo nie ein Meister von großartigen Tricks und Finten.

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Doublesieger-Mannschaft von Atlético 1996 – Irgendwie kommt das doch bekannt vor…

Eine weitere kleine Schwäche, wobei wir hier auf hohem Niveau kritisieren, ergab sich in vermeintlich ungefährlichen Situationen am Sechserraum. Simeone tendierte dabei vereinzelt zu schwachen Querpässen, die genau in die Fallen des Gegners geraten konnten. Er war interessanterweise im weiträumigen Passspiel um einiges sauberer, als wenn es zum Beispiel um eine kurze Verlagerung von halblinks auf halbrechts ging. Das galt wiederum nicht für Ablagen. In seinen Rollen bei Inter und auch in der Albiceleste, wobei er häufiger als halblinker Sechser/Achter oder sogar als eine Art Flügelläufer agierte, konnte Cholo immer wieder effektiv seine Nebenspieler einbinden, da er im Halbraum ohne Gegenspieler war und deshalb vermehrt nach vorn rücken konnte. In diesen engen Zonen war er für kurze Ablagen sehr passabel zu gebrauchen. Im Gegensatz zu Internazionale war Simeone übrigens bei Atlético oder Lazio meist in einem 4-4-2-System stärker als Schaltzentrale, Durchlaufstation und Taktgeber gefordert, als das beispielsweise in Mailand an der Seite von Zé Elias der Fall war.

Gleichzeitig zeichnete sich der verbissene, laufstarke Argentinier durch seine exzellenten individuellen Gegenpressingfähigkeiten aus. In hohen Räumen hatte er stets die Möglichkeit nach Ballverlust sofort wieder den Umschaltmoment durch gezielte Attacken umzukehren. Dass Simeone mit dem Messer zwischen den Zähnen über das Feld lief, ist nur die halbe Wahrheit. Er erinnerte in vielen Partien an einen strategisch intelligenten und ruhigen Spielmacher, wobei er selten in seiner Karriere auf einer Soloposition im Mittelfeldzentrum agierte, sondern meist mit einem Nebenmann gutes gruppentaktisches Verständnis zeigte.

Die nächste Generation

Beim Sieg gegen Real Madrid im Copa-del-Rey-Hinspiel in der vergangenen Woche wurde Simeone jubelnd mit einem Balljungen beobachtet. Schnell wurde bekannt, dass es sich um seinen zweitältesten Sohn Giuliano handelt. Alle drei Kinder sind genauso fußballversessen. Der älteste Sohn Giovanni spielt bereits für die erste Mannschaft von River Plate und kam vor einigen Wochen sogar im Halbfinale der Copa Sudamericana im legendären Superclásico gegen die Boca Juniors in der Startelf zum Einsatz. Seine ersten Tore konnte er seit seinem Profidebüt vor eineinhalb Jahren bereits erzielen. Doch ob Giovanni jemals unter Vater Simeone trainieren wird, ist eher unwahrscheinlich. Denn Diego gab schon zu, dass er seine Söhne niemals wie andere Spieler bewerten könnte. Selbst wenn man meint, dass Arda und Co. wie Cholos Kinder wirken, so ist die intensive Unterstützung seiner eigenen Kinder natürlich noch auf einem anderen Niveau.

Giovanni ist ein schneller Konterstürmer, ein Schnittstellenläufer, der sich mit Vorliebe in den Rücken der Abwehr schleicht und dann beidfüßig selbst aus spitzen Winkeln abschließen kann. Der „Hijo del Cholo“ lebt weniger von seiner Physis im Zweikampf. Dafür kann er gut beschleunigen und das Spielgerät unter hohem Tempo unter Kontrolle bringen, Umschaltangriffe nach dem Ballgewinn selbst fortführen oder an der letzten Linie gesucht werden. Giovanni gilt als eines der größten Stürmertalente in Argentinien, aber ob er, wie manchmal spekuliert wird, in absehbarer Zeit zu Atlético Madrid wechselt, das darf noch bezweifelt werden. In puncto Spielstil unterscheidet sich Giovanni jedenfalls signifikant von Vater Diego.

P.S.: In den nächsten Teilen wird man erfahren, warum Simeone seinen Flügelstürmer Arda nicht versteht, weshalb er Stiere mag und wer noch hinter dem Erfolg von Atlético steckt. Allerdings müssen sich die Leser dafür noch etwas gedulden.


Diego “Cholo” Simeone – Der Leidenschaftliche | Teil 2

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Im zweiten Teil des Porträts von Diego Simeone geht es um die Philosophie des bekannten Atlético-Trainers.

„Cholismo“ bedeutet: sich aufopfern, hart arbeiten, täglich ums Überleben kämpfen und Erfolg haben. Dieses Wort ist das Fundament der Philosophie von „Cholo“ Simeone und schaffte es sogar vor einiger Zeit auf die Liste für das spanische Wort des Jahres. Die aufopferungsvolle Leidenschaft passt zum 44-jährigen Trainer wie die Faust aufs Auge, einst auf dem Platz vorgelegt, nun an seine Spieler weitergebend. Zudem wird der Begriff häufig mit dem Spielstil seiner Mannschaften – insbesondere einst Estudiantes de La Plata und nun Atlético Madrid – in Verbindung gebracht wird. Simeone selbst bleibt in diesem Zusammenhang zurückhaltend und sieht sich nicht als eine Art religiöser Führer.

„Ich glaube nicht an Glück. Ich glaube mehr an harte Arbeit, Überzeugung und Hartnäckigkeit.“

Als der Argentinier Ende 2011 die Mannschaft der Rojiblancos übernahm, war Atlético am Boden – eine deprimierende Stimmung herrschte im Klub. Simeone kannte diese Situation bereits aus den 1990ern, als er selbst das Trikot des Klubs trug. Doch auch damals rehabilitierte man sich von der Krise und fuhr immerhin 1996 das Double ein.

Simeone betrat nach seiner Amtsübernahme von Vorgänger Gregorio Manzano die Umkleidekabine und berichtete von seinen Erfahrungen, wie man sich wieder aufrappeln könnte. Er selbst kann nicht beschreiben, wie seine Motivationstechniken funktionieren, oder er will es schlichtweg nicht verraten. Aber der Argentinier sagt unter anderem: „Ich habe diese Energie. Folge mir oder eben nicht. Aber man kann nicht beschreiben, was ein Anführer genau macht.“ Dass Simeone das Charisma eines Anführers hat, wurde schon in seiner Kindheit deutlich, wie eine Anekdote beweist, nach der er vom Musiklehrer zum Dirigenten des Schulorchesters ernannt wurde, obwohl viele ältere Schüler dort spielten.

Es wirkt teilweise wie eine gewisse Gleichgültigkeit, mit der er über die Eigenschaften von Profifußballern berichtet. Simeone erwartet nicht, dass man sich auf dem Platz anders verhält, als man es abseits des Rasens tut. Für ihn ist es eine grundsätzliche Charakterfrage. Folglich versucht er auch nicht, Spieler von seiner Philosophie mit aller Gewalt zu überzeugen, sondern er wartet einfach ihre Reaktionen ab. Selbst im aktuellen Kader von Atlético oder in der erfolgreichen Mannschaft der letzten Saison gab es vermutlich Akteure, die nicht hundertprozentig von Simeones Weg überzeugt waren. Dies habe man ihm zufolge zu akzeptieren, aber gegebenenfalls müsse eine Trennung erfolgen.

„Es gibt ein Sprichwort, wenn dir 49 Prozent der Leute folgen, dann sei zufrieden damit.“

Trotzdem schreibt er (in Zusammenarbeit mit Santi Garcia Bustamante) in seinem Buch Partido A Partido. Si se cree, se puede („Von Spiel zu Spiel. Wenn du an dich glaubst, kannst du es“) unter anderem darüber, dass die Gruppe dem Trainer vertrauen müsste. Bestünden Zweifel, würden sich früher oder später Schwierigkeiten in der Arbeit mit der Mannschaft einstellen. Simeone behandelt sein Team laut eigener Aussage wie eine Familie. Vom Präsidenten bis zum Platzwart sollten alle Wertschätzung erfahren und die größte kommunikative Rolle hätte der Cheftrainer in einem Klub wie Atlético. Er sei ein Fixpunkt, der aber in Erfolgsmomenten die eigene Eitelkeit zurückzustellen habe.

Zudem versucht Simeone stets eine Gewinnermentalität zu generieren. Geht es in Richtung eines entscheidenden Spiels, dann wird nur davon gesprochen, dass man das Spiel gewinnen wird. Diese Einstellung teilen Trainerkollegen wie José Mourinho. Für Simeone geht es oftmals um Überzeugung. Wer an sich selbst glaubt, kann es auch schaffen. Wer jedoch eher präferiert, „bei einem kleinen Klub zu spielen, der wird sich Endspiele nur im Fernsehen anschauen können.“

Da sich Simeone mittlerweile im vierten Jahr bei Atlético befindet, wird oftmals vergessen, dass der 44-Jährige zuvor bereits sechs Trainerstationen bei fünf Vereinen hinter sich brachte. Dabei hatte er nicht durchweg Erfolg. Ligatitel errang er mit Estudiantes und River Plate, wurde aber in der zweiten Saison bei Los Millonarios auf dem letzten Platz der Primera División Argentina stehend entlassen. Auch bei seinem Aufenthalt beim ambitionierten CA San Lorenzo war er nicht erfolgreich und wurde von Fans teilweise ausgebuht , als sich der Klub nach einer Niederlagenserie auf dem viertletzten Rang befand.

Seine erste Station außerhalb der südamerikanischen Heimat war wie bei seiner Spielerkarriere in Italien. Die fünf Monate bei Calcio Catania prägten Simeone ungemein. Er „wuchs mit den Schwierigkeiten. Was Courage und Ideenreichtum betrifft, kommt vieles jetzt bei Atlético aus der Zeit in Italien“, berichtet der Argentinier. Interessant waren damals in der Rückrunde der Saison 2010/11, als Simeone die Sizilianer in der Serie A trainierte, nicht nur die taktischen Entwicklungen. (Mehr dazu im letzten Teil des Porträts.)

Er versuchte auch psychologische Stellschrauben zu drehen und die Mannschaft auf einen neuen Weg zu führen. In Catania entwickelte sich eine explizite Außenseitermentalität. Simeone wurde nicht müde zu betonen, dass „wir gegen den Rest“ kämpfen. Mediale Kritik nutzte er noch dazu, seine Behauptungen zu untermauern. Die Rossoazzurri wurden unter seiner Ägide vor allem zu Hause eine absolute Macht, relativ zur grundsätzlichen Stärke des Teams gesehen. Selbiges gilt übrigens auch für Atlético heute.

„Du brauchst Furcht in diesem Sport. Das gibt dir Mut und lässt dich wachsam bleiben.“

Interessanterweise arbeitete Simeone bei Catania einst mit insgesamt dreizehn Landsmännern zusammen. Akteure wie Torwart Mariano Andújar kannten den Trainer Simeone bereits aus der gemeinsamen Zeit bei Klubs wie Estudiantes. Obwohl der damals 40-Jährige natürlich aufgrund seiner Aufenthalte bei Pisa, Internazionale und Lazio über gute Sprachkenntnisse verfügte, half die verbesserte Kommunikation gerade beim Trainer-Stil von „El Cholo“. In diesem Zusammenhang muss man auch immer wieder die Gerüchte um einen möglichen Wechsel in die englische Premier League in Frage stellen. Denn die Kommunikation wäre arg behindert. Dass Simeone allerdings auch ohne Worte einen Spieler richtig einstellen kann, zeigt das Beispiel Arda Turan, dessen Spanischkenntnisse nur rudimentär vorhanden sind. Beide sind temperamentvoll. Beide kommunizieren meist non-verbal.

Die Chemie zwischen „Wassermann“ Arda und „Stier“ Simeone scheint zu stimmen. Der Argentinier hat selbst bestätigt, dass er stets ein Auge auf die Sternzeichen der Spieler wirft. Er glaubt bis zu einem gewissen Grad an Horoskope und eine Kaderanalyse ergibt, dass sich aktuell vor allem Steinböcke, Wassermänner, Fische, Widder und Stiere – also Spieler, die in der ersten Jahreshälfte geboren sind – im Kader befinden. Im letzten Sommer kamen beispielsweise die drei Stiere Guilherme Siqueira, Mario Mandžukić und Raúl Jiménez. Vielleicht ist auch so die Winterverpflichtung von „Fisch“ Fernando Torres zu erklären…

Mario und Fernando – Partnerschaft/Beziehung: „Zwei Romantiker kommen zusammen, was der Partnerschaft sehr zuträglich ist. Fische sind jedoch allen gegenüber sehr verständnisvoll, womit der Stier anfangs mit Eifersucht reagiert. Dieses Problem kann aber schnell überbrückt werden. Der Stier ist besonders gut darin, eine schöne Atmosphäre zu schaffen, was das Sternzeichen Fische mit Zuwendung anerkennt.“

Im dritten und letzten Teil wird es dann um die taktische Genese des Trainers Simeone gehen.

Diego “Cholo” Simeone – Der Leidenschaftliche | Teil 3

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Dieser Artikel hat lange auf sich warten lassen. Vielleicht lag es an zeitlichen Engpässen des Autors, vielleicht war die dünne Quellenlage dafür verantwortlich. Oder: Dieser Artikel musste erst reifen. Er musste reifen, so wie es die Trainerpersönlichkeit von Diego Simeone tat.

Natürlich, Simeone war ein grandioser Fußballer. Einer dieser beinharten Staubsauger und Antreiber, die vor allem in den 1990ern über die Fußballfelder stürmten. Ganze Armeen wurden ihnen entgegengeworfen, um sie zu stoppen. Aber ich komme vom Thema ab.

Bevor Simeone seine unvergleichliche Ära bei Atlético Madrid im Jahr 2011 begann, hatte er bereits sechs Trainerstationen hinter sich. Die eine erfolgreicher als die andere. Insgesamt war Simeone kein heißes Eisen auf dem Trainermarkt, so wie das heute der Fall ist. Mit Estudiantes de La Plata gewann er 2006 das Torneo Apertura, mit River Plate dann 2008 das Torneo Clausura. Nicht schlecht, aber auch nicht herausragend.

Vom Spieler zum Trainer

Sein letztes Profispiel absolvierte Simeone im Oktober 2005 gegen CA Rosario Central für Racing Club de Avellaneda. Er blieb noch bis Anfang des nächsten Jahres im Kader, hing aber seine Schuhe in dieser Zeit an den Nagel, nur um fast postwendend das Traineramt bei Racing zu übernehmen. Der damals 35-Jährige blieb dort allerdings nur rund drei Monate, was eine eingehende Bewertung seiner Trainerleistung eher schwierig macht.

„Ich hatte eigentlich geplant, durch Europa zu reisen und ein radikales Projekt mit Nelson Vivas [seinem späteren Assistenten bei Estudiantes, River Plate und San Lorenzo] zu entwickeln. Aber das Angebot der Albiceleste [Racing Club] kam sehr plötzlich und wir entschieden, es war zu gut, um es abzulehnen.“ (Diego Simeone)

Im Endeffekt schaffte Racing den Klassenerhalt, ohne dass Simeone dabei revolutionäre taktische Änderungen vornahm. Vielmehr war er bereits zu jener Zeit der absolute Motivator des Teams. Er wuchs als Altstar und argentinische Spielerlegende schnell in diese Rolle hinein. Junge Profis wie Maxi Moralez, aber auch bereits erfahrene Spieler wie der Ex-Bundesligaprofi Cristian Ledesma respektierten Simeone zu hundert Prozent. Nichtsdestotrotz verließ er nach der Neuwahl des Präsidentenamtes den Klub und wurde von Reinaldo Merlo ersetzt.

Anschließend dachte er wieder daran, ein neues Projekt mit Nelson Vivas anzugehen. Aber Simeone war lediglich 48 Stunden arbeitslos. Denn umgehend klingelte sein Telefon. Der Anruf vom Präsidenten von Estudiantes de La Plata kam erst zehn Uhr abends und Simeone entschied sich sofort, noch in den Nachtstunden das Trainingsgelände seines neuen Klubs zu besichtigen.

Boca Juniors - Estudiantes de La Plata 1:2, Apertura 2006, Finale, 13.12.2006, Estadio José Amalfitani

Boca Juniors – Estudiantes de La Plata 1:2, Apertura 2006, Finale, 13.12.2006, Estadio José Amalfitani

Sein Engagement bei den Pincharratas stellte auch einen ersten wirklichen Meilenstein in der Trainerkarriere dar. Er heuerte dort im Mai 2006 an und bereits im Oktober 2006 wählte ihn die Sportzeitung Olé zum Trainer des Jahres. Simeone ersetzte den nicht unbedingt erfolglosen Jorge Burruchaga, was schon ein gewisser Vertrauensvorschuss für einen unerfahrenen Jungtrainer war. Simeone baute die Mannschaft von Estudiantes um Routinier Juan Sebastián Verón, der nach elf Jahren zu seinem Jugendverein zurückkehrte. Nach eher durchwachsenen letzten Spielzeiten bei Chelsea und Internazionale wollte Verón seiner Karriere wieder neues Leben einhauchen. Und unter der Ägide seines ehemaligen Nationalmannschaftskollegen Simeone sollte dies gelingen. Gleich in der ersten Saison wurde Verón zu Argentiniens Fußballer des Jahres gewählt.

Im Viertelfinale der Copa Libertadores schied das Team im Elfmeterschießen gegen São Paulo aus. In der heimischen Liga hingegen legte Estudiantes einen unvergleichlichen Siegeslauf hin. Mit zehn Dreiern in Folge wurde der Klubrekord eingestellt. Dabei zerstörte Simeones Team unter anderem Club de Gimnasia y Esgrima La Plata mit 7:0 im traditionsträchtigen Clásico de La Plata. Am Ende der Spielzeit war Estudiantes punktgleich mit Ricardo La Volpes Boca Juniors. Da die Tordifferenz nicht von Bedeutung war, kam es zum Entscheidungsspiel auf neutralem Boden im Estadio José Amalfitani von Buenos Aires. Nach der frühen Führung von Boca durch Martin Palermo schlug Estudiantes in der zweiten Halbzeit – zu diesem Zeitpunkt waren beide Teams schon nur noch zu zehnt – per Freistoß durch Eigengewächs José Ernesto Sosa, der ein halbes Jahr später bei Bayern München unterschreiben sollte, und Mariano Pavone zurück. Die Startruppe Bocas um Palermo, Palacio, Ibarra und Jungtalent Gago war bezwungen. Simeone hatte den ersten großen Titel in der Tasche. Roberto Perfumo, einstiger argentinischer Starverteidiger der 1960er und 1970er sowie heutiger ESPN-Journalist, bezeichnete Simeone als „geborenen Trainer“.

„Boca hatte die Pokale für einige Zeit in Beschlag genommen. Also war der Gewinn auf diese Weise besonders spektakulär. Ich sage immer, Gewinnen ist alles. Aber es gibt Wege zum Sieg, die machen es noch erfreulicher.“

In der darauffolgenden Runde landeten Los Pincharratas auf dem dritten Rang hinter Meister San Lorenzo und Boca Juniors. Das 2007er Torneo Apertura lief umso enttäuschender, als ein schwacher Start alle Hoffnungen auf einen Titelgewinn begrub. Am Ende landete das Team nach neun Spielen ohne Niederlage noch auf dem sechsten Platz. Aber Simeones ehemaliger Lazio-Kollege Roberto Sensini ersetzte Cholo auf der Trainerbank.

Was zeichnete Estudiantes nun in dieser Zeit im Besonderen aus? Gerade in der erfolgreichen Spielrunde mit dem anschließenden Titelgewinn kam eine enorme Defensivstärke zum Tragen, sodass die Pincharratas die wenigsten Gegentore kassierten und zugleich alle Teams der Cinco Grandes besiegten. Im Grunde genommen setzte Simeone durchgehend auf ein 4-4-2 oder 4-4-1-1. Dabei war Verón stets der etwas vorgeschobene beziehungsweise vorstoßende Sechser, der dadurch auch die Angriffsstrukturen bestimmte. Rückte er beispielsweise mehr auf die linke Seite, so wurde der Spielaufbau auf diesen Flügel ausgerichtet, um Veróns Präsenz sowie die kleinen Überladesituationen zu nutzen.

Offensiv war zudem Mittelstürmer und Estudiantes‘ bester Torjäger Pavone von essentieller Bedeutung. Nicht nur lief er oftmals in die verlängerten Bälle, sofern im Aufbau zunächst Schläge in den Zehnerraum erfolgten, er riss für die zweite Spitze auch die entscheidenden Löcher aufgrund seiner hohen Aktionsrate. Sicherlich war Pavone auf die Unterstützung eines einrückenden Flügelspielers wie Diego Galván oder eines Verbindungsspielers wie Routinier José Luis Calderón angewiesen. Aber er konnte auch in manchen Phasen als Alleinunterhalter die Angriffe am Leben erhalten.

Gegen den Ball war Simeones Team bekannt für ein sehr rigoroses Kettenspiel. Die beiden Viererreihen standen durchweg horizontal kompakt, was gegen die vielen flügelfokussierten Mannschaften der argentinischen Liga durchweg effektiv funktionierte. Bei einem Außenspieler wie vor allem Sosa wurden sicherlich stets die offensiven Qualitäten herausgehoben. Aber auch die defensive Zuarbeit, das konstante, laufintensive Doppeln gehörten zum Aufgabenbereich der Flügelakteure.

So machte es Estudiantes einerseits dem Gegner sehr schwer aus Flügelisolationen herauszubrechen, andererseits wurde sehr schnell in die Spitze gespielt, wo es entweder zu raschen Abschlüssen oder aber zum Nachstoßen von Sosa und Verón kam. Und zu guter Letzt hatten die Pincharratas immer wieder gefährliche Standards, von Verón oder auch Sosa getreten, die eine enge Partie zu ihren Gunsten entscheiden konnten.

In der nächsten Runde hatte sich bei Estudiantes wenig bis gar nichts geändert. Der Klub aus dem Ballungsraum von Buenos Aires konnte die Mannschaft zusammenhalten, weil Präsident Eduardo Abadie bis zum Ende des Torneo Clausura einen Transferstopp verhängte. Diese Sperre betraf gerade umworbene Spieler wie Sosa und Pavone, die beide dann in der nächsten Meisterschaftspause Estudiantes in Richtung Europa verließen. Sicherlich wurden junge Talente wie Enzo Pérez und Pablo Piatti integriert. Aber die angesprochenen Abgänge sowie ein Fernbleiben Veróns, mit dem sich Simeone öffentlich anlegte, von den ersten Partien des 2007er Torneo Apertura führten zu einem echten Horrorstart. Nach dem 2:4 gegen River Plate am fünften Spieltag kam Simeones Team zunächst nicht mehr aus dem Tabellenkeller heraus.

In dieser schwierigen Phase griff Simeone auf ein ungewöhnliches Mittel zurück. Der Legende nach zeigte er seinen Spielern Al Pacinos Kabinenansprache aus Any Given Sunday. Von nun an sollte es wieder bergauf gehen. Oder es lag an der Rückkehr von Verón…

„Es ist eine großartige Rede, die so viele Dinge zum Ausdruck bringt, an die ich glaube, die ein Team stark macht. Es ist eine Art, wie ich versuche, meine Spieler zu erreichen. Ich denke, der einzige Kniff ist, wie sie diese Nachricht aufnehmen – als Trainer musst du eine motivierende Nachricht verbreiten und dann liegt es an ihnen, wie sie diese Nachricht aufnehmen und wie sie es in ihre Spielweise auf dem Feld übertragen.“

Veróns zweiter Startelfeinsatz war am 13. Spieltag gegen Argentinos Juniors und anschließend gab es noch fünf Siege und zwei Remis, ohne eine Niederlage zu kassieren. Simeone hielt an sich an seiner taktischen Ausrichtung auch während der Krise von Estudiantes fest. Viele Niederlagen fielen dabei knapp aus. Die stabile Verteidigung mit einem horizontal kompakten Kettenspiel funktionierte immer noch. Aber: Simeone fand keine passende Antwort auf den Verlust wichtiger offensiver Schlüsselspieler. Etwas, das ihm auch phasenweise in der letzten Saison bei Atlético Madrid passierte.

Titel und Katastrophe beim Wunschverein

Schlussendlich trat er direkt nach dem Ende der Meisterschaft zurück und heuerte eine Woche später als Nachfolger seines Vorbilds Daniel Passarella bei River Plate an. Ähnlich wie zu Beginn seiner Amtszeit bei Estudiantes musste sein Team zunächst ein Ausscheiden in der Copa Libertadores verkraften – in diesem Fall gegen ein um zwei Spieler dezimiertes San Lorenzo. Diese Partie sollte Simeone später als eine seiner schwärzesten Stunden im Fußball bezeichnen.

River Plate 2011

River Plate 2008

Doch zum Ende des Torneo Clausura von 2008 stand River Plate an der Spitze der Tabelle. Es war die zweite Meisterschaft für Cholo Simeone. Ähnlich wie bei Estudiantes hatte das Kollektiv oberste Priorität. Das bekam insbesondere Altstar Ariel Ortega zu spüren, der nicht selten durch Disziplinlosigkeit und Alkoholprobleme auffiel. El Burrito war in Simeones 4-4-2 nicht immer gesetzt, aber passte dort auch nur bedingt hinein.

An hoher individueller Qualität mangelte es River jedoch nicht. Im Angriff stürmte an der Seite vom wilden Sebastián Abreu meist Radamel Falcao. Oder der junge Alexis Sánchez, gerade von Udine ausgeliehen, agierte ganz vorn. Über die Flügel griff unter anderem Diego Buonanotte an. Im Mittelfeld zogen Typen wie die heutige Klublegende Leonardo Ponzio oder Óscar Ahumada und Augusto Fernández die Fäden.

Wichtig für das Offensivspiel von River war zu jener Zeit gerade Falcao, dessen Präsenz im Zehnerraum meist die Anbindung zum Mittelfeld herstellte. Etwas anders verhielt es sich mit Ortega, der oft eine hybride Rolle zwischen Außenspieler und Zehner übernahm. Buonanotte hingegen war als dribbelnder Wirbelwind starrer auf den Flügel fokussiert.

Ein Merkmal, was hier bei Simeones River-Mannschaft wieder auftauchte, war die Konterstrategie, die zu einem höheren Prozentsatz auf den Fähigkeiten des vordersten Zielspielers beruhte. Abreu konnte mit seiner körperlichen Präsenz den Ball in vielen Szenen festmachen und anschließend auf die heranstürmende Meute weiterleiten. Ohne diesen Zielspieler waren die Millonarios auf eine ruhigere Ballzirkulation angewiesen, was ihnen aber eher selten gelang. Denn auch die Passstrukturen aus dem Mittelfeld heraus forcierten verstärkt steile, tiefe Anspiele. Die offensiven Flügel beziehungsweise vorstoßenden Außenverteidiger überliefen unablässig die gegnerische Abwehrlinie. In dieser Form konnten auch die defensiven Mängel – schwächere Verschiebemechanismen, zu großer Mannorientierungsfokus – sowie die Schwäche bei defensiven Standards übertüncht werden. River Plate gewann viele Partien aufgrund der zahlreichen herausgespielten Torchancen, die sicherlich durch eine von Simeone vergleichsweise offensive Ausrichtung auch erzwungen wurden.

„Hoffentlich wird er [irgendwann Argentinien trainieren], aber wenn nicht, würde ich wetten, er steht mit Atlético Madrid oder einem ähnlichen Klub 2010 im Champions-League-Finale.“ (Journalistin Marcela Mora y Araujo im Juni 2008 nach Simeones Titelgewinn mit River Plate)

Eigentlich blieb in der Personalabteilung vieles beim Alten, als River Plate in die nächste Meisterschaftsrunde startete. Allerdings verließ Weltenbummler Abreu kurzzeitig das El Monumental, um bei Beitar Jerusalem zu unterschreiben. Der Paraguayer Santiago Salcedo war kein passender Ersatz an der Seite von Falcao. Ähnliches galt für Gustavo Bou. Außerdem ging Torhüter Juan Pablo Carrizo zu S.S. Lazio. Zu Beginn des Torneo Apertura probierte Simeone interessanterweise neue Systemvarianten und dabei sogar kurzzeitige Möglichkeiten mit pendelnden Viererketten aus. Aber das war nicht von Erfolg gekrönt. Auch ein kompakteres 4-5-1 ohne Falcao gab es zu bestaunen, was vermutlich eine Reaktion auf die chronischen Kompaktheitsprobleme war. Doch die Synergien im Offensivzirkel waren verloren gegangen. River kassierte wie schon beim Meisterschaftsgewinn immer wieder Tore, konnte aber selbst offensiv nicht derart gefährlich werden. Schlussendlich wurde Simeone Mitte November 2008 entlassen. River Plate erholte sich nicht von der sportlichen Krise. Die Mannschaft verließ bis zum Ende der Runde nur noch einmal den letzten Platz, stand aber nach dem 19. Spieltag am Tabellenende – erstmalig in der damals 107-jährigen Vereinsgeschichte. Man muss aber an dieser Stelle auch erwähnen, dass dieser Absturz nicht nur taktische Gründe hatte. River Plate war ganz einfach ein total chaotischer Verein, wo selbst Simeone nicht immer die Oberhand behalten konnte. Der Meistertitel in der Runde davor verschlimmerte womöglich sogar die Situation bei den Millonarios. Man dachte sofort wieder, River Plate hätte den Glanz alter Tage. Dem war allerdings nicht so.

Enttäuschung in Flores

Mitte April 2009 wurde Simeone als neuer Trainer von CA San Lorenzo de Almagro vorgestellt und ersetzte Miguel Ángel Russo. Anscheinend war sogar TV-Star Marcelo Tinelli, einer der bekanntesten Fans des sehr beliebten Klubs, in den Deal involviert. Ungeachtet des katastrophalen Endes bei River Plate waren die Erwartungen an den jungen Trainer, der nun schon zwei Meistertitel in seiner Vita vorzuweisen hatte, groß. Doch Simeone konnte zusammen mit der Mannschaft diese Hoffnungen nie erfüllen und San Lorenzo aus dem Tief befreien. Die Emotionen kochten auch in der knapp einjährigen Amtszeit immer wieder hoch, so wie es schon seine Vorgänger anhand einer versuchten Stürmung des Teamhotels zu spüren bekamen.

Direkt nach der Amtsübernahme konnte Cholo in der Endphase des Torneo Clausura keine außerordentlichen Verbesserungen hinsichtlich der Ergebnisse herbeiführen. San Lorenzo schloss auf Platz elf ab, was aufgrund des Saisonverlaufs noch respektabel war.

Die Mannschaft war gespickt mit erfahrenen Akteuren wie Cristian Ledesma, Santiago Solari, Kily González, Leandro Romagnoli und Bernardo Romeo, die allesamt auch in Europa ihre Duftmarken hinterlassen hatten. Einige jüngere Talente wie Juan Manuel Torres, Emiliano Alfaro und Alejandro Gómez, der Simeone später nochmal in Italien begegnen sollte, erzeugten rein theoretisch eine gute Mischung im Kader. Allerdings schmälerten die Verpflichtungen von González und Romagnoli im Sommer das Transferbudget erheblich.

Am Ende wurde Simeone mehr oder weniger mit einem Pfeifkonzert vom Hof gejagt, dabei lobte die Vereinsführung wiederum seine Arbeit mit den Talenten. Doch das anspruchsvolle Publikum von San Lorenzo schien verärgert darüber, dass Simeone das vermeintliche Starensemble nicht zu besseren Resultaten führen konnte. Nach dem siebten Platz im Torneo Apertura entstand noch Hoffnung, dass Cholo den gewünschten Aufschwung herbeiführen könnte. Sieben Niederlagen an den ersten zwölf Spieltagen des Torneo Clausura besiegelten das Ende Simeones.

Auch bei dieser Station setzte er vornehmlich auf 4-4-2- oder 4-4-1-1-Formationen. Hier gab es ebenso wieder klassische Zielspieler ganz vorn, die bereits erwähnten Flügelüberladungen, das schnelle Vertikalspiel aus dem offensiven Umschalten heraus und eine insgesamt pragmatische Herangehensweise, sodass auch die Routiniers ihre Rollen finden sollten. Es war schlichtweg nicht von Erfolg gekrönt. Simeone konnte die Mannschaft nicht nach seinen Wünschen formen. Die knapp einjährige Periode bei San Lorenzo sollte nicht unbedingt als Bewertungsmaßstab für seine Fähigkeiten herangezogen werden. Lediglich Simeones Entscheidung im Vorfeld darf man kritisch hinterfragen, denn er wusste um die schwierige Situation im Gasómetro.

Italienisches Semester

Sucht man bei Simeone neben dem Heimatland Argentinien und der momentanen fußballerischen Heimat Spanien einen weiteren Fixpunkt in der Karriere, so ist es ohne Zweifel Italien, wo er ebenso Wurzeln hat. Hier begann seine europäische Karriere bei Pisa. Hier feierte Cholo als Spieler mit Internazionale und S.S. Lazio große Erfolge.

Im Januar 2011 heuerte Simeone als Trainer erstmals in der Serie A an. Es war die Aufgabe beim wenig attraktiven Kellerklub Catania Calcio, die ihn einmal mehr ins Land des Stiefels führte – oder in diesem Fall auf die Insel Sizilien. Passt diese sizilianische Mentalität nicht wie angegossen zu Simeone?

Zumindest referiert Simeone heute noch über die damalige Erfahrung als echte Lehrzeit, obwohl er nur fünf Monate in Diensten Catanias war. Damals ersetzte er Marco Giampaolo, der mit einem wenig kompakten 4-1-4-1 der individuell eher schwach besetzten Mannschaft überhaupt keine Stabilität verleihen konnte. Da Catania ganz im italienischen Stil aber trotzdem eher auf Abwehrpressing setzte, prallten hier zwei Elemente aufeinander, als dass sich Spielstil und taktische Ausrichtung ergänzten. Giampaolo war vor allem darauf bedacht, seinem Kreativspieler Adrian Ricchiuti eine Art Freirolle zu geben. Man könnte dies auch als Trequartista bezeichnen, allerdings blieb Ricchiutis Aufgabenfeld lange Zeit eher nebulös. Aufgrund der teils reaktiven Ausrichtung wurde aus dem 4-1-4-1 in vielen Partien eher ein 4-4-1-1, wo Ricchiuti stets die Anbindungen an Angreifer wie Maxi López suchte. Allerdings war dieses weiträumige Spiel nur selten von Erfolg gekrönt. Zu einfach konnten die strategisch herausragenden Defensivspieler in der Serie A in die Angriffsdynamiken Catanias eindringen und Offensivvorträge der Elefanti zerstören.

Simeone warf zu Beginn seiner Amtszeit nicht alles um, sondern ging zunächst recht zurückhaltend an die Aufgabe heran. Er wollte sich laut eigener Aussage nicht auf eine starre Taktik versteifen. So wechselte Simeone während der Rückrunde oftmals zwischen einem 4-2-3-1 und einem 4-3-1-2 hin und her.

„Du kannst nicht eine favorisierte Formation haben; ganz einfach aus dem Grund, dass du dich als Trainer anpassen musst. Ich denke, das Beste, was ein Trainer tun kann, ist danach zu schauen, was funktioniert für das Team, nicht was einen selbst befriedigt, wenn ich sage: Ich spiele auf diese Weise. Denn einer allein ist nicht wichtig. Einer allein ist nur ein kleiner Teil vom großen Ganzen, das wichtig ist.“

Schauen wir zunächst auf das 4-2-3-1: Hierbei waren die Änderungen im Vergleich zu Giampaolo eher marginal. Ricchiuti spielte als klarer Zehner hinter der Spitze, was zumindest die Offensivmechanismen nicht großartig veränderte. Interessant war allerdings das Spiel gegen den Ball. Denn hierbei zogen sich die offensiven Flügelakteure wie Ezequiel Schelotto oder Giuseppe Mascara stets in eine klare, verengte Mittelfeldviererkette zurück. So blieben die Außen willentlich offen, aber die Mitte war gedeckt, was noch dadurch verstärkt wurde, dass die vordersten Spieler Ricchiuti und López nie die gegnerischen Innenverteidiger anliefen, sondern sich immer um den etwas höher positionierten Sechser stellten.

Juventus - Catania 2:2, Serie A, 34. Spieltag, 23.4.2011, Stadio Olimpico di Torino

Juventus – Catania 2:2, Serie A, 34. Spieltag, 23.4.2011, Stadio Olimpico di Torino

Im 4-3-1-2 war die offensive Herangehensweise etwas progressiver gestaltet, da hierbei flexiblere Bewegungen der Sturmreihe und kurzzeitige Überladungen auf den Flügeln genutzt wurden. Defensiv rutschte das Team dann allerdings häufig wieder in ein verengtes 4-4-2 zurück, wobei Simeone nicht nur auf die schmale Mittelfeldkette Wert legte. Auch die vertikale Kompaktheit sollte stets aufrechterhalten werden, was einen vergleichsweise hohen Laufaufwand zur Folge hatte.

Zunächst verlief der Start bei Catania allerdings wenig erfolgreich, da die Sizilianer beispielsweise gegen direkte Abstiegskonkurrenten wie Parma und Bologna verloren. Allerdings sollten sich die Elefanti nach und nach im neuen Defensivgefüge zurechtfinden. Simeone war es zu jenem Zeitpunkt am liebsten, wenn sein Team nur 25 Prozent Ballbesitz hatte. Interessanterweise bestritt man aber die Auswärtsspiele mit dieser Kontertaktik weniger erfolgreich als die Partien im eigenen Stadio Angelo Massimino. Dort kamen nicht nur die sauberen Defensivmechanismen besser zur Geltung, – vielleicht auch weil man doch mehr Entlastung über längere Ballbesitzphasen schuf – es war auch diese spezielle Mentalität, die Simeone hervorrief. Er befeuerte das Abgrenzungs- und Außenseiterdenken der Sizilianer. Das galt im Endeffekt nicht nur bei den Partien gegen die Festlanditaliener. Sondern ganz besonders deutlich wurde dies auch beim Inselderby gegen den Erzrivalen aus Palermo. Man schickte die Rosanero mit 4:0 nach Hause. Ein weiteres Highlight war das 2:2 bei Juventus, als Catania in den letzten zehn Minuten noch einen Zwei-Tore-Rückstand in ein Remis verwandeln konnte.

Am Ende der Saison wurde der Nichtabstieg durch aufeinanderfolgende Siege gegen Cagliari, Brescia und die Roma unter Dach und Fach gebracht. Simeone war der gefeierte Mann in Catania, löste jedoch im Einverständnis mit der Klubleitung, wie es zumindest offiziell hieß, seinen Vertrag auf. Während seiner kurzen Amtszeit hatte er nicht nur Bewunderer gewonnen, was allerdings nicht an seiner sehr defensiven Ausrichtung lag, sondern vielmehr an der Art und Weise, wie er das Team vom Mentalen her weiterformte und wie er sich öffentlich beziehungsweise in den Medien präsentierte. Für kurze Zeit erinnerte Catania eher an Fidel Castros kleine Revolutionsarmee, die die verhassten Bonzen von Kuba vertreiben wollte, als an ein professionelles Fußballteam.

„Ich hatte viele großartige Trainer, welche viele Eindrücke bei mir hinterließen. Aber, ich denke, es wäre respektlos gegenüber diesen, wenn ich mit ihnen vergleichen werde. Über allem identifiziere ich mich mit mir selbst, mit dem, was mir meine Augen zeigen und was ich fühle.“

Warmlaufen für Madrid

Am 21. Juni 2011 wurde Simeone einmal mehr Nachfolger von Miguel Ángel Russo. In diesem Fall beim Racing Club de Avellaneda, wo er bereits als Trainer aktiv war. In dieser wiederum ungefähr halbjährigen Amtszeit erreichte er mit dem Traditionsklub aus dem Ballungsraum von Buenos Aires einen starken zweiten Platz im Torneo Apertura. Bedenkt man, dass Racing Club im Halbjahr davor nur den 17. Rang belegte, war mit der Ankunft Simeones ein deutlicher Aufschwung zu erleben.

In dieser Spielzeit setzte er meist auf ein klar asymmetrisches 4-2-3-1. Dabei agierte der Rechtsaußen Gabriel Hauche höher als sein Pendant auf der anderen Seite. Oftmals war dies Luciano Aued, der mehr oder weniger als verkappter Achter fungierte und demnach des Öfteren hinter dem Linksverteidiger oder sogar dem linken Sechser im Spielaufbau absicherte. Mit Lucas Castro als Linksaußen versuchte es Simeone ein wenig symmetrischer. Doch insgesamt war Hauche, der in 16 Spielen allerdings nur fünf Scorerpunkte verbuchte, der Schlüssel- und Zielspieler bei Racing. Folglich wurden in Umschaltsituationen häufig Diagonalbälle direkt in seine Richtung gespielt, während Mittelstürmer Téofilo Gutiérrez für kurzzeitige Flügelüberladungen ebenfalls nach rechts auswich. Jedoch hatten die Gegner in der Primera División diesen Kniff irgendwann durchschaut, sodass viele offensichtliche Diagonalzuspiele abgefangen wurden.

Racing Club 2011

Racing Club 2011

Simeone reagierte beispielsweise mit der Umstellung auf ein 4-3-1-2 in manchen Partien. Dabei schob er Hauche auf die Höhe von Gutiérrez, während der offensivere, rechte Sechser – oftmals Patricio Toranzo – etwas breiter stand. Somit wurden die Passmuster aus dem Mittelfeld heraus verändert. Racing eroberte den Ball nicht mehr vornehmlich halblinks, wo sie durch die tiefere Stellung des Flügelspielers und des linken Sechsers geballter verteidigten. Der bereits erwähnte rechte Sechser schob ansonsten im herkömmlichen 4-3-2-1 immer etwas stärker nach vorn, um die Anbindung zu Hauche auf diese Weise zu erhalten. Doch über diese Raute, die es als Alternativformation gab, konnte Racing den Ball einfacher horizontaler durchs Mittelfeld passen.

Eine weitere Komponente des Offensivspiels unter Simeone waren die fluiden Bewegungsmuster einerseits von Neuner Gutiérrez und andererseits vom schlaksigen Zehner Giovanni Moreno. Insbesondere gegen kompakt verteidigende Teams taten sich beide durch ständige gegenläufige Pendel- oder gemeinsame Ausweichbewegungen hervor. Moreno war zudem ein essentieller Part, wenn Racing eher auf Konterfußball eingestellt war. Denn dann schirmte er meist den Ball nach dem ersten offensiven Umschaltpass ab und leitete das Spielgerät anschließend weiter. Bei längeren Schlägen versuchte sich Gutiérrez zudem an gezielten Ablagen, ohne die Angriffsdynamik zu zerstören. Der Kolumbianer tat sich gerade nach der Hälfte der Meisterschaftsrunde nicht unbedingt als Torjäger hervor, aber er war wichtig für die vorderste Ballzirkulation, ähnlich wie auch heute bei River Plate. Übrigens im Kader von Racing war auch ein 17-jähriger Angreifer namens Luciano Vietto, den Simeone in diesem Sommer von Villareal zu Atlético lotste. Damals kam Vietto gerade aus der Jugend von Simeones Ex-Klub Estudiantes de La Plata zu Racing. Gegen CA Lanús gab ihm Simeone seine ersten Einsatzminuten im argentinischen Oberhaus.

Zur Defensivkonzeption von Simeones Racing-Mannschaft ist eher wenig Spektakuläres zu sagen. La Academia verteidigte normalerweise mit einer sehr verengten Viererkette, wodurch die beiden Flügelspieler häufig zu langen Läufen gezwungen wurden, um die jeweilige Außenbahn zu verteidigen. Oder aber der ballnahe Sechser rückte nach außen und schloss die Lücke, wenn es die gegnerische Dynamik erforderte. Die beiden vordersten Akteure agierten meist eher passiv und gingen selten in aggressives Anlaufen des gegnerischen Spielaufbaus über. Dafür funktionierte gerade das Rückwärtspressing von Gutiérrez in manchen Szenen wunderbar. An sich bot Simeone auch bei dieser Trainerstation kein taktisches Spektakel, aber dafür sehr solides Handwerk. Seine durchaus talentierte Mannschaft errang immerhin den zweiten Platz und musste erst in den letzten vier Partien die ersten beiden Niederlagen einstecken, wobei der Abstand zum Tabellenführer Boca Juniors eh schon zu groß war. Das torlose Remis am 15. Spieltag im La Bombonera ließ auch die kleinsten Meisterschaftshoffnungen verpuffen.

Der Rest ist Geschichte

Kurz vor Heiligabend des Jahres 2011 stellte Atlético Madrid seinen neuen Trainer vor. Simeone ersetzte Gregorio Manzano, nachdem dieser im Pokal gegen den Drittligisten Albacete Balompié verloren hatte. Die Saison endete mit dem ersten großen Titel in Form des Europa-League-Siegs gegen Athletic Club in Bukarest. Es sollte nicht der letzte Pokal bleiben.

Atlético Madrid - Athletic Club 3:0, Europa League, Finale, 9.5.2012, Arena Națională

Atlético Madrid – Athletic Club 3:0, Europa League, Finale, 9.5.2012, Arena Națională

Diego Simeone ist ein gutes Beispiel für einen Trainer, der keineswegs ein Dogma in strategischen und taktischen Fragen verfolgt. Seine bisherigen Stationen waren meist von großem Pragmatismus geprägt. Sicherlich tauchten einzelne Facetten immer wieder auf: Physisch starke Zielstürmer, variable Sechser und diszipliniertes Kettenspiel. Doch rein formativ variierte er in vielen Fällen. Phasenweise vertraute Simeone auf einen spielstarken Trequartista. Oder aber er ließ ein sehr variables 4-4-2 mit diagonalen und vorstoßenden Bewegungen einstudieren. Auch bei Atlético setzte er nicht direkt von Anfang an auf das mittlerweile bekannte 4-4-2 mit enger Mittelfeldkette und breiten Außenverteidigern. Beispielsweise spielte Diego als Zehner zu Beginn von Simeones Amtszeit noch eine große Rolle. Bei seiner Rückkehr in der Meisterschaftssaison konnte sich der Brasilianer als einrückender Flügelspieler nicht mehr an das kollektivtaktisch ausgefeilte Gebilde anpassen, wenngleich verkappte Achter auf Außen wie aktuell Koke und Saúl Ñíguez in den letzten Jahren zu einer wichtigen Komponente von Simeones taktischem Korsett gehörten.

Dass er trotzdem über die Jahre hinweg vor allem auf das zunächst simpel wirkende 4-4-2 zurückgriff und immer noch darauf zurückgreift, hat sicherlich auch etwas mit der südamerikanischen und argentinischen Spielkultur in den letzten Jahrzehnten zu tun, wo eher einfache Formationen erst durch bestimmte Rollenverteilungen, Asymmetrien und Rochaden mit Leben gefüllt werden. Diese Tüfteleien sind es, die Cholo Simeone wie nur wenige andere Trainer auf der Welt beherrscht.

„Ich empfinde ihn als obsessiv. Ein unermüdlicher Schüler des Fußballs im Sinne von Hiddink, taktisch offensiv im Stile eines Bielsa, aber meist extrem intelligent.“ (Pablo Gerchunoff, Wirtschaftshistoriker und Universitätsprofessor)


Teil 1 des Porträts | Teil 2 des Porträts | Teamporträt zu Atlético 2013/14 | Analyse zu Atléticos Hinrunde 2014/15

Türchen 23: Arrigo Sacchi

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Aus einem provinziellen Querkopf wird eines der meist beachtetsten Masterminds des Weltfußballs. Arrigo Sacchi steht wie nur wenige andere Trainer für die Evolution des Spiels. Und er steht wie nur wenige andere im Sport für Paradigmenwechsel.

Seine Karriere verlief nicht wie von so vielen, die zunächst auf dem Feld Erfolge feiern und später die Transformation zum Fußballlehrer schaffen. Sacchi ist der Schuhverkäufer aus der italienischen Provinz, der sich schon in der Kindheit eher in der Rolle des Schachspielers statt in der einer Schachfigur sieht. Seine Berufswünsche: Dirigent, Regisseur oder Fußballtrainer.

„Ich hatte einen guten Lehrer, der mir erklärte, dass es der Trainer ist, der einer Mannschaft ihr Spiel gibt, so wie ein Autor, der eine Idee hat und daraus eine Geschichte schreibt“, rekapituliert Sacchi später. „Der Gedanke, elf Menschen beizubringen, sich wie eine einzige Person zu bewegen, macht mir immer noch Gänsehaut.“

Er selbst schnürt über ein Jahrzehnt lang die Stiefel für den Fusignano CF aus seiner Heimatstadt, muss aber in der Schuhfabrik seines Vaters für den wirtschaftlichen Erfolg der Familie schuften. Während dieser Zeit trägt Sacchi keine Scheuklappen. Er beobachtet mit offenen Augen die Großen des Sports. Insbesondere Ajax und die niederländische Nationalmannschaft – die Vorreiter des Totaalvoetbal – begeistern den Jungen aus der Provinz Ravenna.

Ihm gefallen „immer schon Mannschaften, die ein Spiel dominieren, den Ball besitzen wollen und Emotionen bei den Zuschauern wecken.“ Einzelspieler sind dann nicht mehr wichtig. Italienische Teams dominieren gerade in den 1960er Jahren, langweilen aber gelegentlich das Publikum – unter ihnen auch Sacchi: „Für mich waren nicht so sehr die Erfolge wichtig, als vielmehr die Art, wie diese zustande kamen.“

Geistig ist Sacchi bereits früh in seiner Karriere auf einem absoluten Spitzenniveau. In der Theorie weiß er, wie ein modernes – und damit pressingstarkes sowie ballbesitzdominantes – System auszusehen hat. Ihm fehlen jedoch das Renommee und auch das Selbstbewusstsein. In den Niederungen des italienischen Fußballs will keiner seine Spinnereien hören.

Sacchis Trainerkarriere beginnt in seiner Heimat. Ganz unspektakulär. Mit 26 hängt er seine Schuhe an den Nagel und übernimmt einen Posten bei Baracca Lugo. Es ist für ihn eine „Lehrphase“. Denn dort respektiert ihn niemand. „Mein Torhüter war 29 und mein Stürmer 32. Ich musste sie für mich gewinnen“, analysiert Sacchi rückblickend. Sein damaliges Ich bezeichnet er als „fleißigen Arbeiter“. Wenig deutet auf seine Genialität hin. Viel jedoch auf seine Besessenheit. Er lässt seine Spieler täglich antanzen. Zuvor undenkbar.

Sacchi in den 1980er Jahren. Quelle hier.

Sacchi in den 1980er Jahren. Quelle hier.

Stationen in den benachbarten Cesena und Rimini bedeuten: Juniorenfußball oder Regionalliga. Das soll sich zunächst auch nicht ändern, als er die Jungtalente der Fiorentina betreut. Seine Zonendeckung dominiert die engen Mann-zu-Mann-Schemen der kleinen Klassen. Es sind aber seine Leidenschaft und Hingabe, die andere Vereine aufhorchen lassen.

1985 folgt der Schritt zum S.S.D. Parma. Sacchi reift, obgleich er immer noch in den Niederungen trainiert. Sein Konzept der Universalität hebt die Parmigiani schnellstens in eine exponierte Stellung innerhalb der Serie C1. Sacchis Faible für den totalen, den niederländischen Fußball findet nun Anklang. Seine Spieler sollen sich auf diversen Positionen wohl fühlen. Er möchte ihre Fähigkeitenpalette erweitern.

Bereits in Fiorentinas Jugend und mit der Amateurmannschaft Riminis lässt er seine Kicker auf dem Feld rotieren. Nur ein kompletter Spieler ist ein Sacchi-Spieler.

Und er hat mittlerweile das Selbstbewusstsein, um gestandene Routiniers von seinen Ideen zu überzeugen. Sie müssen härter arbeiten. Für ihn müssen sie geistig flexibel sein. Sacchis Pressingsystem verlangt viel. Die Linien bleiben ständig kompakt. Es braucht Absicherungen zur Restfeldverteidigung. Im Konter- und Umschaltspiel müssen fünf Meter pro Sekunde zurückgelegt werden. In Ballbesitz sind alle konstant in Bewegung.

Soweit so gut. Aber man beachte: Mitte des Jahrzehnts steckt er in der Serie C1. Doch schon vier Jahre später gewinnt Sacchi den European Cup. Wie kommt es zum kometenhaften Aufstieg?

Eine wichtige Schlüsselfigur in Sacchis Karriere spielt der geborene Bösewicht Silvio Berlusconi. Der Medienunternehmer wird 1986 Besitzer des A.C. Milan. Damals noch mit Nils Liedholm an der Seitenlinie. Der Schwede befindet sich in seiner zweiten Amtszeit bei den Rossoneri, wird aber bald schon von Sacchi ersetzt.

Dieser erinnert sich an die Vorkommnisse jener Tage: „Wir waren mit dem AC Parma gerade in die zweite Liga aufgestiegen und hatten den AC Mailand überraschend zweimal im Pokal mit 1:0 besiegt. Nach unserem ersten Sieg sagte Silvio Berlusconi zu mir, er werde meinen Weg aufmerksam verfolgen. Nach dem zweiten Sieg gab er mir einen Vertrag.“

Mit einem Schlag trainiert Sacchi nicht mehr die Marco Ferraris und Walter Dondonis dieser Welt. Seine Spieler tragen nun klangvolle Namen wie Franco Baresi oder Marco van Basten. Die Skepsis ist anfangs groß. Doch mit Berlusconis Geldbeutel und Sacchis Gehirn werden die Rossoneri zu Unsterblichen.

Steve Amoia von World Football Commantaries beschreibt die Beziehung der beiden wie folgt: „Ähnlich wie Sir Bobby Robson und Louis van Gaal für den jungen, weithin unbekannten José Mourinho war Berlusconi ein Förderer Sacchis. Er erkannte sein Talent und setzte auf ‚Mister Nobody‘, um Sacchi zu zitieren. Das Resultat waren acht Pokale in vier spektakulären Jahren.“

Gli Immortali Teil 1: Der schnelle Scudetto

„Er war sehr hart. Das Training war manchmal etwas verrückt“, erinnert sich Paolo Maldini, der mit Sacchi seinen Aufstieg im Profifußball erlebt. „Er ließ dich dieselben Dinge ständig wiederholen – vor allem uns Verteidiger. Jeden Tag. Aber wenn Baresi, Costacurta, Tassotti und ich uns heute treffen, dann können wir immer noch wie damals spielen. Es bleibt im Kopf. Das war eines unserer Erfolgsrezepte.“

Milan 1987/1988

Milan 1987/1988

Sacchi führt bei den Rossoneri eine heute geläufige Trainingsform ein: so genannte Trockenübungen. Seine Spieler müssen als Kollektiv, aber ohne Ball, ihre Formation halten. Und gegebenenfalls auf den Gegner reagieren.

Einer Erzählung zufolge verstecken sich hin und wieder Spione in den Gebüschen. Doch sie können Sacchis Training keine Erkenntnisse abgewinnen. Es fehle schließlich der Ball. Wahrscheinlich ist dieser Amateur verrückt geworden. Sacchi lacht zuletzt.

1987/1988, in seiner ersten Saison, gewinnt er den Scudetto und verweist Vorjahressieger Napoli auf Rang zwei. Die Rossoneri bestechen durch eine derart raumintelligente Spielweise, dass viele Gegner schlichtweg überfordert sind, mit dem was ihnen präsentiert wird.

Wichtiger Schlüsselspieler ist Carlo Ancelotti. Im System Sacchis agiert er zunächst als zentrale Figur im Mittelfeld. Der damals 28-Jährige muss größere Zonen bewachen, erhält aber die Unterstützung von einem ganzen Quartett an Spielern. Insbesondere Baresi schiebt häufig aus der Abwehr heraus. Aber auch Freigeist Ruud Gullit spielt einen essentiellen Part. Obwohl der Niederländer zuweilen als nomineller Außenstürmer aufgeboten wird, zeichnet ihn ein diagonales Rückzugsverhalten aus, wodurch er die Spitze einer situativen Raute ausfüllt.

Interessanterweise kommandiert Sacchi seine beiden eigentlichen Flügelspieler zu drastischer Defensivarbeit ab. Die einrückenden, raumverdichtenden Bewegungen um Ancelotti herum kreieren einen engen Mittelfeldblock.

2015-12-23_AC-Milan_Defensiv_1987-88

Der Linksverteidiger rückt auf den Ballführenden heraus und nutzt seinen Deckungsschatten, um das Zuspiel auf den Flügelstürmer zu verhindern. Der Nebenmann blockiert außerdem den inneren Passweg.

Der ballnah vorrückende Außenverteidiger stopft unterdessen den Freiraum an der potenziell gefährdeten Außenseite des Blocks.

Sacchis Verteidiger operieren vielfach mit Elementen wie Deckungsschatten und Passwegbedrohung. Für das Auge des italienischen Beobachters mag ein aggressiv vorstoßender Außenverteidiger wie Harakiri aussehen, ist aber in Wirklichkeit das beste Mittel, um schnelle Flügelangriffe zu verhindern.

Sie missachten Manndeckungsschemen und kleben folglich an keinem Stürmer. Passwege und Bewegungszonen werden höher gewichtet als Eins-gegen-Eins-Duelle.

Mit 43 Toren in der Serie A erzielen die Rossoneri keine beachtliche Anzahl an Toren. Marco van Basten kämpft mit Verletzungen. Pietro Paolo Virdis erzielt als bester Torjäger immerhin elf Treffer.

Daniele Massaro findet sich im System von Sacchi nur schwerlich zurecht. Beide führen vermehrt hitzige Diskussionen. Massaro bleibt auf der Strecke.

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Einfacher Verschiebemechanismus infolge von Ancelottis seitlicher Rückfallbewegung.

Die Bewegungen der Angreifer sind in dieser Spielzeit vor allem Beiwerk. Sie initiieren nichts, sondern reagieren nur. Seitlich ausweichende Läufe fungieren lediglich als Mittel, um die Breite im letzten Spielfelddrittel zu besetzen, sofern die nominellen Außenspieler diagonale Wege nach innen gehen. Oder Milans Angreifer wollen sich lediglich der gegnerischen Manndeckung entziehen.

Im Spielaufbau ist einmal mehr Ancelotti der Fixpunkt, aber im selben Moment auch der Gestalter. Seine herauskippenden Initialbewegungen fordern die Mitspieler zum Handeln auf.

Mechanisch präzise – aber doch flüssig im Kollektiv – verschieben Gullit und Co., sodass sich automatisch Dreiecke ergeben. Die fluide, makrotaktische Ausrichtung in Kombination mit dem intelligent mikrotaktischen Einzelspielerverhalten generiert eine Ballzirkulation ohne abruptes Abstoppen.

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Gullits diagonale Bewegungen erzeugen ein Dreieck mit dem herausgekippten Ancelotti. Baresi füllt die Lücke.

Falls das Milan der Saison 1987/1988 einen Fehler hat, dann ist es die direkte Zweikampfführung im defensiven Umschalten. Baresi zeigt große Gegenpressingpräsenz im Mittelfeld. Über die Flügel hingegen sind die Lombarden hin und wieder anfällig.

Sie gewinnen den Scudetto, scheiden aber im UEFA Cup bereits in der zweiten Runde gegen den späteren Finalisten RCD Español aus. Eine 0:2-Niederlage im Hinspiel in Lecce verkommt zum Tiefpunkt der Saison.

Die Presse schreibt bereits von einer bevorstehenden Entlassung. Aber Berlusconi, Sacchis Förderer, taucht umgehend auf dem Trainingsgelände Milanello auf.

„Diesen Trainer habe ich gewählt und er genießt mein absolutes Vertrauen. Wer seinen Ideen folgt, kann bleiben, alle anderen müssen gehen“, macht der Präsident den Spielern deutlich.

Gli Immortali Teil 2: Der erste Henkelpott

Im zweiten Jahr der Sacchi’schen Amtszeit drehen sie das Momentum auf internationalem Parkett. Während in der heimischen Serie A lediglich ein dritter Platz sowie ein zwölf Punkte großer Abstand auf Stadtrivale Internazionale zu Buche stehen, triumphieren die Rossoneri im European Cup.

Milan 1988/1989

Milan 1988/1989

Sie liefern sich große Schlachten mit Crvena Zvezda und Werder Bremen. Sie zerlegen Real Madrid im Halbfinale in alle Einzelteile. Und im Endspiel erlebt Steaua București sein rot-schwarzes Wunder. Keiner schmunzelt mehr über Sacchi.

Der Kader bleibt nahezu unverändert. Eine Ergänzung ist zugleich das letzte Bausteinchen in Sacchis Maschinerie, das zuvor fehlt. Frank Rijkaard kommt von Sporting, nachdem er sich bei Ajax mit Trainer Johan Cruijff überwirft. Bei den Portugiesen kann er aufgrund eines zu spät stattgefundenen Transfers nicht antreten. Die Karriere des Niederländers befindet sich in der Schwebe. Da kommt der Anruf Sacchis zur rechten Zeit.

Der Maestro stellt nun konsequent auf 4-4-1-1 um. Van Basten kommt wieder zu Kräften und schießt Tor um Tor. Gullit bleibt Freigeist, findet sich aber in einer verbindenden Rolle wieder. Rijkaard sorgt an der Seite Ancelottis für physische Imposanz und strategisches Denken. Die Flügelspieler erhalten bei Ballbesitz größere Freiheiten. Erst jetzt sind sie wirklich die Unsterblichen.

Rijkaard ändert die gesamte Balance der Mailänder Mannschaft. Muss Ancelotti vorher noch an seine Grenzen gehen, um die horizontal weiträumige Position im zentralen Mittelfeld auszufüllen, ist es nun Rijkaard der zum zentralen Raumblocker wird. Baresi startet häufiger von der halblinken Seite, weil er nun eher das Loch neben Rijkaard füllen muss.

Zudem offeriert der niederländische Neuzugang weitläufige Box-to-Box-Bewegungen und damit eine neue physische Komponente im Angriffsspiel. Die breitere Formation ermöglicht Flankenangriffe. Rijkaards sowie Van Bastens und Gullits Präsenz im Strafraum des Gegners dienen als passendes Werkzeug, um einfache Tore auf die Anzeigetafel zu bringen.

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Ancelotti als Ballverteiler an der Seitenauslinie. Rijkaard besetzt die große Zone im Mittelfeld, während aus der Innenverteidigung ein Spieler nachschiebt.

Ancelotti rückt unterdessen in eine verstärkt abseitige Rolle. Im Dreieck mit Donadoni und dem jungen Maldini gibt Carletto zunehmend den Spielgestalter an der Seitenlinie. In der ersten Aufbauphase postiert er sich sehr breit und empfängt fernab des gegnerischen Zugriffs den Ball. Anschließend bieten ihm Donadoni eine diagonal-offensive, Maldini eine vorderlaufend-dynamische und Rijkaard eine horizontal-statische Anspieloption.

Infolge dieser kleinen Rochaden und mit entsprechenden gruppentaktischen Elementen sind die Rossoneri für die Manndeckungsfetischisten der Fußballwelt nur schwer zu greifen. Es befreien sich nicht nur einzelne Spieler als autonome Individuen. Sie lösen die Fesseln der Bewachung in einem organisch, durchstrukturierten Prozess. Nicht jeden Mechanismus zeichnet Sacchi im Vorhinein auf die Taktiktafel. Vieles entsteht in den Köpfen seiner Spieler. Sie erlangen ein neues Verständnis für Raumstrukturen.

Wie beschreibt es Sacchi selbst? „Wir trainierten, um die Bewegungen aller elf Spieler zu synchronisieren. Der Grundgedanke war, ein Bewusstsein für die Zusammenhänge dieses Spiels zu schaffen. Alle elf Spieler sollten immer in einer aktiven Position sein, mit oder ohne Ball.“

Ebenso funktionieren die einfachen Abläufe. Rijkaard bietet sich für Vertikalpässe zwischen der zweiten und dritten Linie des Gegners an. Mauro Tassotti und Angelo Colombo doppeln die rechte Seite. Maldini zeigt intelligente Diagonalbewegungen mit und gegen den Ball. Entscheidungsfindungen wie auch reale Bewegungen des Jungtalents sind äußerst explosiv.

Die 4-4-2-Pressingformation ermöglicht derweil neue Variabilität, um auf etwaige tiefe Positionierungen des gegnerischen Spielmachers oder das schnelle Herausspielen auf einen Außenverteidiger zu reagieren.

Van Basten und Gullit verhalten sich als vorderste Linie sehr diszipliniert. Sie belauern den zentralen Passweg, bleiben mit kurzen Schulterblicken aufmerksam und wissen folglich, wann und wohin sich ein Gegenspieler in ihrem Rücken bewegt. Jedoch lassen sie sich nicht dazu verleiten, Verfolgungsläufe zu starten. Denn eben jene würden die Statik des Sacchi’schen Pressings arg gefährden.

2015-12-23_AC-Milan_Pressing_1988-89

Herausrücken Ancelottis. Donadoni belauert den Flügelpassweg. Im Zentralen Mittelfeld wird horizontal nachgeschoben. Der Linksverteidiger kann gegebenenfalls im Halbraum vorstoßen.

Vielmehr sind sie sich im Klaren darüber, dass bei erfolgreichem Initialpass des Gegners, ein Mitspieler aus dem Mittelfeld herausrücken wird. Zudem sind die beiden niederländischen Offensiven in entsprechende Abläufe zum Attackieren des ballempfangenden Außenverteidigers eingebunden. Sobald das gegnerische Team nach außen spielt, stößt der jeweilige ballnahe Zentralspieler nach vorn und nimmt dem Außenverteidiger die Sicht.

Milan steht nun im 4-3-3. Der verbliebene Sechser sowie die beiden Flügelakteure ziehen sich langsam mit Tendenz zur ballnahen Seite zusammen. Der lineare Passweg auf dem aktiven Flügel wird belauert. Gegebenenfalls kann der jeweilige Außenverteidiger in den Halbraum vorstoßen und ein kurzzeitiges 3-4-3 erzeugen. Die Lombarden zerstören jede erdenkliche Möglichkeiten für den Gegner, um Raumgewinn zu verbuchen. Sacchi hat eine perfekte Pressingmaschine erschaffen.

Gli Immortali Teil 3: Die Titelverteidigung und der Abschied

In der darauffolgenden Saison gelingt ein Kunststück, das bis heute keine Mannschaft mehr wiederholen konnte. Milan verteidigt den European Cup.

In der Serie A müssen sie sich mit Rang zwei hinter Maradonas Napoli begnügen. Der Kader bleibt weitestgehend unverändert. Sacchi ist zufrieden mit dem, was er hat.

Auf internationaler Bühne muss sich erneut Real Madrid geschlagen geben. Im Halbfinale kommt es zum mit Spannung erwarteten Duell gegen Bayern München. Nach einem 1:0 im San Siro gleicht Thomas Strunz im Rückspiel nach rund einer Stunde aus. Es geht in die Verlängerung. Ersatzstürmer Stefano Borgonovo erzielt das wichtige Auswärtstor. Den Bayern gelingt nur noch ein weiterer Treffer, sodass Milan im Wiener Praterstadion den Titel durch ein knappes 1:0 gegen Benfica verteidigen kann.

Milan 1989/1990

Milan 1989/1990

Den Zenit scheint Sacchis Mannschaft langsam überschritten zu haben. Die mangelnde Auffrischung des Kaders ist ein Faktor. Zum anderen laugt Sacchis Training bis zum letzten Tropfen Blut aus. Auch der Maestro bemerkt Erscheinungen des Lagerkollers.

„Ich gab alles und forderte auch alles. Nach dem dritten Jahr war ich ausgelaugt. Die italienische Fußballszene sah in mir einen Umstürzler. Ich musste gegen alles kämpfen, auch gegen weite Teile der Presse. Das war ein großer Druck“, gesteht Sacchi selbst ein. „Ich habe 16 Stunden am Tag gearbeitet und nur an Fußball gedacht. Wie ein Besessener. Ich war überzeugt, dass man immer noch mehr und alles besser machen konnte.“

Dies gelingt dem notorischen Sonnenbrillenträger jedoch nur bedingt. Die Spielzeit 1989/1990 wird einerseits von besser austarierten Grundelementen, aber andererseits von einer größeren Gleichförmigkeit geprägt.

In der zweiten Pressingphase erfolgt die Trichterbildung nun in mechanischer Präzision. Die meisten Akteure befinden sich im dritten Jahr unter der Aufsicht Sacchis. Sie atmen, essen und schlafen mittlerweile seine Art von Pressingfußball.

Auch die Defensivvorstöße der Außenverteidiger sind perfekt abgesichert. Beide Sechser lassen sich genau zu jenem Punkt zurückfallen, an dem kein diagonaler Schnittstellenpass, sobald der Außenverteidiger seine Position verlässt, mehr möglich ist.

Die erste Pressingphase verliert jedoch ihr gewisses Etwas. Nun stürmen die Flügelspieler frontal auf die Außenverteidiger des Gegners zu. Diagonalität und Asymmetrie lassen in Gänze nach. Individuelle Fehler sowie leichte Abstimmungsschwierigkeiten in der Abwehrkette nehmen derweil zu. Der seitliche Ballfokus wird hin und wieder zur Falle. Gefährliche Topteams können mit schnellen Horizontalverlagerungen eben jene lokale Kompaktheit Milans für sich nutzen.

Aber: Die Rossoneri bleiben eine, wenn nicht sogar die beste Defensivmannschaft weltweit. Kleine Aussetzer wie gegen Bayern München im Halbfinale des Europapokals oder gegen Juventus im Finale der Coppa Italia wären verkraftbar, würde nicht die Offensivmaschinerie der Lombarden zunehmend ins Stocken geraten.

Ancelotti fällt phasenweise aus. Der Druck lastet auf den breiten Schultern Rijkaards. Der Niederländer ist überall zu finden. Sieht man ihn gerade noch abgekippt zwischen den beiden Innenverteidigern, ist er plötzlich im offensiven Halbraum und bedient mit einem geraden Schnittstellenzuspiel den nächstbesten Flügelangreifer. Doch allein kann er die nachlassenden Verbindungen im Mittelfeld nicht kitten.

Baresi greift immer häufiger zum langen Ball. Der Gegenpressingzugriff im Mittelfeld wird schwächer. Die Rossoneri wirken ihrerseits anfällig für frühes Pressing und Zonendeckung im zweiten Drittel. Sacchis Revolution scheint ihn langsam aufzufressen.

Rückblickend sagt er: „Drei Mannschaften haben den Fußball vorangebracht: Ajax Amsterdam, der AC Mailand und heute der FC Barcelona. Alle drei sind festgelegt auf Ballbesitz und schnelle Rückeroberung des Balles.“

Diese Dominanz geht zum Ende seiner Amtszeit verloren. Die Saison 1989/1990 schließt Milan noch erfolgreich ab. In der darauffolgenden Spielzeit sind die Risse zwischen Trainer und Mannschaft nicht mehr zu übersehen. Sacchis fordernde Art hinterlässt ihre Spuren. Der ausbleibende Erfolg in der Serie A ruft Kritiker auf den Plan.

Das eher unrühmliche Ende ist Milans Ausscheiden gegen Olympique Marseille im European Cup, als sich die Lombarden nach einem Stromausfall im Rückspiel weigern, die Partie fortzusetzen, und daraufhin aus dem Wettbewerb ausgeschlossen werden.

Sacchi selbst gilt allerdings schon lange als Trainergenie. In Italien, also in dem Land, das er aus dem Dornröschenschlaf gerissen hat, wird er trotz seiner eigenwilligen Art gefeiert. Die Medien und Tifosi nennen ihn den „Propheten von Fusignano“.

ESPNs John Brewin fasst es so zusammen: „Auf dem Milanello steht eine Sporthalle, wo das physisch anspruchsvolle Pressingspiel den Feinschliff verpasst bekam. Mittlerweile unbenutzt steht es als Monument für Sacchi. Der italienische Fußball war ängstlich defensiv – bis Sacchi ihn ergriff.“

Gli Azzurri: Die Kulturrevolution

Die Nationalmannschaft steckt Anfang der 1990er Jahre in einer gehörigen Krise. Die Weltmeisterschaft im eigenen Land wird nicht gewonnen. Für die anstehende EURO ist die Qualifikation quasi abgeschrieben.

Im Hinblick auf die kommende WM greift der Verband deshalb auf die Geheimwaffe des heimischen Fußballs zurück. Arrigo Sacchi ersetzt 1991 den gescheiterten Cesenati Azeglio Vicini. Bei seinem Debüt gegen Norwegen reicht es nur zu einem Remis. Die EURO 1992 ist damit endgültig verloren. Das Ziel ist jedoch der Wiederaufbau der Squadra Azzurra.

Bei diesem Vorhaben setzt er defensiv auf die ihm bekannte Achse bestehend aus Maldini, Costacurta und Baresi. Offensiv ist der 1993er Weltfußballer Roberto Baggio der Fixpunkt. Gewiss vermisst Sacchi die Qualitäten seiner Niederländer. Aber mit Baggio sowie den Rossoneri Donadoni und Massaro kann er an einem stimmigen System arbeiten. Ein System, das – wenig überraschend – jenem vom Milan der 1980er stark ähnelt.

Formationsvarianten der

Formationsvarianten der Squadra Azzurra 1994

Sacchi muss sich allerdings der Kritik erwehren, wonach er Spieler seines ehemaligen Klubs, mit dem ihm immerhin der internationale Durchbruch gelingt, bevorzugt. Inters Walter Zenga und Giuseppe Bergomi, Sampdorias Roberto Mancini sowie Juves Gianluca Vialli werden für die WM nicht nominiert. Mit jedem Einzelnen liegt Sacchi im Streit.

Eine andere Lesart: Er nominiert nur Spieler, denen er hundertprozentig vertraut. Guten Gewissens muss er davon ausgehen, dass sie in jeder Situation die Intensität im Pressing hochhalten. Die Gier nach dem Ball, der Wille zur Dominanz – sie dürfen nicht abflauen.

Der Einzug ins Finale gegen Brasilien untermauert schlussendlich den Status Sacchis und rechtfertigt in der Öffentlichkeit seine Methoden.

Zudem stellt er unter Beweis, dass er mehr kann, als seine Spieler durch die wöchentliche Knochenmühle zu schicken. Mit der Squadra kann er nur sehr selten arbeiten. Die Nominierten unterliegen den Einflüssen ihrer Vereinstrainer. Umso stärker muss Sacchi seinen Stil ändern. Er kann keine Dogmen lehren. Er muss – mehr als je zuvor – als verständnisvoller Lehrer auftreten.

Die Trockenübungen und Pressingeinheiten aus seiner Mailänder Zeit kann er allenfalls in der unmittelbaren WM-Vorbereitung unterbringen. Bis dahin bereitet sich Sacchi akribisch vor. Er durchdenkt über zwei Jahre hinweg, jedwede Formationsmöglichkeit. Er beobachtet penibel die einzelnen Spielertypen, die in Frage kommen. Sacchi feilt bis ins letzte Detail an den Übungen, die dann im Sommer 1994 Anwendung finden.

2015-12-23_Italien_Skizze-Positionen

Von Sacchi skizzierte 4-3-3-Grundordnung sowie die dazugehörigen Aufrückbewegungen

Die Weltmeisterschaft ist von ihm und seinen Assistenten – darunter sein ehemaliger Spielgestalter Carlo Ancelotti – generalstabsmäßig durchgeplant. Die Weltmeisterschaft droht zum Debakel zu verkommen. Die Italiener verlieren ihr Auftaktspiel in East Rutherford gegen Irland mit 0:1. Es folgen ein knapper Sieg gegen Norwegen sowie ein Remis gegen Mexiko. Als einer der besten Gruppendritten kann Italien am Achtelfinale teilnehmen.

Dort schlagen sie in einer dramatischen Partie Nigeria in der Verlängerung. Die Entscheidung bringt Roberto Baggio – per Elfmeter. Zwei weitere 2:1-Siege gegen Spanien und Bulgarien bescheren den Finaleinzug. Im trägen Endspiel von Pasadena muss am Ende die Entscheidung im Elfmeterschießen gesucht werden.

Ministerpräsident Berlusconi verspricht Sacchi einen Kabinettsposten, sollte er den Weltpokal nach Hause bringen. Später scherzt Sacchi: Baresi, Massaro und Roberto Baggio verbauen ihm die politische Karriere. Das brasilianische Team um Dunga und Romário triumphiert zum vierten Mal bei einer WM.

Was zeichnet die Italiener im Jahr 1994 aus? Sacchis präferierte 4-4-2-Strukturen sind in Ansätzen erkennbar, aber fluider als bei Milan. Tendenziell agiert das Team aus einem 4-1-2-3 heraus.

Sacchi bindet alle zehn Feldspieler in das Liniensystem ein. Lediglich Roberto Baggio erhält gewisse Freiheiten, die er zu nutzen weiß. Der Starstürmer lässt sich gelegentlich in den Zwischenlinienraum fallen und nimmt zwischen den gegnerischen Manndeckern das Spielgerät auf. Anschließend verzögert Baggio kurz, um entweder seinen Sturmpartner oder einen vorstoßenden Außenstürmer per weiträumigen Steilpass zu bedienen.

2015-12-23_Italien_Skizze-Aufbau_Tiefenpässe

Sobald Baggio im Mittelfeld das Kommando übernimmt, ähnelt die Ballverteilung aus dem Zentrum diesen beiden Skizzen von Sacchi. Auffällig sind insbesondere die diagonalen Läufe der Flügelspieler, die in dieser Form die äußeren Deckungsspieler abschütteln sollen. Andererseits wird auch deutlich, dass der ballnahe Achter – häufig sehen Sacchis Skizzen eine Eröffnung über die rechte Seite vor – als kurze Anspielstation etwas tiefer positioniert ist.

Die Bewegungen Baggios erzeugen aufgeweichte Formationsschemen. Er pendelt meist zwischen einem Trequartista und der dritten Zentralposition im Mittelfeld. In der zweiten Welle stößt er des Öfteren bis hinter die Abwehrlinie vor und bietet sich somit als nächste zentrale Tiefenoption an.

Hin und wieder tauscht Baggio seine Position mit Massaro oder Giuseppe Signori. Ein Überraschungseffekt bleibt dadurch als Ass im Ärmel. Außerdem erzeugt Sacchi mit diesen Verschiebungen automatisch Dynamik innerhalb der Formation und folglich beim Eindringen in die gegnerische Hälfte.

Hohe Temperaturen verlangen der italienischen Mannschaft viel ab. Wenngleich Sacchi erneut ein hohes Angriffspressing als erste Phase in der Arbeit gegen den Ball einplant, muss er vereinzelt auf das Pressing Ultraoffensivo verzichten.

2015-12-23_Italien_Skizze-Pressing

So soll das Pressing Ultraoffensivo aus einem 4-1-4-1 heraus aussehen. Das Herausrücken des ballnahen Flügelspielers erzeugt eine Druckwelle, die durch stetiges Nachschieben aus dem Mittelfeld heraus aufrechterhalten wird.

Dann greifen die Italiener auf die altbewährten 4-2-4- oder 2-4-4-Staffelungen zurück, womit sie in einem orthodoxen Kettenspiel variable Zugriffsmöglichkeiten haben und dementsprechend Verformungen reibungslos ablaufen können.

2015-12-23_Italien_Skizze-Pressing-tief

Tiefer 4-3-Block

Im Zuge von stärkeren Rückzugsbewegungen bilden sich als Alternative zu zwei Viererketten teilweise 4-3-Staffelungen. Das liegt darin begründet, dass die Italiener bei einigen Partien auf die Tempostärke ihrer Außenspieler setzen. Sie versuchen im Zentrum – die Abwehrformation darf nur in 40 Meter Breite stehen – einen Ballgewinn zu erzwingen und ihre enge Verbindung für eine schnelle Befreiungskombination zu nutzen.

Italiens Kombinationsspiel stellt bisweilen eine unterschätzte Komponente bei dieser WM dar. Die technisch versierten Zentralakteure, die wie etwa Demetrio Albertini ein herausragendes Auge für kurze und mittellange Passvarianten haben, kommen über einstudierte Dreiecksbildung und präzise Ablagen zu stetigem Raumgewinn. Und sie halten zudem den Spielrhythmus hoch. Bedächtiges Vorrücken liegt dieser italienischen Mannschaft nicht.

2015-12-23_Italien_Skizze-Kombination

Angedachte Kombination: Der Linksverteidiger eröffnet in dieser Variante den Angriff. Sein Vordermann bietet sich nach einer kurzen Curl-Bewegung für den Prallpass an. Unterdessen lässt sich der linke Offensivakteur zurückfallen und leitet auf den vor ihm postierten Angreifer weiter. Die Zick-Zack-Muster involvieren nun den zentralen Sechser, der den Angriff aus der Verengung lösen soll. Mittlerweile hat sein eigentlicher Nebenmann bereits den Weg über die Außenbahn gewählt, wodurch ein etwaiger Trigger dafür sorgt, dass der Außenstürmer entweder in den vorderen Zwischenlinienraum oder hinter die Abwehrlinie sprintet.

Sacchis Team hält sich im Turnier selten schadlos. Mehrfach kassieren sie einen Treffer. Deshalb sieht sich die Offensive umso mehr gefordert, die gegnerische Deckung mit schnellen Doppelpässen und Ablagen auszutricksen.

In der Verteidigung ist Sacchi zum ständigen Umbau gezwungen. Routinier Baresi begeht in der Auftaktpartie gegen Irland einen Fehler, bleibt aber trotzdem der Libero-hafte Fels in der Brandung. Er verletzt sich im zweiten Spiel am Meniskus. Als Konsequenz muss Sacchi seinen Übergangskapitän Maldini ins Zentrum ziehen. Auf beiden Außenpositionen sind deshalb offensivere Spielertypen aufgestellt, wodurch etwaige Situativdreierketten zur absoluten Seltenheit werden.

Baresi kehrt rechtzeitig zum Endspiel gegen Brasilien zurück. Die Abwehr Italiens steht über 120 Minuten nahezu durchweg stabil. Sacchi zaubert eine Variante des 4-4-2-Pressings aus dem Hut. Die drei jeweils ballnahen Mittelfeldspieler schieben extrem zum Flügel und bilden eine verkürzte Kette. Der ballferne Flügelspieler hingegen ordnet sich entweder in der vorderen oder in der letzten Linie ein.

Lokal verdichten die Azzurri das Spiel sehr stark, bleiben aber ansonsten locker gestaffelt. Das Resultat: Sacchis Team wirkt gegen Brasiliens schnelle Seitenwechsel stabil. Sie müssen im Verschieben nicht unmittelbar viele Meter zurücklegen, um Zugriff zu generieren. Vielmehr stopfen die Akteure, die von der anderen Seite nachschieben, etwaige Löcher oder bleiben raumdeckend im Zentrum.

Obwohl Italiens Verteidiger im Eins-gegen-Eins nicht immer einen souveränen Eindruck hinterlassen, kassieren sie kein Gegentor. Der Rest ist Geschichte. Roberto Baggio, Italiens Superstar und Sacchis große Hoffnung, schießt den letzten, den entscheidenden Elfmeter übers Tor.

Die Karriere des Arrigo Sacchi bleibt zumindest bei internationalen Turnieren ungekrönt. Zwei Jahre später scheitert er mit La Nationale in der EM-Gruppenphase. Seine Zeit in Amt und Würden ist vorüber. Die weiteren Stationen sind nicht von Erfolg gekrönt. Sacchi wirft nach enttäuschenden Monaten bei Milan und Atlético das Handtuch. Die Rückkehr zu Parma im Jahr 2001 wird von gesundheitlichen Problemen beeinträchtig.

„Der Fokus liegt heute auf Resultaten, nicht auf der Art und Weise, wie gearbeitet wird. Du kannst keinen Wolkenkratzer an einem Tag bauen“, sagt er einmal entnervt über die Schnelllebigkeit im modernen Fußball.

In den 2000ern wechselt er in die Direktorabteilungen von Parma und Real Madrid. Später gibt er sich ganz der konzeptionellen Arbeit im italienischen Nachwuchs hin. Der einstige Schuhverkäufer, der Außenseiter, der Provinzler ohne Namen hat seinen Stempel in der Geschichte des Sports hinterlassen.

Arrigo Sacchi, der „fleißige Arbeiter“, wird zum Selfmade-Vordenker. Ein Besessener, getrieben von der Idee eines totalen Fußballs und gelenkt vom Zwang zur Perfektion.

„Ein großer Trainer hat seinen eigenen Stil. Er strebt nach Qualität, nicht nach Oberflächlichem. Ich gehe nicht zum Bäcker des Bäckers wegen. Ich gehe zum Bäcker wegen der Qualität des Brots.“ (Arrigo Sacchi)

Rafael Benitez und das vermeidbare Unvermeidliche

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Benitez muss Real Madrid verlassen. Eine Entlassung, die wie nur wenige so viel Zustimmung und Verwunderung gleichzeitig erntet.

Für Trainer ist Real Madrid bekanntlich ein schwieriges Pflaster. Kleinste Misserfolge – beziehungsweise eher der Mangel an großen Erfolgen – werden rigoros bestraft. Bei Rafael Benitez schien eine frühzeitige Entlassung bereits vorprogrammiert.

In unserer Ballnah vor zwei Jahren schrieb ich ein langes Trainerporträt über Benitez. Quintessenz: Eigentlich ein guter Trainer, doch mit ein paar markanten Schwachstellen und zwischenmenschlichen Problemen. Im Laufe der letzten Jahre wurden ein paar seiner Stärken auch noch zum Standard, was zu einer Verringerung seines Status – der von 2003 bis 2009 relativ hoch war – führte.

Bei Inter und Chelsea scheiterte er. Zu jenem Zeitpunkt argumentierte ich, dass seine nächste Entwicklung und noch viel mehr seine nächste Trainerstation darüber Aufschluss geben würden, ob er noch eine Chance auf allerhöchstem Niveau erhalten oder sich mit seinem bisher Erreichten abfinden müssen würde. Bei Napoli war man zwar nicht spektakulär, doch zeigte ansprechende Leistungen und prompt erhielt Benitez – nach Gerüchten um einen Wechsel in die mittleren Tabellenregionen der Premier League – den Job bei Real Madrid.

Sein Status schien aber insbesondere in England bereits zu beschädigt; und Benitez für Real unpassend. Sogar José Mourinho hatte enorme zwischenmenschliche Probleme mit einigen der Spieler und den Medien, Carlo Ancelotti zog sich zwar erfolgreich und anständig aus der Affäre, doch konnte in seiner zweiten Saison nicht konstant Leistungen abrufen (lassen).

Für Benitez also eine unangenehme Situation: Starke Charaktere, enormer Erfolgsdruck von Anfang an, Fokus auf offensiven Fußball mit ästhetischem Mehrwert, der große Gegner aus Katalonien, viele Individualisten – eigentlich konträr zu jenen Kontexten, in denen Benitez ansonsten eher aufblüht.

Dennoch schrien bei der Entlassung einige auf. In den letzten neun Spielen (seit dem Clásico) kam Benitez‘ Real auf 36:11 Tore, 7 Siege, 1 Unentschieden, 1 Niederlage; als einer von sehr wenigen Trainern wurde er nicht nach einer Niederlagenserie, sondern nach einem Unentschieden entlassen. Eigentlich undenkbar – oder? Doch einige enorme strategische und taktische Mängel erklären diesen drastischen Schritt Reals.

Verbindungsprobleme in Ballbesitz

Nach dem Clásico kursierten zahlreiche Bilder, welche Reals nahezu katastrophale Staffelung in eigenem Ballbesitz zeigten und karikierten. Sogar für Laien war eindeutig zu erkennen, dass Real in Ballbesitz kaum eigene Angriffe aufbauen konnte, weil die Verbindungen zu schwach waren.

Vielfach formierten sich die Spieler der ersten und zweiten Linie Reals außerhalb der Formation Barcelonas. Sie zirkulierten den Ball in ihren Reihen vollkommen gefahrlos, während Barcelona ohne nennenswerten Aufwand verschieben und Räume verschließen konnte. Neben der Zirkulationsgeschwindigkeit war aber insbesondere die Verbindung nach vorne problematisch.

Mehrere Spieler stehen im Abseits, dahinter klaffen große Löcher. Wenige Sekunden später trifft Neymar.

Mehrere Spieler stehen im Abseits, dahinter klaffen große Löcher. Wenige Sekunden später trifft Neymar.

Kaum ein Spieler befand sich in den Zwischenlinienräumen. Weder die Zonen vor noch hinter Busquets und Co. wurden konstant von Real-Spielern besetzt. Dies führte dazu, dass die ohnehin langsame Ballzirkulation in den ersten zwei Linien kaum nach vorne übergehen konnte. Man wartete und wartete, doch es boten sich nur selten Passmöglichkeiten.

Leichtes Spiel für Barcelona ohne Ball also. Die Abstände zwischen den Linien waren in der Vertikale zu groß, in der Horizontale waren sie jedoch zu eng. Teilweise spielten sowohl Modric als auch Kroos eng vor den Innenverteidigern, die Außenverteidiger spielten entweder ebenfalls tief oder waren in vorderen Zonen kaum anspielbar, weil die Abstände in der Innenverteidigung und die Besetzung der zentralen Zonen im Mittelfeld nicht vorhanden war.

Wenn dann Pässe nach vorne kamen, hatte Barcelona in Ballnähe Überzahl und konnte Benzema und Co. einfach attackieren. Ballverluste waren die Folge, die Staffelung wiederum erlaubte kein erfolgreiches Gegenpressing.

Desweiteren waren die Bewegungen in vorderen Zonen viel auf Zufall und auf die Bewegung selbst ausgerichtet; anstatt auf den Kontext und die Synergien von mehreren Bewegungen. Mourinho und Ancelotti hatten es zum Beispiel geschafft, die Stärken Cristiano Ronaldos in puncto Durchschlagskraft sehr gut einzubinden und dabei seine Bewegungen für andere Spieler zu nutzen sowie das System und die Spieler um Cristiano so gebaut, dass die Schwächen Cristianos kompensiert wurden.

Quasi eine 6-0-4-Staffelung, in der Bale ein isoliertes Dribbing suchen muss.

Quasi eine 6-0-4-Staffelung, in der Bale ein isoliertes Dribbing suchen muss.

Besonders unter Ancelotti war dies überaus stimmig und für das Kollektiv passend. Unter Benitez fehlt diese Ergänzung der Spieler zueinander im letzten Drittel; teilweise überladen sie eine Zone gemeinsam, ohne sich dabei wirklich zu finden (ergo kaum Kombinationen) und haben keine Unterstützung in den Folgezonen, was dann in Einzelaktionen, Distanzschüssen oder Ballverlusten mündet. Schnelle Verlagerungen oder Folgeaktionen sind Mangelware.

Problematisch ist dies natürlich speziell gegen stärkere Mannschaften, welche kompakter verteidigen. Bei weniger Kompaktheit des Gegners und individueller Unterlegenheit konnte sich Benitez‘ Real eben trotzdem durchsetzen, aber gegen Barcelona, Villarreal und Co. fehlte es an dieser Fähigkeit. Auch gegen PSG hatte man Probleme mit der Durchschlagskraft.

Von Positionsspiel keine Spur. Die Raumaufteilung ist schwach.

Von Positionsspiel keine Spur. Die Raumaufteilung ist schwach; die Abstände sind unpassend, es fehlt an strategisch günstigen Optionen.

Neben dem Spiel mit Ball, gibt es auch Probleme im Spiel ohne den Ball.

Konstanz, Kompaktheit, Kollektivität: Dysharmonie und Dysbalance

Die gegen den Ball stärksten Mannschaften agieren meist mit hoher Intensität, fast durchgehendem Pressing und hoher Kompaktheit – und/oder haben Sergio Busquets auf der Sechs. Es ist eine alte Cruijff’sche Weisheit, dass man grundsätzlich besser verteidigt, wenn man individuell weniger Raum abzudecken hat. Natürlich gibt es auch Ausnahmen oder einzelne Situationen, wo eine Abkehr davon günstig sein kann.

Im Normalfall sind geringe Abstände zwischen den Mannschaftsteilen, gleichmäßige Bewegung, ballorientiertes Verschieben und eine Beteiligung der meisten Spieler in der Arbeit gegen den Ball jedoch unabdinglich. Real hat hier Probleme.

Cristiano Ronaldo erhält z.B. oft eine Freirolle. Unter Mourinho wurde diese durch die enorm guten Abläufe im Spiel nach vorne und einzelne taktische Balancebewegungen der hinteren Linie balanciert, bei Ancelotti war es zuerst Di Maria als linker Achter und später ein klares 4-4-2, die Cristianos geringe Beteiligung auffingen.

Cristiano beteiligt sich nicht an der Arbeit nach hinten. Ein einfacher Pass in die Mitte führt zu einem simplen Anspiel des freien Mannes im rechten Halbraum.

Cristiano beteiligt sich nicht an der Arbeit nach hinten. Ein einfacher Pass in die Mitte führt zu einem simplen Anspiel des freien Mannes im rechten Halbraum.

Unter Benitez ist Cristiano wieder zum Problem geworden. Er spielte in einigen Spielen als linker Flügelstürmer – unter anderem gegen den FC Barcelona – und betätigte sich öfters in tiefen Positionen an der Defensivarbeit, doch konstant wurde es nicht praktiziert. Vor Marcelo taten sich deswegen häufig weite Räume auf, wo Barcelona in Alves, Rakitic oder Sergi Roberto den freien Mann fand.

Cristiano ist aber nur ein Faktor im System. Häufig sind die Abstände auch bei den anderen Spielern nicht passend. Ein wichtiger Aspekt ist der geringe Druck auf Rückpassoptionen in höheren Zonen. Befindet sich der Gegner in einer schwierigen Situation in Reals Spielhälfte, kann er relativ problemlos den Ball in sichere Zonen zirkulieren lassen, die aber nicht weit weg von Reals Tor sind. Dadurch entstehen gefährliche Verlagerungen und Schnittstellenpässe, die schnelle Durchbrüche erzeugen können.

Ursache dafür sind zwei Sachen. Einerseits ist die Formation und die Bewegung darin unsauber. Was wir oft fast schon esoterisch als „Harmonie“ bezeichnen, ist im Grunde nur die Synchronizität der Spieler in ihren Bewegungen. Bei Real rücken häufig Spieler aus den vorderen Linien heraus, ohne dass es durch einen Kettenmechanismus von den Spielern aus der gleichen Linie abgesichert wird oder die Spieler aus der Linie dahinter nachschieben.

In der Bewegung ohne Ball fehlt es an Abstimmung und Gemeinsamkeit.

In der Bewegung ohne Ball fehlt es an Abstimmung und Gemeinsamkeit. Die Kompaktheit leidet darunter.

Geschickte Ballzirkulation kann darum für enorme Probleme bei Real sorgen. Diese Schwäche ist jedoch an eine andere gekoppelt. Unter Benitez war man schlichtweg nicht konstant in puncto Kompaktheit und Zonenbesetzung. Die Abstände waren bereits in statischen Situationen mitunter zu groß, weil die geplante Flexibilität ins Gegenteil schlug.

Benitez probierte häufiger – ob im 4-1-2-3 (mit sehr tiefem Casemiro), im 4-1-4-1 (mit dem inaktiven Cristiano auf rechts) oder einem 4-4-2 – dem Spiel gegen den Ball Stabilität zu verleihen, indem sich Bale und Co. relativ frei bewegen konnten, aber nach Ballverlusten die nächstgelegene Position einnehmen sollten. Das war aber nicht nur zu langsam, sondern häufig unsauber.

Sie konnten die offene Position (wie etwa den linken Flügel) nicht erreichen, weswegen sie dann u.a. anderem in den Zehnerraum trabten. Aus diesen Positionen bewegten sie sich aber nicht passend zur restlichen Mannschaft, wodurch diese eigentlich gute Idee verpuffte. Die entstehenden Staffelungen wurden improvisiert und nicht ordentlich ausgespielt, was dem Gegner Chancen für Raumgewinn ermöglichte.

Der Gegner lässt den Ball laufen, Real ist nicht intensiv genug im ballorientierten Verschieben. Eine schnelle Verlagerung sorgt für einfachen Raumgewinn.

Der Gegner lässt den Ball laufen, Real ist nicht intensiv genug im ballorientierten Verschieben. Eine schnelle Verlagerung von links nach rechts sorgt für einfachen Raumgewinn.

Inkonstantes Spiel im Umschaltmoment

Die Phasen bedingen bekanntlich einander; die soeben erwähnten Probleme Reals im Spiel ohne Ball und im Spiel mit Ball interagierten mit dem Umschaltmoment bzw. den Umschaltmomenten. Relevant: Die flache und unverbundene Staffelung in eigenem Ballbesitz. Hier konnte der Gegner nicht nur die Aufbauversuche simpel leiten, sondern war nach Balleroberungen häufig nicht unter Druck. Man konnte dann Konter gut ausspielen und Raum gewinnen, weil es Real an Zugriff im Gegenpressing und an Präsenz in den tieferen Zonen mangelte.

Hier folgt beim schwierigen Verlagerungsversuch ein Fehlpass in der Mitte. Zugriffsmöglichkeiten im Gegenpressing gehen gen Null.

Hier folgt beim schwierigen Verlagerungsversuch ein Fehlpass in der Mitte. Zugriffsmöglichkeiten im Gegenpressing gehen gen Null.

Der Fokus auf die Rückkehr auf bestimmte Positionen bzw. die Positionswechsel sorgten wiederum dafür, dass der Umschaltmoment länger dauerte und unsauber war. Auch wenn der Gegner nicht unbedingt konterte, so konnte er die offenen Räume nutzen, um sich neu zu organisieren.

Die Probleme beim Umschaltmoment gab es auch in die andere Richtung. Reals traditionell starke Konter waren zwar nach wie vor vorhanden, aber gingen vielfach auch ins Leere. Cristiano Ronaldos Freirolle und die höheren Positionen von insbesondere Bale und Benzema beschleunigten Pässe bei Konteraktionen zwar, aber die mäßige Unterstützung aus tieferen Zonen sowie ein enormer Fokus auf das Kommen hinter die Abwehr – ohne Bindung an die Situation dahinter – sorgten für viele verschwendete Möglichkeiten.

Umschaltspiel als Problemstelle.

Umschaltspiel als Problemstelle. Hier sollte Real eigentlich nach hinten laufen; die drei Stürmer stehen jedoch im Abseits und die Zonen dahinter sind unpassend besetzt. Valencia benötigt nur einen Pass, um fünf Spieler Reals zu überwinden. Die weiten Distanzen der Stürmer stammen aus der Positionierung zuvor und sind eines der größten Probleme.

Anderweitige Probleme …

… möchte ich außen vorlassen. In der heutigen Medienlandschaft ist es schwierig, Fakt von Fiktion  zu trennen. Besser gesagt: Bis auf ein paar wenige Ausnahmen ist es nahezu unmöglich. Real Madrid ist hierbei eine andere Welt in einer anderen Welt. An einem Tag äußert sich der Starspieler positiv über den Trainer, im nächsten Spiel reagiert er allergisch und plötzlich tauchen zig Medienberichte auf, die detailliert Probleme zwischen diesen beschreiben.

Insofern ist es natürlich möglich – vielleicht sogar wahrscheinlich –, dass Benitez mit einigen seiner Spieler nicht klar kam (und vice versa). Den Einfluss dieser Probleme auf taktisch-strategische Aspekte zu analysieren bleibt trotzdem schwierig; auch das Umgekehrte (aus dem sichtbaren Geschehen auf dem Feld Rückschlüsse zu ziehen) ist nicht viel einfacher und oftmals sehr subjektiv bzw. situationsabhängig.

Deswegen legen wir den Fokus in unseren Analysen nicht auf diese Aspekte, auch wenn sie uns bewusst sind, wir vielleicht sogar eine klare und dedizierte Meinung haben und die Relevanz davon erkennen. Ein Aspekt, den ich aber erwähnen möchte: Womöglich ist Benitez gescheitert, weil er Real gerecht werden wollte – und nicht sich selbst. Die oben genannten Probleme sind nicht gerade typisch für Benitez; aber aus dem Grund, dass diese Spielweise für Benitez untypisch ist. Bei der Suche nach mehr Offensive verlor Benitez seine Stärken und – letztlich – auch seinen Posten.

Fazit

Benitez‘ Entlassung war durchaus vorhersehbar. Seine Art spielen zu lassen und zu coachen, passt nicht unbedingt zu Real Madrid. Ein gutes Beispiel war die Partie gegen Rayo Vallecano: Sogar beim Stand von 10:2 in der 91. Minute begannen die Fans zu buhen, als Reals Spieler die Partei gegen zweifach dezimierte Vallecas einfach zu Ende spielen wollten. Diese enorme Gier nach maximalen Erfolg – in jedem Spiel und in jeder Saison – teilt Benitez zwar, doch im Prozess unterscheidet er sich von den Denkstrukturen der Fans, des Vereins und womöglich auch der Spieler massiv. Die dazu kommenden Mängel in Taktik und Strategie sorgten letztlich für seinen Abgang.

Traineranalyse: Johan Cruijff

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Johan Cruijff ist womöglich die einflussreichste Einzelperson des Fußballs. Als Hommage in Anbetracht seines zu frühen Ablebens kramen wir unsere Traineranalyse aus dem Archiv hervor.

Der Tod interessiert sich weder für die Kunst noch für die Talente der Menschen. Ansonsten hätte er Johan Crujiff nicht bereits im Alter von 69 Jahren zu sich gerufen. Kein Mensch hatte wohl einen so großen Einfluss auf die Geschichte er Fußballtaktik wie er, sei es als Spieler oder als Trainer. Zu Ehren seines Todes veröffentlichen wir erneut das Trainerporträt, das im Dezember 2015 auf unserer Seite erschien.

Auf dem Weg zum Superstar der Niederlande

Schon als Spieler war Cruijff ein herausragender Akteur und schon damals hauptverantwortlich für eine innovative Spielweise gewesen. Er war nämlich das Herzstück des „totaal voetbal“ der großen Ajax-Mannschaft der 70er und der beeindruckenden niederländischen Nationalmannschaft bei der WM 1974.

Für viele war Cruijff  der erste und letzte Erbe Alfredo Di Stefanos. Ein totaler Fußballer, im wahrsten Sinne des Wortes. Cruijff besaß unglaubliche Rhythmuswechsel, physisch wie geistig. Kaum ein Spieler konnte das Spiel mit einzelnen Aktionen dermaßen stark beeinflussen, wie Cruijff; und nur wenige konnten das Spiel so konstant beeinflussen.

Einigen gilt Cruijff gar als wahrer Kopf hinter der Strategie und Taktik der großen Michels-Mannschaft jener Jahre. Ohne Cruijff hatte Michels nur wenige Erfolge – und auch diese waren ganz anders geartet als jene mit Cruijff. Die enorme positionelle Flexibilität war kaum zu sehen. Besonders Michels‘ Jahren in Deutschland deuten darauf hin, dass zumindest teilweise etwas Wahres dran sein könnte.

They laugh when I say it, but I don’t care. I insists that Dutch football can come very far internationally. It can become the best football ever seen on the planet. That seems boastful for a 20 year old braggart but can I explain why I’m an optimist? Because Dutch football is both disciplined and imaginitive. Others don’t have this. Look at Liverpool. Only when they were 4-0 down they tried something else – and only on command. We would do this much quicker, because we have fantasy in our game. In five or ten years time look back and you will see that this guy called Cruyff was right.

Allerdings dürfte es eher stimmen, dass beide einander brauchten. Cruijff galt in der Jugend gar als Streichkandidat. Zu schmächtig war er – seine Ecken kamen mit 15 Jahren noch nicht einmal bis auf den ersten Pfosten. Doch Ajax war bereits jener Zeit vielen Mannschaften voraus, insbesondere in der Jugendausbildung.

Cruijff, der mit einer schwierigen Kindheit, einem verstorbenen Vater und Problemen in der Schule zu kämpfen hatte, wurde dennoch toleriert. Jimmy Hogan, Jack Reynolds und Vic Buckingham hatten über die Jahre bereits Ajax auf Nachwuchsarbeit und Kurzpassspiel ausgerichtet.

Ein junger Johan Cruijff

Rinus Michels, einst selbst ein Spieler Ajax‘, verkörperte diese Ideale zwar in seiner aktiven Zeit nicht, dafür als Trainer. 1965 wurde Michels Trainer und machte Cruijff zum Stammspieler; er wurde bald zu einem überaus wichtigen Spieler. In der Saison 1966/67 erzielte Ajax unglaubliche 122 Tore in 34 Spielen, 33 davon durch den 19jährigen Cruijff. Es sollte seine beste Torquote in einer Saison in der niederländischen Liga sein.

Cruijff startete meistens als linker Flügelstürmer in einem 4-2-4 und Ajax arbeitete sich langsam zu einer der besten Mannschaft Europas empor. 1969 stand man sogar schon im Finale des Meisterpokals, doch verlor gegen AC Milan mit 1:4.

Rinus Michels at one time decided we needed more stamina. Footballers should be able to do everything: defend and attack. But what’s often ignored is that Michels had technically perfect players: Keizer, Mühren, Vasovic, Krol, myself, Rep, Swart – yes when you have so much technical ability you can start paying attention to running. Everyone has since copied him, but without having all that technical ability.

Rinus Michels sollte in den Folgejahren nun ein anderes System nutzen. Das 4-3-3 schaute man sich vom Erzrivalen Feyenoord Rotterdam ab, welche 1969 Meister wurden und 1970 den Meisterpokal gewannen. Nicht umsonst war auch Cruijff voll des Lobes über Happel, den er als einen von zwei Trainermeistern bezeichnete:

„Happel war der andere Meister des niederländischen Fußballs; und der eine war Rinus Michels. Happel war ihm ebenbürtig. (…) Happel war einer, der auch als Coach einzigartige Qualitäten besaß. Ernst Happel war ein großer Taktiker, bei dem alles auf den Fußball gegründet war.“

Außerdem intensivierte Michels das Training. Teilweise trainierten sie sogar 4mal am Tag, einigen Gerüchten späterer Jahre sollen auch Amphetamine zur Verbesserung der physischen Leistungsfähigkeit genutzt worden sein. Die Spieler wurden bisweilen nicht nach ihrem Namen angeredet, sondern nach ihrer Nummer, die sich nach ihrer Position definierte. Waldläufe standen ebenfalls an der Tagesordnung. Waldläufe, die Cruijff eigentlich nicht benötigte.

Eine schöne Anekdote erzählt, wie Michels und Cruijff damit umgingen. Cruijff verweigerte gelegentlich den Dauerlauf, woraufhin Michels ihn vor versammelter Mannschaft zu einem Einzel-Waldlauf am nächsten Tag kommandierte. Auf die Minute pünktlich würde Cruijff am nächsten Morgen erscheinen, um mit Michels spazieren zu gehen. Grund: Es war nicht Cruijffs Physis, welche gepflegt werden müsste, sondern seine Vorbildwirkung für die Mannschaft.

Im Verbund mit dem neuen System und der physischen Qualität sowie natürlich den verbesserten Einzelspielern – kaum eine Vereinsmannschaft vor dem Bosman-Urteil und nach Di Stefanos Real dürfte individuell so stark besetzt gewesen sein – schufen Michels und Cruijff ein innovatives System.

Ein Spiel des flexiblen Raums

Obige Überschrift stammt aus dem tollen Buch Dietrich Schulze-Marmelings „Der König und sein Spiel“. Sie wird genutzt, um die Spielweise jener Ajax-Mannschaft zu beschreiben.

„We discussed space the whole time. Cruijff always talked about where people should run, where they should stand, where they should not be moving. It was all about making space and coming into space. It is a kind of architecture on the field. We always talked about speed of ball, space and time. Where is the most space? Where is the player who has the most time? That is where we have to play the ball. Every player had to understand the whole geometry of the whole pitch and the system as a whole.“

So äußerte sich einer der Mitspieler Cruijffs (Barry Hulshoff) über die Spielweise. Andere Übersetzungen aus dem Niederländischen ergänzen „Geschwindigkeit“ anstatt „Raum“. Was mit Geschwindigkeit damals auf Niederländisch gemeint war, dürfte im heutigen Taktiksprech am ehesten dem Begriff „Dynamik“ entsprechen. Ajax wollte auf dem Feld Dynamik – die Symbiose aus Raum und Geschwindigkeit im Fußball – erzeugen. Überall, jederzeit, flexibel und doch organisiert.

Europas Fußballer des Jahres

Strategische Grundlagen dafür: Pressingfußball, Zirkulationsfußball und Positionsspiel. So bezeichneten Cruijff und Michels sie damals. Pressingfußball bedeutete grundsätzlich die durchgehende Jagd nach dem Ball, die Zirkulation ist mit der bewussten Nutzung des Balles für offensive wie defensive Zwecke gleichzusetzen und das Positionsspiel bezeichnete zu jener Zeit prinzipiell eine Positionsbesetzung, aus der flexibel Bewegungen gemacht und Positionen gewechselt werden konnten.

Drei Mal in Folge sollte Ajax den Meisterpokal gewinnen. Die Liga dominierten sie ebenfalls. 1971/72 holten sie gar in 34 Spielen 30 Siege bei einem Torverhältnis von 104:20. 1972/73 waren es 30 Siege bei einem Torverhältnis von  102:18. Konstanz auf allerhöchstem Niveau; europaweit konnte keiner mithalten, am ehesten war national noch Feyenoord eine Gefahr. Diese schafften immerhin in den Erfolgsjahren Ajax‘ im Meisterpokal einmal Meister und einmal mit fünf Punkten Rückstand Vizemeister zu werden. Einzig 1972 war es mit zwölf Punkten eine klare Deklassierung.

In den letzten zwei Jahren war jedoch Michels nicht mehr Trainer. Er war bereits zum FC Barcelona  abgewandert. Ștefan Kovács hatte die Mannschaft übernommen und die Zügel gelockert, was zu noch höheren Höhen führte – und letztlich zum Zerfall. Interne Streitigkeiten zwischen Cruijff und Mitspielern sorgten für Cruijffs Abgang.

El Salvador

Cruijff sollte beim FC Barcelona das Gegenstück zum jeweiligen Star Real Madrids bilden. Diese wollten nämlich mit ihren Einkäufen unbedingt wieder an die Spitze Spaniens und natürlich Europas kommen. Sie holten sich Günter Netzer und wollten zwei der ganz großen Stars Osteuropas: Kaszimierz Deyna und Nicolae Dobrin, welche beide jedoch das Land nicht verlassen durften. Barcelona angelte sich zwar Sotil aus Südamerika, aber man benötigte einen Spielmacher. Cruijff, der zwischenzeitlich auch immer wieder als (falsche) Neun gespielt hatte, war dabei die Ideallösung.

Problem: Real mischte sich ein. Unangenehme Erinnerungen an den Verlauf des Transfers von Alfredo Di Stefano, der eigentlich zuerst zu Barcelona hätte gehen sollen, wurden wieder wach. Real hatte hinter Cruijffs Rücken damals sogar schon alles mit Ajax vereinbart, aber nein, Cruijff wollte zu Barcelona.

Der spanische Verband RFEF war wie bei Di Stefano dagegen, doch trotz einer Sanktion blieb man standhaft. Nach sechs verpassten Spieltagen debütierte Cruijff mitten in der Saison beim kriselnden FC  Barcelona. Es folgten 24 Ligaspiele in Folge ohne Niederlage und zwei ganz große Erfolge Cruijffs, welche ihn endgültig zum Held der Katalanen machten.

Catalonia was suffering a dictatorship and that was strange for me. I don’t accept anyone forbidding me to do anything. I can forbid things to myself but no one else can.

Im Februar 1974 gab es die Geburt von Cruijffs Sohn; Jordi Cruijff. Jordi ist der Name des katalanischen Schutzpatrons, den die spanischen Ämter partout nicht akzeptieren wollten. Cruijff stellte sie mit den niederländischen Dokumenten vor vollendete Tatsachen und aufgrund der Angst vor einem Streit gab man nach. Nur zwei Wochen später gab es das legendäre 0:5 im Estadio Bernabeu, welches für manche sogar als ein wichtiger Schritt für die Freiheit Kataloniens diente.

Cruijff in der Elftal

Um dies zu verstehen, muss man einerseits das katalanische Selbstverständnis und den Bezug zum Fußball nachvollziehen können und andererseits wissen, wie repressiv und rassistisch Francos Innenpolitik war. Katalanen wurden verächtlich als „Pollacken“ bezeichnet, ihre Sprache denunziert und aus der Öffentlichkeit gedrängt. Katalanisch wurde nun nur noch hinter verschlossenen Türen geflüstert – und gelegentlich im Stadion angestimmt.

Der Fußball war somit eine Ausnahme und diente auch als Versammlungspunkt. Der FC Barcelona stand stellvertretend für das in der Öffentlichkeit verbliebene Katalonien; was wiederum zu Repressionen gegenüber dem Fußballverein führte. Das rückte die Katalanen natürlich noch näher zu ihrem Verein und es entstand eine Eigendynamik, weswegen das 0:5 im Bernabau so frenetisch bejubelt wurde.

Spätestens nach diesem Februar 1974 wurde Cruijff zum beliebtesten Nicht-Katalanen aller Katalanen; er war El Salvador, der Retter. Seine Krönung wollte sich Cruijff bei der WM 1974 verpassen, doch man scheiterte an den Deutschen und der Vogts’schen „mal schon, mal nicht“-Manndeckung im Finale.

I knew I would dominate less in this game. Because the Germans played so strong on man marking, our libero Arie Haan had to advance more, creating a free man on midfield. But the interchange between myself and Haan failed. I was mentally exhausted in the final. The World Cup lasted one game too long. I didn’t have a bit of energy left in my body.

Cruijff sollte im Rahmen der Weltmeisterschaft den Spruch „Tore haben nichts zu tun mit Fußball“ prägen, was ihm gelegentlich später vorgeworfen wurde. Nach 1974 gab es nur noch einzelne Erfolge für Cruijff als Spieler. Die EM 1976 wurde verpatzt, die Folgejahre bei Barcelona gestalteten sich als schwierig, da es trotz des späteren Kaufs Johan Neeskens an Mitspielern fehlte.

Cruijff ließ das Training schleifen und die WM 1978 fiel aus, nachdem er persönliche Drohungen erhalten hatte und sich außerdem weigerte, in ein Land mit Militärdiktatur einzureisen. Dem neuen Trainer Weisweiler schmeckte Cruijff nicht, was auf Gegenseitigkeit beruhte:

The Barcelona coach, Hennes Weisweiler, always did the opposite of what I told him to do.

Der Rebell Cruijff kam hier zum Vorschein. Von Anfang an verband Cruijff seinen enormen Fokus nach Gerechtigkeit mit einer gewissen Selbstgerechtigkeit, Arroganz und lateralem Denken. Im Fußball war dies nie anders. Bei der WM 1974 hatte er als Spieler seinen eigenen Sponsor und sein eigenes Trikot, im Verein war er der Chef und 1970 wechselte er nach einer Verletzung seine Rückennummer von 9 auf 14; für Stammspieler unüblich.

Cruijff sollte keine WM mehr bestreiten. 1978 beendete er seine Karriere sogar für ein Jahr, bevor er wegen Geldsorgen in die amerikanische NASL ging. Nach einem Jahr in Washington schloss sich Cruijff dem spanischen Zweitligisten Levante für ein kurzes Gastspiel an, spielte jedoch nur wenige Partien und versetzte sich bei einem Freundschaftsturnier, wo er mit Milan spielte.

Das kurze Intermezzo endete 1981, woraufhin Cruijff zu Ajax ging. Eigentlich war er der „technische Berater“ von Trainer Leo Beenhakker, doch nach kurzer Zeit unterschrieb er einen Vertrag und spielte ab Dezember 1981 wieder für zwei Jahre bei Ajax. Beide Male wurde man Meister, einmal holte man sogar das Double und erzielte einen bis heute legendären Elfmetertreffer.

198 3 erhielt er jedoch keinen Vertrag und er ging aus Rache für eine Saison zu Feyenoord. Die Folge: Ein weiteres Double, ein weiterer Titel als niederländischer Fußballer des Jahres; zwanzig Jahre nach seinem Profidebüt.

I was terribly insulted that Ajax wrote me off. Nobody can write me off. I will decide when I quit. That’s why I wanted revenge. At first I wanted to sign for Feyenoord purely out of rancour, but I quickly put Ajax out of my mind. I look back on that year with lots of joy. We won the double and that seemed like a nice farewell.

Cruijff verabschiedet sich erhobenen Hauptes bei Feyenoord; was ihm bei Ajax verwehrt wurde.

Meine Lieblingsanekdote über Cruijff stammt gar aus dieser Saison.

Among the Feyenoord players, he quickly wins a reputation for thinking he knows everything. To trick him, the Feyenoord players ask him for the definitions of several difficult words. Full of his usual confidence, Cruyff explains one meaning after another. The players pretend to be impressed. In reality, they have prepared a trap. The final word has a catch. It doesn’t exist.

Still, Cruyff proceeds to explain it. lnitially the players laugh, telling him he got fooled. But Cruyff continues to insist. Feyenoord player Bennie Wijnstekers describes the scene: “Cruyff kept explaining the word with so much confidence that we started to doubt ourselves. Maybe that word existed after all?”

Diese Geschichte, hier auf 4dfoot zu finden, zeigt Cruijff in der Nussschale. Intelligent, aber dabei anmaßend. Eine Führungspersönlichkeit, zu der man aufschaut, aber an deren Arroganz man sich auch reibt. Ein Redner, der sogar sicheres Wissen verunsichert. Kann so einer ein Trainer sein? Es sollte sich zeigen, dass diese Anekdote das beste und das schlechteste an Cruijffs Trainerdasein einfängt.

Cruijffs dritter Start bei Ajax

Every trainer talks about movement, about running a lot. I say don’t run so much. Football is a game you play with your brain. You have to be in the right place at the right moment, not too early, not too late.

Zitate wie dieses zeigen Cruijffs enormes Spielverständnis, trotz einiger anderer abstruser Bemerkungen. Doch tatsächlich hatte Cruijff ein faszinierendes Gespür für den Fußball. Eine Geschichte vom 30. November 1980 zeigt dies beeindruckend. Leo Beenhakker ist Trainer Ajax‘, die zur Halbzeit 1:3 hinten liegen. Zuschauer Johan Cruijff geht zur Trainerbank, setzt sich neben den Trainer und beginnt die Spieler einzuteilen. Rijkaard geht sich aufwärmen, die anderen erhalten taktische Instruktionen. Das Spiel endet 5:3. Für Ajax, wohlgemerkt. Die Bilder von damals wirken wie eine Parodie.

1987 gegen Lok Leipzig

1987 gegen Lok Leipzig

Fünf Jahre später wird Cruijff der Trainer Ajax‘. 1985/86 wurde man trotz 120:35 Toren nur Zweiter hinter Guus Hiddinks PSV Eindhoven, die zwei Jahre später sogar den Meisterpokal holen konnten. In dieser und der nächsten Saison konnte man jedoch den niederländischen Pokal gewinnen und auch den Pokal der Pokalsieger 1987 holen.

Cruijff implementierte ein System, welches vielfach mit Louis van Gaal und dem CL-Sieg 1995 verbunden wird: Das 3-1-2-1-3 mit einem Sechser, welcher sich bei beiden Mannschaften in die erste Linie zurückfallen lassen konnte. Bei Van Gaal geschah dies jedoch etwas häufiger, obwohl beide denselben  Akteur auf dieser Position einsetzten.

Frank Rijkaard war für beide (einer) der Schlüsselspieler, doch wie in meinem Porträt vor einigen Tagen geschrieben war der junge Rijkaard ein ganz anderer Akteur als die ältere Version seiner selbst. Unter Van Gaal gestaltete er sich das Spiel, stieß punktuell nach vorne und unterstütze die erste Linie häufig.

Bei Cruijff war Rijkaard ein wahrer Box-To-Box-Spieler. Immer wieder stieß er an den anderen Mittelfeldspielern vorbei und agierte unheimlich weiträumig. Im Finale des Pokals der Pokalsieger 1987 gab es z.B. eine Szene, wo Rijkaard im Sechserraum den Ball erobert und einen Lauf ansetzt. Nach seinem Pass setzt er den Lauf fort und die Situation endet damit, dass der tiefste Sechser der Mittelfeldraute, Frank Rijkaard, an der rechten Eckfahne des Gegners seinen Gegenspieler tunnelt und gefoult wird.

Ein weiterer wichtiger Akteur war natürlich auch Marco Van Basten. Wie Rijkaard sollte er später beim AC Milan für Furore sorgen, unter Cruijff wurde er zu einem der besten Mittelstürmer Europas. Cruijff hatte den talentierten, aber etwas faulen Jungstar häufig auf anderen Positionen eingesetzt, insbesondere als Zehner.

Die zwei Gründe dafür: Van Basten solle anfangen zu laufen, sich anzubieten und die Mitspieler zu unterstützen sowie natürlich seine spielerischen Fähigkeiten noch verbessern. Als er später wieder im Sturmzentrum agierte, agierte er zumindest unter Cruijff teils wie eine falsche Neun und insgesamt vom Bewegungsspiel her ähnlich zu Lewandowski in der aktuellen Bayernsaison; viele ausweichende und situativ zurückfallende Bewegungen mit kurzen, gestalterischen Aufgaben.

Gegen den Ball spielte man in zwischen Mann- und Raumdeckung; prinzipiell wurde im Raum gedeckt, doch immer wieder wurden bestimmte Läufe und anspielbare Optionen in Ballnähe mannorientiert verfolgt.

„Wir spielen mit Raumdeckung. Du deckst also den Raum, das heißt den ballführenden Gegner, der in den Raum kommt. (…) Eine der Verteidigungsaufgaben, auf die Johan immer wieder zurückkommt, ist, dafür zu sorgen, dass immer ein Mann frei ist. Wenn wir unerwartet den Ball verlieren, müssen wir, je nachdem, wo wir sind, entweder sofort eingreifen oder sofort unsere Positionen einnehmen. (…) Wenn Menzo den Ball hat, schlägert ihn ab zu dem Spieler, der am weitesten entfernt von ihm steht. Dann bist du manchmal vier Gegner los. Früher war ich lediglich Verteidiger, heute bin ich Teil des Teams.“ – Ronald Spelbos, Spieler unter Cruijff

Das Pressing wirkte wie eine Mischung aus 4-1-4-1 und 3-1-2-3-1, wobei in einigen Situationen der Flügelstürmer diagonal herausrücken und einen der gegnerischen Halb- oder Innenverteidigerpressen konnte. Dies ist ebenfalls unter Guardiola bei den Bayern zu sehen, wo aus dem 4-1-4-1 oft ein asymmetrisches 4-1-3-2 zum Ball hin entsteht.

Cruijff nutzte allerdings in diesen Situationen Van Basten als Akteur, der seinen Deckungsschatten über den Sechserraum legte und aus dieser recht tiefen Situation nach eigenem Gutdünken herauszurücken schien. Die Pressinghöhe war somit hoch, aber eigentlich kein Angriffspressing und zwang den Gegner eher zu langen Bällen in das überfrachtete Mittelfeldzentrum.

Insgesamt waren die Defensivschemen flexibel. Ein 3-2-2-3 war ebenso möglich wie ein kurzzeitiges 4-2-1-3, viele asymmetrische Staffelungen und natürlich 3-2-4-1 mit engen Sechsern vor der Kette, welche die Abwehr auffüllen, kamen vor. In Strafraumnähe waren auch 5-2-2-1-Staffelungen möglich.

Kompaktheit und Gegenpressing waren für damalige Verhältnisse bereits gut ausgeprägt, ebenso wie die Abseitsfalle, wenn auch inkonstant und unsauber. Die ersten Ansätze des Cruijff’schen Positionsspiels waren ohnehin schon klar vorhanden. Bewegungen waren mithilfe von simplen Vorgaben an das Individuum in Relation zum Ball gekoppelt.

„Wenn Mühren links den Ball hat und Rijkaard rückt ins Mittelfeld, komme ich von der rechten Seite in die Mitte. Bleibe ich in meiner Zone, dann entsteht hinter Rijkaard eine gefährliche Lücke. Wenn ich den Ball habe, geht Mühren zur Mitte.“ – Jan Wouters, der rechte zentrale Mittelfeldspieler

Interessant war eine leichte Asymmetrie in eigenem Ballbesitz. Auf dem rechten Flügel spielten sie etwas breiter und fokussierter auf Durchbrüche, welche durch lange Bälle oder Ablagen und Sprints erzeugt werden. Auf der linken Außenbahn war man etwas flexibler, aber auch isolierter und mit Witschge individueller. Passenderweise blieb der rechte Verteidiger häufiger auch tiefer und absichernder.

Das Siegtor entstand z.B. passenderweise nach einem Flügeldurchbruch auf der rechten Seite von Van’t Schip nach einem Loblangballs und einer Flanke nach einem gewonnenen Sprintduell. Generell schienen die Außenspieler eher positionell fixiert zu sein und mit längeren Vertikalbällen zu agieren, während es in der Mitte viele Rotationen gab. Immer wieder tauschten die vier zentralen Spieler die Positionen, dazu bewegten sich Van Basten vorne und der „Libero“ hinten vertikal in sich bietende Lücken. Besonders das Wechselspiel zwischen Verlaat und Rijkaard funktionierte gut, ebenso wie das Einrücken der ballfernen  Spieler.

Allerdings hatte Cruijffs Ajax auch einige Schwächen. Diese Spielweise gegen den Ball nicht immer stabil und mit Ball gegen bessere Mannschaften etwas anfällig. In der zweiten Aufbauphase war man bisweilen zu flach und die Zirkulation war zu fokussiert auf die Seiten, auch zu drucklos in der Positionierung. Schob man mehr Spieler in die Formation des Gegners hinein, hatte man Probleme die Folgeaktionen konstant anzubringen und war häufig zu überhastet im Beenden der Angriffe.

Insgesamt gab es auch eine recht breite und oftmals doppelte Flügelbesetzung, die zwar für Verlagerungen geschickt genutzt wurden, dann aber beim Ausspielen der Verlagerung bzw. der Wechselpässe zu linear waren. Vorteilhaft waren allerdings die Flügel beim Konter, wo der ballferne Flügelstürmer etwas höher blieb, während Van Basten leicht zum Ball schob und Konter nicht nur über Balleroberungen, sondern auch Menzos Abwürfe beginnen konnten.

Menzo war einer der weiteren Schlüsselspieler, da er als einer der ersten wirklichen Antizipationstorhüter galt; sein Torwarttrainer war sogar Frans Hoek, der seine Vorstellungen des Torwarttrainings zuerst bei Cruijff ausleben durfte. Hoek fokussierte sich auf die Beteiligung des Tormanns am Spiel, seine technische-taktische Ausbildung und einen enormen Fokus auf verbale wie non-verbale Kommandos.

1988 gegen Marseille

1988 gegen Marseille

Nicht nur Hoek coachte so explizit, auch Cruijff tat es. Die Mannschaft wirkte, als ob es sehr viele individuelle Vorgaben gab, diese aber sehr gut umgesetzt wurden. Das Pass- und Kombinationsspiel war dadurch etwas unstrategisch, was sich aber mit der Einwechslung Bergkamps (als Flügelstürmer) und einem klareren 4-3-3 etwas verbesserte.

Das war auch in anderen Partien. Gegen Marseille in der Folgesaison war es ähnlich, aber es gab in der Ballzirkulation einen stärkeren Fokus auf Läufe des dritten Spielers in Kombinationen und auf Pässe in den Lauf und eine noch druckvollere Vertikalzirkulation durch vermehrte Positionen in der gegnerischen Formation.

Viele weite Läufe im Mittelfeld und flexible Positionswechsel gaben der Mannschaft weiterhin diesen „Cruijff-Touch“, doch etwas zu viele Fünferreihen gegen den Ball und sehr flache Staffelungen machte sie gegen den Ball etwas anfällig. Nach vorne war man wegen der Abgänge Rijkaards und Cruijffs nicht mehr so durchschlagskräftig. Mittelstürmer Bosman (oder auch Meijer) spielte keineswegs wie eine falsche Neun, obgleich auch er sich für damalige Verhältnisse viel bewegen musste.

Letztlich zeigte sich der Substanzverlust als zu groß. Die Mannschaft konnte Cruijffs Vorstellung nicht mehr umsetzen und teilweise wollte sie es auch nicht mehr; so soll Rijkaard im Streit abgewandert sein.

„Ein Spitzenverein braucht einen Spieler, zu dem andere Spieler aufsehen. Aber der Rijkaard ließ, warum auch immer, selbst den Kopf hängen, und dann lassen alle Spieler den Kopf hängen. Das wollte ich bei Frank ändern.“

Dazu überwarf sich Cruijff mit dem Vorstand, welcher gegenüber dem Verein die Interessen der Spieler vertritt und dadurch den Funktionären bitter aufstößt. Darum suchte der Kultheld nun nach anderen Aufgaben und größeren Möglichkeiten.

Die Anfänge und ersten Erfolge in Katalonien

Josep Lluis Nunez, Barcelonas Präsident, buhlte um Cruijff. Cruijff als Spieler hatte ihm zehn Jahre zuvor, also 1978, zur Präsidentschaft verholfen. Nunez‘ Opposition verspricht unter Zustimmung der Fans den Trainer Cruijff – Nunez kommt ihm zuvor und schnappt sich Cruijff, um seinen eigenen Platz zu sichern.

„Mein Team wird dem Angriffsfußball verpflichtet sein. Ich betrachte das nicht als Risiko. Im Gegenteil. Ich glaube, dass die Mannschaft, die den mutigsten Fußball spielt, am Ende auch die meisten Trophäen gewinnen wird. Wenn der Gegner vier Tore schießt, müssen wir halt fünf erzielten.“

Cruijffs Verpflichtung ist ein Goldgriff. Im Laufe seiner Jahre macht er Barcelona nicht nur zu einem erfolgreichen Team und entreißt Reals damalige Vormachtstellung, sondern hat einen nachhaltigen Einfluss. Trotz aller Kritik – u.a. von Nationaltrainer Javier Clemente, der später auch den verächtlichen Begriff des Tiqui Taca prägen sollte – setzte Cruijff seine Ideen im Verein durch.

“I don’t care about criticism. Not about a single article. It doesn’t concern me. They’re going after Cruyff. And somewhere, that’s someone different.“

Unter Cruijff wurde das Bauernhaus der „La Masia“, welches dem Verein gehörte, zu einer ganzheitlichen Fußballakademie erweitert. Die Jugendarbeit wurde reformiert. In Dietrich Schulze-Marmelings (sehr empfehlenswerten) Buch „Der König und sein Spiel“ findet sich auch folgendes Zitat:

Dauerläufe werden ebenso abgeschafft wie Krafttraining. Bis zum 16. Lebensjahr sehen die Barça-Schüler keinen Kraftraum, absolvieren keinen Dauerlauf, kein Zirkeltraining. (…) In Cruyffs La Masia wird fast ausschließlich mit dem Ball trainiert. Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit – das alles verbessern die Nachwuchskicker spielerisch. Ohne dies bewusst zu registrieren, denn ihr gesamtes Denken ist auf den Ball ausgerichtet. Trainingspartien werden auf kleinen Feldern ausgetragen, denn Enge und Bedrängnis fördern die Technik und die Handlungsschnelligkeit. Ganz im Cruyff’schen Sinne wird das Hirn statt der Muskeln geschult. Es geht um Ideenreichtum, Beweglichkeit, Überblick, Entscheidungsfreude und schnell ausgeführte Entschlüsse. Das verwirrende Kurzpassspiel, das unter diesen Bedingungen entsteht und zum Kennzeichen des Barça-Fußballs wird, firmiert in Spanien noch heute als el cruyffismo.

Cruijff war im Verbund mit dem späteren Jugendkoordinator Albert Benaiges (von 1991 bis 2010 tätig) und dem legendären Fitnesstrainer Francisco Seirul·lo Vargas federführend in dieser Innovation, welche heutige moderne Erkenntnisse aus der Trainings- und Sportwissenschaft vorwegnahm. Übungen wie das „El Caos“, welches sich auch im Buch Marco Henselings und mir findet und sich an ähnlichen grundsätzlichen Prinzipien orientiert, werden in La Masia zum Standard.

Auffallend viele Spieler in La Masia sind außerdem sehr klein. Die Idee dahinter ist einfach. Diese Spieler sind unterschätzt und werden bei später hinzukommender Physis die besseren Fußballer. Und durch ihre körperliche Unterlegenheit lernen sie, wie man agil und vorausschauend agiert, vertrauen mehr auf ihre Intelligenz und ihre Technik, als auf ihre Physis. Implizites Lernen in jeder Situation sozusagen.

„Jeder Nachteil hat seinen Vorteil“

Aus dieser Denkschule sollten später Spieler wie Iniesta und Xavi herauskommen.

Cruijff verändert nicht nur die Jugendarbeit, sondern auch andere Strukturen. In Appell an den katalanischen Geist fokussiert er die Bedeutung Barcelonas und entwirft eine Siegermentalität, die schon in La Masia eingeimpft wird. Der FC Barcelona gilt als die größte Waffe des FC Barcelona; paradox und doch einleuchtend.

Mit seinen Assistenten Tommie Bruins, der für ihn Videoanalyse und Verschriftlichung übernimmt, und Carles Rexach arbeitet Cruijff auch am Umbau der ersten Mannschaft. Wichtig: Routinierte Spanier und Katalanen, von Cruijff als bissig deklarierte Basken (Bakero, Goikotxea, Begiristain) und Superstars aus dem Ausland sollen mit den Emporkömmlingen aus La Masia eine unschlagbare Mannschaft bilden. Auch, dank des Positionsspiels und der Trainingsmethodik natürlich.

„Wenn du laufen willst, mach Leichtathletik. Aber wenn du Fußball spielen willst, brauchst du den Ball.“

13 Spieler verlassen 1988/89 die Mannschaft, elf werden geholt. In La Liga wird man hinter Real Madrid nur Zweiter, doch im Pokal der Pokalsieger wird Sampdoria Genua bezwungen. In dieser Partie zeigte sich, dass es zwar noch an der Qualität späterer Jahre mangelte, doch die Strukturen des Systems bereits etabliert waren.

Abermals war es ein 3-1-2-1-3; Cruiffs favorisierte Formation jener Jahre, u.a. wegen der Möglichkeiten in der Raumaufteilung. Die Halbverteidiger rücken flexibel gegen den Ball nach vorne hervor, der Sechser in der Mitte lässt sich zurückfallen. Die Formation gegen den Ball variiert zwischen 3-1-2-1-3, 3-3-1-3/4-2-1-3 und leichte 3-4-Ansätze in der ersten Linie. Gegen Sampdoria agieren bisweilen alle drei vorderen Spieler als zockende Akteure gegen den Ball; sie warten auf Konter.

1989 gegen Sampdoria

1989 gegen Sampdoria

In eigenem Ballbesitz sind die Strukturen des Positionsspiels zu erkennen, doch der Flügelfokus ist noch relativ groß. Der Gegner kann Barcelona oft dabei isolieren, die hohe Besetzung der zentralen Räume endet in gefährlichen Kontern und vielen Flanken. Der Zwischenlinienraum wird nur teilweise wirklich kombinativ und dabei effektiv genutzt.

Das System wird durch Lineker, einen eigentlichen Mittelstürmer, auf dem rechten Flügel etwas asymmetrisch ausgelegt. Passenderweise ist es eine Flanke über links, wo Roberto in der Mitte auf Salinas ablegt. Sampdoria dient es an Durchschlagskraft, das Mittelfeldpressing zerstört die Konstruktivität der Italiener.

Gegen eine bessere italienische Mannschaft – ein halbes Jahr später im Supercup gegen Sacchis Milan – verliert die Cruijff-Elf.  Sie spielen jetzt 3-2-4-1-artiger im Pressing, auch, weil der Gegner eine größere Gefahr darstellt. Im Aufbau ist die Raute nach wie vor zu sehen, die Halbspieler bewegen sich allerdings etwas geschickter zwischen den Linien.

Milan verteidigt dies aber gut und die Seitenwechsel gegen die herausrückenden Flügelstürmer sind gefährlich, einige Male schaffen es die Mailänder zu Kontern. Cruijff reagiert bereits nach zehn Minuten, indem er Soler für Roura bringt und die Formation verändert.

1990 gegen Milan inkl. Umstellung

1990 gegen Milan inkl. Umstellung

Das System wird zu einem asymmetrischen 3-1-2-3-1/4-1-2-3; Salinas geht etwas auf die Seite Roberto übernimmt öfters das Sturmzentrum und Soler spielt auf der linken Seite etwas tiefer. Begiristain wechselt nach rechts und das Ziel ist es, die Flügelangriffe Milans besser abzusichern. Einzelne 5-3-2-Staffelungen sind die Reaktion auf den doppelt besetzten Flügel Milans, welche das Spiel aber für sich entscheiden.

Auf dem Weg zur europäischen Spitze

Nach dieser Niederlage arbeitete Cruijff verstärkt an seiner Mannschaft. Ziel: Internationale Topstars. Einer davon war ein alter Bekannter. 1986 verließ Koeman, schon damals ein wichtiger Spieler für die Ajax-Spielweise, den Verein gen Eindhoven. Bei PSV war er Mitgrund, wieso Cruijff national scheiterte. Bei Barcelona sollte er in Guardiolas System den Libero geben, der nach vorne stößt und ein Wechselspiel mit dem Sechser anregt.

Ein weiterer Spieler war Hristo Stoichkov. Der Enfant Terrible aus Bulgarien war ein antrittsstarker, sehr abschlussfähiger Dribbler, der auf allen vorderen Positionen agieren konnte. Der dritte im Bunde hieß Michael Laudrup; ein Spieler, dessen schiere individuelle Qualität Cruijff auf mehreren Positionen herausragende Qualität bescheren sollte. Vielfach als linker Flügelstürmer oder auf einer der drei vorderen Positionen der Mittelfeldraute, später aber immer öfter als Mittelstürmer bzw. sogenannte falsche Neun.

When you’re playing against a team that has two great central defenders, the best option is to play without a striker.

Im 1991er-Spiel gegen Juventus zeigte sich schon, wohin der Weg gehen sollte. Die individuelle Qualität wurde besser, die Strukturen waren etablierter. Nach wie vor gab es viele Freiheiten für die Einzelspieler, aber eben auch Verantwortung in bestimmten Situationen, u.a. Absicherungsbewegungen.

1991 gegen Juventus

1991 gegen Juventus

Zahlreiche der Spieler agierten auch sehr weiträumig, um die individuellen Bewegungen zu ergänzen. Besonders auffällig waren die flexiblen Positionswechsel von Koeman und Nando sowie Salinas und Stoichkov. Laudrup auf der Zehn organisierte das Spiel in vorderen Zonen und man suchte ihn für seine Pässe. Auf rechts schob der Halbverteidiger vor und es gab intelligente Bewegungen von Beguiristain auf links, der geschickt einrückte und sich anbot.

Auch gegen Fergusons Manchester United war dies 1991 ähnlich zu sehen. Man hatte zwar wieder Probleme gegen die defensive Stabilität einer besseren Mannschaft, insbesondere dem Konterspiel und wegen der doppelten Flügelbesetzung, was Cruijff dazu bewog mit tieferen Mittelstürmern und herausrückenden Mittelfeldspielern zu agieren. Einige Male war ein 4-1-4-1 sichtbar, doch es gab Probleme beim Übergang ins letzte Drittel.

1991 gegen Manchester United

1991 gegen Manchester United

Das Jahr 1991 war aber ein wichtiger Wegbereiter, denn es ermöglichte Cruijff langsam diese etablierten Strukturen anzupassen und zu optimieren. Im CL-Finale gegen Sampdoria im Jahre 1992 war es nicht mehr Salinas, der zentral vorne agierte, sondern Laudrup als falsche Neun. Laudrup war die erste Linie gegen den Ball im Pressing, dahinter spielten Salinas als rechter Flügelstürmer (in einer Rolle ähnlich zu jener Linekers), Bakero als vorstoßender Zehner und Stoichkov als linker Flügelstürmer.

1992 gegen Sampdoria

1992 gegen Sampdoria

Die Rollenverteilung war interessant. Salinas spielte relativ breit und ging nur bei Flanken wirklich konstant in die Mitte, während Stoichkov und Bakero immer wieder das Sturmzentrum besetzten, wenn sich Laudrup zurückfallen ließ. Laudrup besetzte häufiger den linken Halbraum und kurbelte das Aufbauspiel an, was wiederum zu der genauen Staffelung der Mittelfeldraute passte.

Diese war nämlich leicht asymmetrisch. Juan Carlos verfolgte Lombardo relativ weit und spielte als linker Halbspieler im Mittelfeld deutlich breiter als sein Gegenüber. Vermutlich wollte Cruijff dadurch Lombardo manndecken und die Flügelverteidigung verstärkten, obgleich auch Eusebio situativ den gegnerischen Flügelstürmer übernehmen konnte. Sampdoria spielte in einem 4-4-2, war aber häufiger in einem asymmetrischen 4-4-1-1 unterwegs und insgesamt nicht ansatzweise so aktiv wie Sacchis Milan mit und ohne Ball.

Einige Male liefen Stoichkov und Salinas die Innenverteidiger an, besonders Salinas spielte zentraler. Die linke Seite Sampdorias war dadurch etwas offener und man leitete sie dorthin, bevor Eusebio und Co. Zugriff erzeugen konnten. Bakero und Laudrup verhinderten Pässe durch das Mittelfeldzentrum.

Beide Mannschaften neutralisierten sich allerdings. Sampdoria hatte kaum Präsenz in vorderen Zonen und war offensiv harmlos. Barcelona wiederum zog immer wieder Sampdoria auf den Flügel heraus, bevor sie mit diagonalen Pässen die Halbräume anspielten. Dabei gab es einen Fokus auf Laudrup im linken Halbraum. Guardiola und Koeman bauten das Spiel in der Mitte auf und die Halbverteidiger standen ziemlich breit, auch wenn sich einige Male Ferrer wegen Juan Carlos enger positionierte.

Koemans Vorstöße gegen das passive 4-4-2/4-4-1-1 Sampdorias sollten zwar den Ball ins zweite Drittle bringen, aber die Unterstützung inkonstant in höheren Zonen war inkonstant. Sampdorias Mannorientierungen und die Kompaktheit in den ersten zwei Linien deckten die tiefen Räume ab und es war letztlich Koemans Freistoß in der Verlängerung, der Barcelona den ersten CL-Titel bescherte.

Den Weltpokal im gleichen Jahr konnte man allerdings nicht holen. Die hervorragenden Innenverteidiger Sao Paulos und das freie Spiel nach vorne sowie die relativ gute Besetzung der Mitte in der Arbeit gegen den Ball neutralisierte Barcelona im Dezember 1992.

1992 gegen Sao Paulo

1992 gegen Sao Paulo

“Sao Paulo were infinitely superior, with Rai, Muller and other fantastic players. We couldn’t even compete with them, let alone win.“

Dabei war diese Partie eine der besten in der Geschichte des Weltpokals. Eigentlich zeigte Barcelona einige starke Passmuster mit viele geschickten Halbraum- und Flügelverlagerungen sowie dem zuverlässigen Finden von Guardiola in der Mitte in der Schnittstelle, besonders durch Koeman.

Sao Paulo war allerdings wie erwähnt leicht überlegen, obwohl Cruijff die „Cruijffigste“ aller Aufstellungen auspackte. Laudrup und Bakero variierten enorm, Amor schob ebenfalls weit nach vorne und die Halbverteidigerpositionen wurden sehr offensiv interpretiert. Eusebio besetzte immer wieder die rechte Außenbahn, um einrückende Bewegungen Stoichkovs zu balancieren. Dieser tauschte sogar einige Male mit Laudrup die Position, was Letzterem ermöglichte in nahezu allen Zonen aufzutauchen.

Insgesamt gab es immer wieder viele freie Positionswechsel, eine sehr gute Besetzung in der Vertikalen und durch Beguiristain und Eusebio gegen den Ball wie Flügelverteidiger eine Art 3-5-2-Formation. Es gereicht  Sao Paulo zur Ehre, dass sie gegen diese Mannschaft und einen hervorragenden Guardiola so stark waren.

Ein Video aus diesen Jahren zu Cruijffs Positionsspiel gibt es hier.

Zwischen Genie und Wahnsinn

In den nächsten beiden Jahren hielt Barcelona die nationale Dominanz aufrecht. Titel drei und vier in Folge wurden 1993 und 1994 standesgemäß eingefahren. In der Champions League scheiterte man aber an der Mission Titelverteidigung sehr früh gegen ZSKA Moskau. Dies brachte Cruijff dazu, den Kader noch stärker zu machen. Das Ziel: Vier ausländische Topstars, wovon jeweils drei je nach Gegner auflaufen sollten. Die Ausländerregelung jener Jahre verbot nämlich mehr als drei ausländische Spieler gleichzeitig auf dem Feld.

Die Katalanen verpflichteten Romario, den Torschützenkönig der CL 1993 (7 von 15 Toren PSV Eindhovens erzielt sowie ein paar weitere Torbeteiligungen), und hatten somit fünf absolute Weltklassespieler in ihren Reihen.

Koeman spielte weiterhin als Libero, wobei immer häufiger Viererketten genutzt wurden und Koeman einer der beiden zentralen Verteidiger war – auch, wenn Cruijff selbst sie nicht als vier, sondern als zwei Verteidiger bezeichnete. Außerdem konnte Koeman in einzelnen Partien als Sechser agieren.

Guardiola war nach wie vor einer der Schlüsselspieler und der einzige, der nicht von einem anderen Verein verpflichtet wurde. Er baute das Spiel auf der Sechs auf, sowohl in den 4-1-2-3 als auch 3-1-2-1-3-Systemen. In ein paar Partien gegen sehr schwache Mannschaften besetzte er sogar mit Koeman die Innenverteidigung, um möglichst viel Offensivdruck zu erlauben.

Laudrup wurde langsam zum Bankspieler degradiert, auch wenn er in einigen Spielen seine Einsätze bekam und weiterhin starke Leistungen zeigte. In gewisser Weise war er Cruijffs Allzweckwaffe; der beste Allround-Einwechselspieler in der Fußballgeschichte. Mal kam er als linker Außenstürmer rein, mal als Zehner oder Achter und gelegentlich sogar als Mittelstürmer.

Stoichkov wiederum konnte die beiden Flügelpositionen besetzen, wobei er mit Romario häufig eine Art verschobenen Zweiersturm kreierte. Der zweite Flügelstürmer – häufig Beguiristain, dessen Arbeit nach hinten und seine balancegebende Natur oft unterschätzt werden – balancierte dies und Stoichkov konnte zocken, um das Konterspiel zu verbessern und Romario zu unterstützen.

Ein Beispiel ist die Partie gegen Osasuna im Herbst 1993. Ohne Koeman agierte man im 3-1-2-1-3. Laudrup und Stoichkov liefen gemeinsam in der Mittelfeldraute auf. Stoichkov spielte hierbei als Zehner, der immer wieder nach vorne stieß oder mit Beguiristain die Positionen tauschte.

1993 gegen Osasuna

1993 gegen Osasuna

Laudrup war der Achter, der das Spiel – gemeinsam mit Guardiola – aufbauen sollte. Estebaranz wurde auf der rechten Seite als isolierter Breitengeber und Dribbler genutzt, Romario wiederum war sehr fokussiert auf Ablagen und sein Weltklasse-Bewegungsspiel.

Dieses System funktionierte zum Beispiel sehr gut. Auch ohne Koeman war man defensiv sehr stabil und spielte mit Ball überaus druckvoll. Dies war auch in 4-3-3-Systemen der Fall, wenn Koeman fehlte. Im Spiel gegen Valencia im Frühling 1994 war Laudrup der linke Achter und Guardiola gab den rechten Innenverteidiger.

1994 gegen Valencia

1994 gegen Valencia

Tatsächlich spielten die Außenverteidiger durchaus sehr hoch; mit und ohne Ball im Pressing, Goikotxea, der häufig als Mittelfeldspieler agiert hatte, besetzte mit Ferrer die seitlichen Positionen. Interessant ist, dass Bakero – früher ein sehr vertikaler Zehner im 3-1-2-1-3 – immer tiefer spielte.

In dieser Saison übernahm er öfters Sechser- und Achterpositionen, wie eben in dieser Partie. Stoichkov und Begiristain besetzten die Flügelpositionen, allerdings anders als üblich; dieses Mal war Begiristain auf rechts und Stoichkov auf links. Ivans Rolle unterstützte Begiristain häufig auf rechts, während Laudrup und Goikotxea vielfach den linken Flügel übernehmen konnten. Gegen den Ball spielte man in einem 4-1-4-1.

In jener Phase im Frühjahr 1994 wirkte Barcelona herausragend. Sie spielten viele starke Pässe in die Halbräume und auf die Flügelstürmer, was gegnerische Pressingbewegungen zerstörte. Die Positionswechsel waren gut organisiert, das Pressing sehr stabil und durch den Kader war man nicht nur herausragend besetzt, sondern konnte auch sehr flexibel agieren.

Die Zirkulation war sehr druckvoll, insbesondere Glanzleistungen Koemans und Guardiolas sowie das immer besser werdende Positionsspiel waren dafür hauptverantwortlich. Eine weitere Systemalternative zeigte Cruijff auch gegen Sevilla.

1994 gegen Sevilla

1994 gegen Sevilla

Hier spielte Laudrup eine Mischung aus falscher Neun und Zehn; die Formation war ein 4-3-1-2/4-1-2-3. Stoichkov und Amor besetzten die rechten Flügel- und Halbräume sehr gut, welche von Eusebio – einem eigentlichen Mittelfeldspieler – gut bespielt und unterstützt wurden.

Auf links spielte mit dem jungen Sergi ein gelernter Flügelstürmer, welcher die linke Seite besetzte. Das ermöglichte Romario Positionierungen im linken Halbraum und in der Sturmmitte, ebenso wie Laudrup. Situativ übernahm Bakero diese Aufgabe, wenn Sergi es nicht mit passendem Timing schaffen konnte.

Die weiten Vorstöße Sergis wurden ansonsten durch die flexiblere Rolle Eusebios und die zwei zentralen Spieler in der ersten Linie kompensiert, ebenso wie Guardiolas Bewegungen. Amor, der insgesamt linearer und vertikaler als Bakero spielte, übernahm wiederum Aufgaben Eusebios vorne und Bakero sicherte die Mittelfeldzonen neben Guardiola. Dieser bewegte sich teilweise auch ohne Ball nach hinten und verbesserte die Breitenstaffelung.

Diese Anpassungen zeigen, wie flexibel Cruijff war und wie sehr sich seine Möglichkeiten dank Romarios Verpflichtung verändert hatten. Im Spiel gegen Osasuna ging es primär um das Erzeugen von Durchschlagskraft im letzten Drittel, gegen Valencia wollte man stabil und druckvoll im Aufbau spielen, gegen Sevilla lag der Fokus wiederum auf hoher Pressingresistenz und Stabilität mit und ohne Ball.

Ein besonders wichtiges Spiel war natürlich das 5:0 gegen Real 1994, welches endgültig die Vormachtstellung Barcelonas in Spanien und Europa zementieren sollte – so zumindest die damalige Meinung. Dieses Mal entschied sich Cruijff gegen Laudrup.

1994 gegen Real Madrid

1994 gegen Real Madrid

Ursache dafür war die Suche nach defensiver Stabilität. Sergi besetzte den linken Flügel und arbeitete viel nach hinten, während Goikotxea als breiter Halbverteidiger Vorstöße auf der Seite suchte. Nadal, ein eigentlicher Innenverteidiger, agierte als linker Achter und füllte gemeinsam mit Guardiola als etwas nach rechts versetztem Sechser immer wieder die Dreierkette auf.

Dadurch entstanden einige Vierer- und sogar Fünferreihen in der ersten Linie, obgleich die grundlegende Formation eben das 3-1-2-1-3 war. Bakero war dieses Mal wieder der vorstoßende Zehner und erinnerte in gewisser Weise an Arturo Vidal in seiner Rolle bei Juventus Turin.

Real zeigte sich im 4-1-4-1 merkwürdig passiv und hatte unsaubere Staffelung in höheren Zonen, auch sehr wenig Präsenz, wodurch Barcelona sowohl im Pressing als auch in tieferen Zonen sehr stabil war. Das gute Bewegungsspiel Barcelonas und die klare Überzahl in der Mitte sorgten für die Dominanz.

Vermutlich wählte Cruijff in dieser Partie die 3-Raute-3-Formation exakt wegen dieser Überzahl in der Mitte und den Vorstößen der Halbverteidiger, welche von keinem der Real-Spieler aufgefangen wurden. Die Außenstürmer Reals waren quasi nicht im Spiel und die Passmuster Barcelonas überspielten die ersten zwei Linien der Madrilenen spielerisch.

Die offensiven Halbverteidiger und die gute Absicherung machten die meisten Probleme. Auch die Passmuster Barcelonas passten; viele längere Pässe mit Ablagen und Verlagerungen oder Vertikalpässen sorgten für einfachen Raumgewinn und einige Querpässe mit Vertikalpässe banden die Überzahl im Mittelfeld hervorragend ein.

Die Partie gegen Manchester United, welche Constantin Eckner hier analysierte, war ebenfalls ein Highlight dieser Phase. Und just in diese Phase der Dominanz kam anstatt eines Titels ein Rückschlag, von dem sich Cruijffs Barcelona nicht mehr erholen sollte.

Das CL-Finale 1994

Nach den zahlreichen starken Leistungen der letzten Wochen und Monate sowie den vielen Starspielern im Kader war der FC Barcelona Favorit. Sie hatten 1992 gewonnen und Cruijff selbst begründete den Favoritenstatus damit, dass man prinzipiell wie 1992 war, nur noch kompletter, erfahrener und wettbewerbsstärker. Cruijff provozierte vor dem Spiel sogar: „Sie basieren ihr Spiel auf Verteidigung, wir auf Angriff. Was wir für Romario ausgaben, der in 33 Spielen 30 Tore erzielte, haben sie für Desailly gegeben. Das ist bezeichnend.“

Barcelonas Vorbereitung für das Finale war mangelhaft. Cruijff motivierte seine Spieler 1992 noch mit „Geht raus und genießt es“; dieses Mal war es „ihr seid besser, ihr werdet gewinnen“. Doch Cruijff machte nicht nur einen psychologischen Fehler, sondern auch einen taktischen. Im CL-Finale entschied sich Johan Cruijff abermals dafür, Laudrup auf der Bank zu lassen und mit Koeman, Romario und Stoichkov als den erlaubten ausländischen Akteuren zu starten.

Der gegnerische Trainer Fabio Capello freute sich darüber mehr, als sich Laudrup ärgerte: „Als ich sah, dass Laudrup nicht spielte, war ich entspannt. Laudrup  war jener Spieler, den ich fürchtete, aber Cruijff ließ ihn draußen und das war sein Fehler.“

Cruijff: Ohne Laudrup und mit Viererabwehr

Barcelona startete nicht nur ohne Laudrup, sondern auch ohne die 3-Raute-3-Formation, welche man unter Cruijff jahrelang oft und erfolgreich praktiziert hatte. Stattdessen gab es eine Abwehrreihe mit Nadal, der gegen Real im Clásico noch auf der tieferen Achterposition auflief, neben Koeman als Innenverteidigerduo.

1994 Milan vs Barcelona

1994 Milan vs Barcelona

Die Umstellung war auf dem Papier durchaus nachvollziehbar. Gegen Real im legendären 5:0-Clásico funktionierte das System deswegen so gut, weil die Halbverteidiger in ihren Vorstößen offen waren. Sie konnten weite Wege machen, Gegenspieler herausziehen und in hohen Zonen simple Pässe in gefährliche Räume spielen. Die zahlreichen Mannorientierungen Reals halfen dabei. Außerdem gab es eine klare Überzahl in der Mitte und ein starkes Bewegungsspiel; gegen Milan fehlte dieses.

Das 4-3-3 Barcelonas sollte vermutlich die schnellen Konterangriffe und die doppelte Flügelbesetzung der Italiener negieren. Doch anstatt eines Vorteils für Barcelona, entstand einer für die Rossoneri. Sie konnten nämlich Barcelonas wichtigstes Instrument neutralisieren.

Positionsspiel ohne Bindung, Ballzirkulation ohne Zugriff

In den meisten Spielen hatte Barcelona leichtes Spiel in puncto Raum- und Balldominanz. Nur wenige Teams attackierten sie überhaupt in den vorderen Zonen, kaum eine Mannschaft tat es in damaliger Zeit konstant und mit passenden Strukturen. Koeman, Guardiola und die Halbverteidiger waren fast immer frei, wodurch sie den Ball problemlos laufen lassen konnten.

Gegner wurden dadurch Stück für Stück aufgemacht, bis die vorderen Staffelungen passten, um punktuelle Durchschlagskraft zu erzeugen – ob mit adäquaten Verbindungen für Kombinationen oder mithilfe der individuellen Qualität von Romario, Laudrup und Stoichkov.

Milan machte ihnen das Aufbauspiel natürlich deutlich unangenehmer. Zwar presste die Elf Fabio Capellos keineswegs durchgehend oder schon in den höchsten Zonen, dafür aber intelligent und mit guten Abläufen. Prinzipiell war es natürlich das übliche 4-4-2, doch es gab einige interessante Mechanismen, um die Spielweise Barcelonas zu beschädigen.

Einerseits stellte man aus dem 4-4-2 viele Staffelungen mit einem oder keinem Stürmer her; 4-4-1-1, 4-3-2-1 und 4-4-2-0 waren nicht unüblich. Massaro und Savicevic konnten die Passwege auf Guardiola versperren oder ihn einzeln abdecken, während der jeweils andere presste.

In einigen Situationen gab es natürlich auch das typische 4-4-2 oder eine Variante mit herausrückendem Albertini. Meistens war es aber durch die Mannorientierungen ein 4-4-1-1: Massaro ging eher auf Guardiola, Savicevic eher auf Koeman. Dadurch musste Nadal ohne wirkliche Anspieloptionen das Aufbauspiel übernehmen.

Dieser schob nämlich zusätzlich zu den beiden Stürmern oder eben bei höherer Stellung dieser beiden auf Guardiola heraus. Dadurch wollte man verhindern, dass sich Guardiola drehen und den Ball in höhere Zonen verteilen konnte. Albertinis Vorstöße wurden von Desailly abgesichert, der hierfür mit seiner Weiträumigkeit und physischen Präsenz besser geeignet war.

Interessanterweise spielten sie dieses Schema in Ballbesitz umgekehrt; Desailly rückte nach vorne, um zweite Bälle pressen oder lange Bälle per Kopf verlängern zu können. Dadurch entstanden 4-3-1-2-Staffelungen mit engen Flügelstürmern, tiefem Albertini und etwas breiteren Mittelstürmern, was für viele gewonnene zweite Bälle mit Schnellangriffen oder ruhiger Zirkulation zu Folge hatte.

Cruijffs Barcelona fielen dadurch einige Ballbesitz- und Pressingmöglichkeiten weg, die sie ansonsten für ihre eigenen Angriffe nutzten. Die eigenen, organisierten Spielaufbausituationen waren wie erwähnt eingeschränkt. Besonders problematisch war, dass die ohnehin unsaubere Besetzung der vorderen Zonen nun aufgezeigt wurde.

Koemans tiefe Positionierung und der Mangel an Räumen für seine Vorstöße, Guardiolas geringe Möglichkeiten im Spielaufbau und das gute Versperren der Außenverteidiger hatte zur Folge, dass Beguiristain, Stoichkov und Romario kaum Bälle erhielten. Insbesondere letztere beiden sind in puncto Unterstützung in tieferen Aufbausituationen nicht besonders aktiv und warten eher auf Pässe ins zweite Drittel, bevor sie ihre Bewegungen starten.

Bakero und Amor konnten diese jedoch nicht konstant bringen. Bakeros enorme Weiträumigkeit und Dribbelstärke früherer Tage ließ  mit 31 Jahren langsam nach, außerdem war er eher ein Spieler, der nur punktuell mit kreativen Aktionen wie Dribblings präsent wird und sich sonst über seine Bewegungen ohne Ball hervortat. Ohne die Präsenz in höheren Zonen konnte er sie nicht einbringen  und da er die Fähigkeit in höhere Zonen zu kommen nicht besaß, litt sowohl er als auch das Team darunter.

Amor und Bakero positionierten sich entweder zu tief, wodurch sie von vorne isoliert waren oder Pässe nach vorne von Milans schnellem Zusammenziehen abgefangen wurden, oder aber sie agierten zu hoch und konnten von den vier Abwehrspielern nicht angespielt werden. Dies war wohl auch der Grund, wieso Capello sich einzig vor Laudrup fürchtete.

Das Gegenmittel für Koeman und Guardiola war gefunden; und damit auch für Stoichkov und Romario. Mit Laudrup hätte Barcelona aber einen Spieler gehabt, der das Aufbauspiel unterstützt und sowohl die Raumdeckung als auch die Mannorientierungen Milans aufgebrochen hätte. Seine Pässe, seine Bewegung und seine Dribbelfähigkeiten waren eben deswegen die große Gefahr für Milan – die Cruijff nicht nutzte.

Sacchi-Lite gewinnt

Verletzungsbedingt kein Barest und kein Costacurta sowie keiner der drei großen Niederländer (Van Basten, Rijkaard, Gullit) mehr im Kader, doch Capello schaffte dennoch einen so souveränen Sieg gegen den großen FC Barcelona jener Jahre. Dabei war entscheidend, dass beide Mannschaften zu jener Zeit strategisch ihren Gegnern überlegen waren; Milan war zwar nicht mehr so spektakulär und intensiv wie unter Arrigo Sacchi, doch weiterhin hochklassig.

Speziell in Relation zum damaligen taktischen Kontext zeigten sie sehr hohe Kompaktheit und ein gutes Gegenpressing. Besonders die horizontale Kompaktheit in der Mittelfeldreihe war stark. Pässe in die Halbräume wurden gut attackiert, die Flügelstürmer unterstützten die zentralen Akteure dabei sehr gut und die Viererkette agierte in tiefen Zonen eng an ihnen, wodurch viele Pässe des Gegners in das letzte Drittel plötzlich zu Konterangriffen für Milan wurden.

Das oft genutzte 4-4-1-1 mit engerer Mittelfeldkette erinnert insofern an eine nicht ganz so intensive und kompakte Version von Diego Simeones Atlético Madrid der Saison 2013/14. Der Gegner hatte in der Mitte kaum Räume und musste auf die Seite spielen, wohin dann kollektiv verschoben wurde. Die hängende Spitze – öfters Massaro als Savicevic – sperrte die nächste Rückpassoption ins Mittelfeld zu (gegen Barcelona eben Guardiola) und zwang die Außenspieler des Gegners zu einer Entscheidung zwischen verhältnismäßig schlechten Optionen: Weit nach hinten, riskant nach vorne oder riskant in die Mitte?

Dank der Raumdeckung und einzelnen Mannorientierungen funktionierte diese Systematik sehr gut. Savicevic und Massaro als Ballhalter unterstützten das Konterspiel, bis nachstoßende Läufe kamen oder man auffächern und sicher aufbauen konnte.

Das 1:0 – und wegen der Strategien sowie taktischen Wechselwirkungen der beiden Mannschaften die Vorentscheidung – fiel passenderweise nach einem langen Ball, wo der zweite Ball nach einem Kopfball Sergis von Boban auf Savicevic weitergeleitet wurde. Sein tolles Dribbling führte zur Großchance Massaros.

Umstellungen ohne Erfolg

Cruijff schien Kleinigkeiten anzupassen (z.B. Positionswechsel Begiristain und Stoichkov oder weiträumigere Bewegungen Guardiolas im Aufbauspiel), bevor er kurz nach der Halbzeit umstellte. Aber diese Umstellung kam schon zu spät; Milan hatte Sekunden vor dem Halbzeitpfiff das 2:0 erzielt und zwei Minuten nach Wiederanpfiff das Spiel mit dem 3:0 entschieden.

Beim 2:0 kam es nach einer kaum gepressten Zirkulation Milans nahe am Strafraum zu einem Durchbruch Donadonis über den Flügel und einem Pass von der Grundlinie nahe am Fünfmeterraum in den Rückraum, welcher Massaro eine simple Einschussmöglichkeit gewährte. Beim 3:0 war es abermals eine Balleroberung auf der Seite, dieses Mal von Savicevic bei Nadal, sorgte für ein Traumtor – einen Volleylupfer über 25 Meter ins lange Eck.

Mit der Einwechslung Eusebios für Begiristain entstand eine Art 3-5-2; Sergi und Eusebio besetzten die Seiten, Ferrer und Nadal die Halbverteidigerpositionen neben Koeman. Das geringe Auffächern der drei zentralen Verteidiger zeigte einerseits eine unsaubere, unvorbereitete Umsetzung und andererseits die Angst vor den Angriffen Milans.

Diese blieben bei ihrem 4-4-1-1/4-4-2, wurden aber nun etwas häufiger überspielt. Stoichkov und Romario waren nun frei sich vorne zu bewegen, die Probleme in der Einbindung blieben. Das Tor Desaillys zum 4:0 – abgefangener Ball im Mittelfeld von ihm selbst, dann Konter eingeleitet und Durchbruch – entschied die Partie.

Anfang vom Ende

Mit dem verlorenen CL-Finale 1994 begann der Untergang von Cruijffs Barcelona. Laudrup wandte sich ab und ging zum Erzrivalen aus Madrid; Romario kam weder fit noch motiviert von der Weltmeisterschaft 1994 zurück und Stoichkov begann seine Streitereien mit Trainer Cruijff, der wiederum von Präsident Nunez Druck bekam. 1995 sollten auch diese zwei Starspieler nicht mehr im Verein sein, ebenso wenig wie Ronald Koeman.

Brazil won the World Cup after 24 years and that has made Romario crazy. A real number one will always perform, has strong legs that can carry glory and succes. Romario was no longer coachable. I don’t regret buying him, but I knew something like this would happen.

Cruijff sollte im nächsten Jahr kein goldenes Händchen mehr mit seinen Transfers haben. 1994/95 kamen Igor Kerneev, Gheorghe Hagi und Sohn Jordi Cruijff  als ausländische Spieler; einen besonders großen Einfluss sollte keiner haben. Auch Innenverteidiger Abelardo war kein Star, obgleich er jahrelang gute Leistungen zeigte.

Am ehesten hätte die Transferphase 1995/96 für eine Rückkehr des „Dream Team“ sorgen können. Mit Gheorghe Popescu und Luis Figo kamen zwei hervorragende Akteure. Ersterer sollte die Lücke Koemans füllen, Zweiterer jene Stoichkovs. Die zwei anderen ausländischen Transfers waren jedoch nicht so effektiv. Robert Prosinecki wurde zum bestbezahlten Fußballer der Welt gemacht, doch seine Leistungen waren inkonstant, er kämpfte mit Verletzungsproblemen und passte nicht ganz zum System Cruijffs, während Meho Kodro für viele bis heute als riesiger Flop gilt – mit 5,5 Mio. € war er auch der teuerste Transfer dieser Jahre.

Dabei muss man natürlich auch sagen, dass in jenen Jahren von Scouting kaum eine Spur vorhanden war. Zusammenschnitte von Spielern waren Mangelware, Statistiken gab es nicht. Auch viele andere infrastrukturelle Vorteile sind damals noch nicht nutzbar gewesen, weswegen bei vielen Transfers – insbesondere wenig bekannter Stars aus dem Ausland – immer ein großes Risiko dabei war.

Die individuelle Qualität wurde somit zum Problem. Cruijff konnte Spieler und Mannschaften zwar besser machen, doch für das höchste Niveau benötigte er eine Grundbasis an technisch-taktischen Fähigkeiten. Dementsprechend gab es die Dominanz letzter Jahre nicht mehr zu sehen. Den Tiefpunkt der Cruijff-Ära erreichte man wohl 1995 gegen Real Madrid.

1995 gegen Real Madrid

1995 gegen Real Madrid

Laudrups Rache kam über Cruijff und Barcelona, als der Erzrivale mit dem ehemaligen Superstar der Katalanen mit 5:0 gewinnen konnte. Real war dabei herausragend besetzt. Mit Raul, Luis Enrique, Zamorano, Hierro, Sanchis, Milla, Amavisca und natürlich einem Laudrup in Form besaß man herausragende Qualität.

Dank Laudrup konnte man diese Spieler auch passend einbinden und besonders im Konterspiel war man durch die zockenden Flügelstürmer effektiv. Ein weiterer Aspekt war natürlich der glückliche Start. Ein frühes Tor aus eigentlich schwieriger Position führte zu einer tollen Ausgangslage, dazu ließ Trainer Jorge Valdano mit einem deutlich aktiveren Pressing agieren.

Ohnehin schien es, als hätte Capellos Milan im CL-Finale 1994 vielen Mannschaften einen gewissen Plan vorgegeben, wie man Cruijffs Barcelona begegnen konnte. Das Cruijff’sche Positionsspiel wurde eigentlich als Maßnahme gegen Manndeckungen und unkollektives Pressing geschaffen; im Laufe der Jahre wurde dies seltener und seltener.

Real spielte zum Beispiel mit einem 4-3-1-2haften Pressing, welches insbesondere die Kreise Guardiolas einschränken sollte. Viele herausrückende Bewegungen verhinderten den typischen Einfluss Guardiolas auf das Spielgeschehen und somit fiel der womöglich wichtigste Akteur dieser Mannschaft effektiv aus. Stoichkov mangelte es an Explosivität früherer Tage, Hagi als falsche Neun war eher kontraproduktiv, da ihm das strategische Geschick Laudrups sowie die Unterstützung der Mitspieler wie in dessen früheren Jahren fehlte. Durchschlagskraft gab es kaum und das 3-5-2 mit tiefem Eskurza und höherem, engerem Stoichkov ließ die rechte Seite offen, welche Luis Enrique und Laudrup gnadenlos ausnutzten.

Cruijff versuchte in der folgenden Saison das Ruder umzureißen, doch trotz einzelner starker Spiele sollte es nicht mehr reichen. Im Clásico 1996 baute der niederländische Startrainer 4-2-2-2-System, welches im Mittelfeld allerdings verschoben war. Roger und Sergi wechselten sich beim Bedecken der linken Außenposition ab, Bakero konnte in hohen Zonen ebenfalls in diesen Raum ausweichen. Gegen den Ball ließ man die Seite oft erstmals unbesetzt oder Roger übernahm sie.

1996 gegen Real Madrid

1996 gegen Real Madrid

Kodro und Figo spielten sehr beweglich, es gab zahlreiche Positionswechsel und über längere Phasen spielte Figo wie eine falsche Neun, Kodro suchte zwischenzeitlich vom rechten Flügel immer wieder diagonale Läufe in die Spitze – à la Lineker und Salinas in früheren Saisons.

Das System sollte wohl Real von der starken Seite mit Laudrup und Redondo auf halblinks weg leiten, De La Pena spielte als Zehner und Popescu sicherte mit Guardiola die tiefen Zonen sowie die Einzugsgebiete Laudrups und Redondos. Das führte zu einem 3:0-Sieg, doch für einen Titel sollten Cruijffs Spielereien letztlich nicht reichen. In Europa und in Spanien konnte man sich nicht durchsetzen. Zwar gab es eine sehr interessante Partie im 3-1-2-1-3 gegen die Bayern, u.a. mit Guardiola als Libero und der Flügelzange Hagi-Figo, aber diese taktischen Highlights blieben oft die einzigen über Wochen. Der Bruch mit dem Vorstand und gesundheitliche Probleme führten zur Entlassung im Sommer 1996.

The board here are at Barcelona nothing. I have zero respect for these people. One puts on the music, the rest dances along. I’ll never drink a beer or a coffee with [President] Nuñez.

Der Verlauf des mannschaftlichen GoalImpacts. Danke an @GoalImpact, der die Grafik zur Verfügung gestellt hat. Der individuelle Verlust bzw. die Spitze von 1990 bis 1994 ist unverkennbar.

Der Verlauf des mannschaftlichen GoalImpacts. Danke an @GoalImpact, der die Grafik zur Verfügung gestellt hat. Der individuelle Verlust bzw. die Spitze von 1990 bis 1993 ist unverkennbar.

Nationaltrainer, Berater und Philosoph

Nach 1996 sollte Cruijff keine Trainerstelle annehmen. Er betätigte sich als Botschafter und äußerte sich oft in den Medien zu unterschiedlichsten Belangen im Fußball (wie in diesem interessanten Interview). Gelegentlich philosophierte er mit seiner Kolumne auch im El Periodico. Besondere Aufmerksamkeit erregten seine Kommentare zur Weltmeisterschaft 2010, wo er sich als gebürtiger Niederländer und Wahlkatalane zur spanischen Nationalmannschaft bekannte. Die Niederlande passe nämlich nicht zu seiner Spielphilosophie:

On Thursday they asked me from Holland ‘Can we play like Inter? Can we stop Spain in the same way Mourinho eliminated Barça?’ I said no, no way at all. I said no, not because I hate this style – I said no because I thought that my country wouldn’t dare to and would never renounce their style. I said no because, although without having great players like those of the past, the team has its own style.

I was wrong. Of course I’m not hanging all 11 of them by the same rope, but almost. They didn’t want the ball. And regrettably, sadly, they played very dirty. So much so that they should have been down to nine immediately. They made two such ugly and hard tackles that even I felt the damage.

It hurts me that I was wrong in my disagreement that instead Holland chose an ugly path to aim for the title. This ugly, vulgar, hard, hermetic, hardly eye-catching, hardly football style – yes it did serve the Dutch to unsettle Spain. And if with this they got satisfaction, fine, but they ended up losing. They were playing anti-football.

Immer wieder äußerte sich Cruijff zu einzelnen Punkten im Fußball auf diese Art und Weise; entweder durch Erklärungen seiner eigenen Ideen oder eben der (oft gleichzeitigen) Kritik an bestimmten Vereinen oder Trainern (besonders José Mourinho).

Selbst aktiv wurde er kaum noch. Der niederländische Verband hatte in den frühen 90ern seine Chancen verspielt, als man ihm nicht die Stelle als Bondscoach anbot. Er wollte zu viel Geld für die WM-Teilnahme, auch wenn er sich später natürlich äußerte, dass man mit ihm die WM 1994 gewonnen hätte.

Cruijff als Trainer Kataloniens

Seine letzte Trainerstelle war als Betreuer der katalanischen Nationalmannschaft, welche er entsprechend der Spielphilosophie in La Masia und somit seiner eigenen aufstellte. Mit einem 4-3-3 (Piqué, Busquets und Xavi im Mittelfeld) feierte man bspw. einen bejubelten 4:2-Sieg gegen Argentinien und insgesamt blieb Cruijff vier Jahre.

Später sollte Cruijff noch als technischer Berater bei Ajax Amsterdam und bei Chivas de Guadalajara arbeiten, doch bei beiden verstrickte er sich in Streitereien und die Cruijff’sche Revolution bei Ajax und in deren Jugendarbeiten gilt als gescheitert.

Am stärksten hatte Cruijff nach seiner Karriere Einfluss beim Barcelona, wo er Joan Laporta zum Präsidenten verhalf und neben Rijkaard auch für Guardiolas Positionierung auf dem Trainerstuhl verantwortlich war. In Anbetracht seiner Errungenschaften als Spieler und Trainer verlieh ihm Joan Laporta im März 2010 den Titel des Ehrenpräsidenten, welchen ihm Sandro Rosell, der neue Präsident, vier Monate später wieder entzog.

Trotz viel Kritik und ein paar Kontroversen nach seiner Karriere als Trainer, ist Cruijffs Erbe unglaublich groß. Er ist wohl die einflussreichste Person in der Geschichte des Fußballs. Besonders ein Konzept ist enorm wichtig.

Das Positionsspiel

In diesem Video werden einzelne Aspekte des Positionsspiels veranschaulicht, ebenso wie in diesem Artikel von unserem Adin Osmanbasic. Auch wenn die Ursprünge auf unterschiedliche Trainer zurückzuführen sind, so war es Johan Cruijff, der es – basierend auf seinen Ansätzen mit Rinus Michels bei Ajax – in heutiger Art und Weise konzeptualisierte.

Im Gespräch mit Martí Perarnau, Guardiolas Biographen, bezeichnete dieser Juanma Lillo und Johan Cruijff als die zwei großen Mentoren Guardiolas und den Niederländer auch als Erfinder des Positionsspiels in seiner heutigen Form, trotz vieler unterschiedlicher Anwendungsmöglichkeiten.

Das beginnt bereits in der holistischen Herangehensweise an den Fußball. Angreifer müssen verteidigen; Verteidiger müssen angreifen. Die Wichtigkeit des Ballbesitzes wurde ebenso betont wie die Einnahme bestimmter Positionen in Relation zur Ballposition.

When you play a match, it is statistically proven that players actually have the ball 3 minutes on average. The best players – the Zidane’s, Ronaldinho’s, Gerrard’s – will have the ball maybe 4 minutes. Lesser players – defenders – probably 2 minutes. So, the most important thing is: what do you do during those 87 minutes when you do not have the ball. That is what determines wether you’re a good player or not. (…) The best man in football is the one who’s positioned best. Without the ball.

Das Ziel: Mithilfe der richtigen Abstände möglichst viele Passoptionen schaffen und die eigenen Mitspieler zu unterstützen, ohne ihnen Aktionsmöglichkeiten wie z.B. das Dribbling zu rauben.

Playing simply is the hardest thing there is. The art is to play the ball so that the receiver has the overview of the pitch and can go to action effectively. The speed with which that happens is the difference between a good and a bad player.(…) The foundation is controlling the ball as quickly as possible, so you have more time to look around you.

Cruijffs Mannschaften zeichneten sich allerdings durch eine deutlich freiere Art und Weise des Positionsspiels aus, als Guardiolas Teams heutzutage. Es gab sehr viele Positionswechsel, die es bei Guardiola z.B. nur gelegentlich gibt. Außerdem liegt der Fokus Cruijffs auf dem Individuum. Die Positionen schienen nicht unbedingt kollektiv definiert, sondern durch eine Verkettung vieler individueller Vorgaben – oft auch individualtaktischer und technischer Natur – zu entstehen.

Für Cruijff war besonders das Spiel in den Lauf und das korrekte Anspielen wichtig.

Technique is not being able to juggle a ball 1000 times. Anyone can do that by practicing. Then you can work in the circus. Technique is passing the ball with one touch, with the right speed, at the right foot of your team mate. (…) A player who can play one touch football must have a fabulous technique. Strange how you have to be able to do everything with a ball before you can play it directly.

Deswegen konnte man bei Cruijff häufiger als bei Guardiola Pässe in den Raum anstatt in den Fuß sehen, welche das Ziel hatten einen Läufer aus dem Mittelfeld einzubinden und Spielzüge mit Spielern mit Sichtfeld nach vorne zu ermöglichen. Auf diese Aktionen folgten wiederum viele Hinterlaufbewegungen, welche in weiterer Folge nach den Ablagen und linienüberwindenden Pässen geschaffen wurden.

A team that passes the ball around in its own defense is doomed. You must pass the ball to midfield, as soon as possible because that’s where your best players are, and then the whole defense will be behind the ball.

Leseraufgabe: Was sagt Cruijff hier zu den Spielern? Bitte möglichst absurde technisch-taktische Erklärungen.

Passive Raumdeckungen konnten von Cruijffs Team fast ebenso gut bespielt werden wie Manndeckungen, welche insbesondere über das Schaffen von Überzahl in Ballnähe, die Vorstöße einzelner Spieler, Einzelaktionen und natürlich die Positionswechsel erzeugt wurden. Recht klare Passmuster, viele anlockende Aktionen und sehr viele Kombinationen mit nur einer oder zwei Ballberührungen sowie Zonenwechsel in der Ballzirkulation halfen dabei natürlich auch.

If you play on possession, you don’t have to defend, because there is only one ball. (…) Offside is not a defensive but an offensive weapon. (…) One thing is forbidden in football. The horizontal pass. If it goes wrong you lose two players. (…) A pass is only useful if you beat an opponent with it.

Auch der Torwart spielte bei Cruijff eine Rolle, auch wenn er nie so extrem wie Neuer unter Guardiola agierte. Besonders in Ballbesitz wurde er eigentlich nur im Notfall, für Konter oder bei Wechselpässen genutzt. Für jene Zeit war dies allerdings fortschrittlich, ebenso wie die sehr gute Raumaufteilung das konstante Geben von Breite und Tiefe.

Playing the ball back to the goalie doesn’t count as ball possession.

Seine eigene Erklärung zur Raute ist ein erhellender Hingucker eines großen Fußballdenkers. Folgende Prinzipien hat auch Pieter Zwart von Catenaccio.nl in diesem Artikel erwähnt und sogar präzise ausgeführt:

  • Keeping the field small
  • Direct pressure after losing possession
  • Defending spaces rather than opponents
  • Depth over width
  • Build-up play through the centre
  • Third man and triangles
  • Creating one-on-ones
  • Interchanging of positions
  • Profit from weaknesses

Neben dem Positionsspiel war Cruijff natürlich auch ein auf Pressing fokussierter Trainer und hatte zu damaliger Zeit auch dort einen Vorteil gegenüber allen Mannschaften Europas, außer einzelnen Erscheinungen wie Sacchis Milan. Besonders das flexibles Herstellen von Engstellen in strafraumnahen Situationen war sehenswert, das Gegenpressing und Pressing aus einer zonalen Grundstruktur mit vielen Mannorientierungen waren ebenfalls hochwertig.

Neben diesen strategischen Ideen und vielen tollen individualtaktischen Leitfäden war Cruijff auch in puncto Trainingsmethodik fortschrittlich.

„Der Ball wird nicht müde.“

Unbewusster Vorreiter im Training

How many more years do you want to continue being a coach?

Cruyff: “No idea. But in the first place, as long as I enjoy it. I love playing football. I love taking part in training sessions.”

Will you retire as a coach the moment you cant play anymore?

Cruyff: “That’s certainly possible. Playing makes this job tolerable.”

Are you still better than the players?

Cruyff: “Depends in what. The pitch is large. But as you’ve seen this morning, I make it smaller to suit me.”

To suit you?

Cruyff: “Of course, if it’s too big I can’t play. I have to change the rules so I can play. If we train 5 times a week, it’s twice for the players and three times for me.”

Dieses Zitat aus einem Interview Mitte der 90er zeigt, wie Cruijff trainieren ließ: Zwei Mal die Woche gab es größere Felder für die Spielformen und drei Mal die Woche kleinere Spielformen, sogenannte „small sided games“ und viele Rondos. Lieblingsübung: 4 gegen 4 mit zwei Neutralen in einem halbierten Strafraum.

Cruijff selbst wollte nämlich mitspielen, weswegen diese Spielformen genutzt wurden. Das Interessante daran: Cruijff konnte durch seine Beteiligung das Spiel innerhalb der Spielformen beeinflussen, seine Spieler direkt im Spiel kommandieren und ihnen Vorgaben geben sowie als Beispiel fungieren, wie man zu spielen hat. Diese Aspekte hatten einen positiven Effekt auf die Spieler und halfen Cruijff bei der Umsetzung seiner Ideen.

Gleichzeitig zeigen moderne sport- und trainingswissenschaftliche Studien, dass solche Spielformen für die technisch-taktische und physisch-mentale Entwicklung günstiger sind. Cruijff schaffte es damals, seine Spieler überdurchschnittlich gut zu trainieren und ihnen auch noch überaus kompetente Ratschläge zu geben. Im Verbund mit der individuellen Qualität erklärt sich der enorme Erfolg jener Jahre.

Desweiteren verband Cruijff im Fußball alles miteinander, auch wenn es teilweise an den Haaren herbeigezogen war (schien?):

What you see on the pitch often reflects what happens outside it. For example, in Barcelona we play aggressive and offensive. That’s because everyone around the team has an aggressive and offensive mentality. In everything we do. You’ll notice that when we train fast, the players also eat their lunch faster. Maybe the doctor will say that’s bad, but it’s about the mentality that reigns here.

Dieser Einfluss äußerte sich nicht nur in der ersten Mannschaft, sondern auch in der Jugend. Jüngst kritisierte Cruijff den FC Barcelona dafür, dass sie Messi kein Englisch in der Akademie beibrachten – und er wollte bewusst kleine Spieler in der Akademie haben, weil sie sich besser entwickeln.

Cruijff auf der Bank des Camp Nou

Desweiteren stand die Entwicklung im Fokus; Guardiola spielte vor seinem Debüt in der A-Mannschaft nicht als Stammspieler für die B-Elf, sondern im dritten Juniorenteam, oft auch als Rechtsaußen. Grund? Er spielte nicht, weil körperlich zu schwach. Cruijffs Antwort? NA UND?! Er musste spielen und entwickelt warden; Cruijff forderte auch, dass viele Angreifer mit Schwächen gegen den Ball in ihren Mannschaften als Abwehrspieler aufgestellt wurden, um sich dort zu entwickeln. Unter Cruijff schienen körperlich schwache Spieler gar eher bevorteilt als benachteilt zu werden:

Pep was not so big, so that was his disadvantage, but also his advantage. He was intelligent and he had vision. If you are not going to win physical battles you must learn to stay out of them. He could see and understand every position from the field. Pep was not going to be good if he had to defend 20 meters, but if he had to defend 5 or 10 meters, he could do it. So, he needed to make sure he had two players in the right position to help him and close down the space. When I saw his intelligence and his vision, that was the first indication he was going to be a good player and could become a great coach and go on to develop people. (..) The most important aspect of a coach are his eyes. Pep’s eyes are perfect, he sees every detail.

Diese Denkweise veränderte den FC Barcelona. Die Jugendtrainer und alle Verantwortlichen im Jugendbereich wurden mit diesem Mindset ausgestattet, was La Masia zur wohl besten Jugendakademie der Welt machte. Ein wichtiger Name: Francisco Seirul·lo Vargas, der den wissenschaftlichen Hintergrund für La Masia lieferte, gleichzeitig aber selbst den Fußball mit einer sozialen und eben kognitiven Komponente verband.

„We have destroyed only thinking in terms of defence, midfield and attack and have built a new game. In the last five years we have experienced a phenomenon if playing football in other conditions. If we do not evolve, we end up doing the same thing as everyone else. So we have to take a step forward. When we play the practise games in training he is the best defender on the team, much better than any of our defenders, because not only can he recover the ball but he also starts the move to create something.“

Seit langem ist Seirul·lo eine Koryphäe. Viele seiner Arbeiten sind auch heute noch Standard. Recherchiert man auf seiner Seite entrenamientodeportivo.org, so finden sich zahlreiche Artikel zu dynamischen Systemen, kognitiven Strukturen des Athleten im Sport und so weiter. U.a. teilte Seirul·lo das Training in eine kognitive Struktur (Vermittlung von Informationen in der Spielform), eine sozial-affektive Struktur (die Interaktionen der Einzelspieler innerhalb) und eine emotional-volitive Struktur (die Motivation zur Umsetzung), welche im Training zu berücksichtigen sind.

Dies zeigt übrigens auch eine Seite von Cruijff, die oft vergessen wird. Obwohl er so arrogant und selbstsicher wirkte, für sich unfehlbar und mit einer Meinung zu allem und jedem, so überließ Cruijff kompetenten Leuten – ob Spielern oder Leuten in seinem Trainerstab – durchaus wichtige Aufgaben. Eine wahre Führungspersönlichkeit also.

Fazit

Sometimes something’s gotta happen before something is gonna happen.

Coincidence is logical.

Every disadvantage has its advantage.

I’m an optimist. I’ve never seen the point of being a pessimist. When I close my eyes at night I see beautiful things.

Before I make a mistake, I don’t make that mistake. (…) Actually I never make a mistake, because it takes a huge effort for me to be wrong.

Zitate wie diese definieren Cruijff. Martin Rafelt und ich hatten uns sogar scherzhaft überlegt, einen Podcast zu machen, wo wir einfach über Cruijff reden und seine Zitate diskutieren. Sie spiegeln kurz und kompakt den Trainer und den Menschen Cruijff wieder.

Teilweise gilt er deswegen als arroganter Unsympath, für andere erhält er Kultstatus – und viele finden kleine Weisheiten in diesen anfänglich unpassend wirkenden Zitaten, welche ich bewusst über den Text verstreut eingebaut habe. Sie sollen ein authentisches Bild von Cruijff zeichnen, wie er sich gab und gibt.

In der Geschichte des Fußballs gab es zahlreiche bunte Persönlichkeiten (aka schräge Typen), Genies, tolle Trainer und herausragende Spieler, welche den Fußball für immer verändern sollten. Cruijff ist aber womöglich der einzige, der all diese Kategorien in sich kombiniert und wohl für jede einzelne davon als Prototyp gelten könnte. Seine Ideen haben sich beim FC Barcelona verselbstständigt und verwirklicht, mit phänomenalen Erfolgen in den letzten Jahren.

Heute kämpft Johan Cruijff mit dem Lungenkrebs, mutmaßlich eine Folge seines jahrelangen Kettenrauchens, welchem er als Spieler und Trainer frönte; sein vielleicht einziger „Mistake“, den er selbst zugeben würde. In den 90ern hörte Cruijff bereits wegen gesundheitlicher Beschwerden damit auf und widmete sich dem Kampf gegen das Rauchen. Fortan war er in Werbespots als erklärter Gegner des Tabaks zu sehen, auf der Bank hatte er häufig einen Chupa-Chups-Lutscher anstatt einer Zigarette bei sich.

Es ist sein Vermächtnis im Fußball, als Spieler, Trainer und Persönlichkeit, welche zu den vielen Genesungswünschen der letzten Wochen führten. Und auf diesem Wege wünschen wir einem Helden des Fußballs gute Besserung und viel Erfolg in seinem Kampf gegen die Krankheit.

Cruijff. Geborener Sieger. Quelle: Cruijff.

Dietrich Schulze-Marmelings (sehr empfehlenswertes) Buch „Der König und sein Spiel“, woraus ich zahlreiche Informationen und Zitate in diesem Artikel bezog, die Eigenrecherche von über fünfzig Partien und die tolle Seite 4dfoot.com halfen bei diesem Artikel ebenso wie die Seite Footballia.com / ihr Seiteninhaber, unser Leser Lukas Tank von footballarguments.wordpress.com und die Jungs von Catenaccio.nl.

 

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